Der Widerstand war kein Selbstzweck

Gerhard Jahn

Der Widerstand war kein Selbstzweck

Ansprache des Bundesministers der Justiz Gerhard Jahn am 20. Juli 1973 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Wir gedenken der Männer und Frauen, die im Widerstand gegen die Herrschaft des Unrechts ihr Leben für Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde eingesetzt haben.

Der Widerstand gegen das Unrecht des Nationalsozialismus hat am 20. Juli 1944 seinen sichtbaren Ausdruck gefunden. Dieser Tag und das Gedenken an ihn steht deshalb stellvertretend auch für alle Taten der ungezählten, unbekannten und ungenannten Menschen unseres Volkes, die nicht bereit waren, sich dem Unrecht zu beugen oder ihm bequem aus dem Wege zu gehen. Er steht aber auch für alle jene, die Opfer der Verfolgung wurden.

Wir verneigen uns vor dem Opfer, das sie brachten. Wir sind dankbar und stolz, dass sie in unserem Volke der Würde der Menschen die Heimstatt gaben, die ihr von den staatlichen Gewalten versagt wurde.

Wir wollen und dürfen nicht vergessen.

Doch das alles genügt nicht. Ehrendes Gedenken ersetzt nicht die Frage nach dem Sinn des Widerstandes und seiner Opfer.

Wenn ich nach dem Sinn frage, dann nicht, um eine nachträgliche Rechtfertigung zu finden. Darum geht es nicht. Die Rechtfertigung liegt in der Tat selbst. Sie war eine Tat des Rechts. Aber wir müssen eine Antwort auf die Frage suchen, welchen Sinn wir der Tat heute geben können, was wir aus ihr lernen können.

Der Widerstand gegen die Herrschaft des Unrechts war kein Selbstzweck. Das kann Widerstand niemals sein. Doch in Zeiten, in denen das Unrecht herrscht, kann nur Widerstand ausdrücken, dass allein Recht und Gerechtigkeit die Grundlagen der staatlichen Gewalt sein dürfen. Widerstand macht klar, dass der, der ihn leistet, das Unrecht nicht allein bekämpfen will. Widerstand überzeugt durch das Streben nach Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenwürde – kurzum nach einer menschlichen Ordnung. Dieses Streben nach einer Ordnung für den Menschen gab dem Widerstand die moralische und politische Kraft.

Die Männer und Frauen des Widerstandes haben den Anspruch auf Menschenrechte geltend gemacht in einer Welt, in der Menschenrechte nicht galten. Hinter dieser scheinbar einfachen Formel steht eine unerhört schwierige Frage. Wann ist die Geltung der Menschenrechte so eingeschränkt oder gar aufgehoben, dass Widerstand Recht, ja mehr, dass Widerstand Pflicht wird?

Wir wissen heute, wie schwer die Suche nach der rechten Antwort auf vielen gelastet hat, die sich schließlich zum Widerstand entschlossen haben. Dagegen stand mehr als bloß traditionelle Bindung an die Obrigkeit, an Eid und Gehorsamspflicht. Dahinter stand die Einsicht, dass es mehr als schwierig ist, die Grenze zu erkennen, die zwischen dem Gehorsam gegenüber der staatlichen Gemeinschaft und dem Gehorsam gegenüber den Forderungen des Gewissens gezogen ist.

Täuschen wir uns nicht. Uns scheinen Antwort und Entscheidung heute einfach. Aber wir blicken zurück. Mit allen Erkenntnismöglichkeiten, mit allem Wissen der Nachgeborenen. Die Erfahrung, die Schwere der Entscheidung der Männer und Frauen des deutschen Widerstandes sind eine maßgebende Grundlage unseres Staates.

Wir haben die Möglichkeit gehabt, nicht nur ihre Erfahrungen in die Grundsatzentscheidungen unserer staatlichen Gemeinschaft einfließen zu lassen, sondern auch ihre Vorstellungen, ihre Ziele, ihr grundsätzliches Wollen als Grundsteine unserer staatlichen Ordnung auszudrücken und festzulegen. Entscheidende Pfeiler unseres staatlichen und gesellschaftlichen Wollens sind geprägt von den Erkenntnissen des Widerstandes gegen Diktatur und totalitäre Gewalt.

Die Grundwerte unserer staatlichen Gemeinschaftsordnung sind im Grundgesetz eindeutig bestimmt. Sie sind und müssen unantastbar sein. Die Unverletzlichkeit der Bürgerfreiheit, der Menschenrechte, der freiheitlichen Ordnung unseres Staates sind die Grenzen unserer Toleranz.

Wenn seit einigen Jahren in Art. 20 Abs. 4 des GG vom umfassenden Recht auf Widerstand die Rede ist, dann hat Widerstand hier eine neue Bedeutung. Hier ist klargestellt, dass die Gemeinschaftsordnung, in der wir leben und die wir uns nach den schrecklichen Erfahrungen der Willkürherrschaft gegeben haben, unserem Willen zu einem menschenwürdigen Staat und seiner sicheren Ordnung entspricht. Dazu gehört, dass diese Ordnung zu bewahren nicht allein Sache der staatlichen Institutionen ist. Das ist letztlich Sache jedes Bürgers. Parlament, Regierung, Gerichtsbarkeit haben ihre Aufgaben zur Bewahrung unserer staatlichen Ordnung zu erfüllen. Sie werden getragen vom freien Willen unserer Bürger. Doch endet deren Verantwortung nicht beim Auftrag an die verfassten Institutionen: Dieser unser Staat ist allen Bürgern anvertraut. Die Grundwerte unserer freiheitlichen Ordnung stehen oder fallen damit, dass die Bürger sie zu ihrer eigenen Sache machen, und das heißt eben auch, Widerstand leisten gegen jeden Versuch, sie zu beseitigen oder auch nur einzuschränken.

Hier müssen wir scharf und genau die Grenze erkennen und beachten, die sich für das Recht zum Widerstand nach dem Grundgesetz ergibt. Widerstand kann und darf nur das letzte, unersetzliche äußerste Mittel sein, mit dem die Bürger unsere freiheitliche Ordnung verteidigen, falls alle anderen Möglichkeiten erschöpft sind. Widerstand gegen die vom Grundgesetz verfasste, freiheitliche Ordnung kann und darf es nicht geben. Das Recht zum Widerstand, von dem das Grundgesetz spricht, kann nur Widerstand für seine Ordnung sein.

Keine Ordnung ist vollkommen. Auch die unsere nicht. Wer sie ernst nimmt, wird ständig daran mitarbeiten, sie zu verbessern. Wir haben die Freiheit, das zu tun. Die Freiheit des Wettbewerbs aller Kräfte in unserer Gesellschaft, der beharrenden wie der vorwärtsdrängenden macht eine der Grundlagen unserer staatlichen Ordnung aus. Es mag oft schwierig erscheinen, die vielfältigen Möglichkeiten unserer freiheitlichen Ordnung auszuschöpfen. Keine Schwierigkeit ist groß genug, um eine Forderung zu rechtfertigen, die der freiheitlichen Ordnung selbst Widerstand ansagen würde. Es gibt keine bessere Ordnung als diejenige, die die Freiheit auch der Andersdenkenden sichert.

Im freiheitlichen Staat darf von Widerstand nur und erst dann die Rede sein, wenn es um das gemeinsame Einstehen für seine freiheitliche Ordnung geht.

Hier schließt sich der Kreis. Die Erinnerung an den Widerstand gegen das Unrecht und die Unfreiheit muss den Willen tragen, der Gefahr für den Bestand der Freiheit und des Rechts zu widerstehen.

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20.07.1973
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