Die Alternative zu dieser Demokratie ist die Fratze der totalen Diktatur.

Winfried Tromp

Die Alternative zu dieser Demokratie ist die Fratze der totalen Diktatur.

Ansprache des Vertreters des Ringes politischer Jugend, Winfried Tromp, am 19. Juli 1968 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Jeden Tag statten junge Menschen aus allen Teilen der Bundesrepublik Deutschland dieser Gedenkstätte ihren Besuch ab, starren auf nackte Wände und hören einen Bericht, der von der Barbarei eines deutschen Staates handelt. Sie sind aufgewachsen in einem Land, in dem die Mächtigen an das Gesetz gebunden sind, in dem es unabhängige Richter, eine freie Presse, regelmäßige Wahlen gibt. Können diese jungen Mitbürger erfassen, was hier einst geschehen ist? Und falls sie es begreifen können, werden sie sich den Staat vorstellen können, dessen Inhaber der Macht diese Barbarei befahlen? Können sie sich die Bürokratie vorstellen, die reibungslosen Mord garantierte?

Sie, die Sie sich hier versammelt haben, Sie sind entweder selbst durch das Fegefeuer des Hitlerismus gegangen oder haben zumindest erleben dürfen, wie totalitäre Herrschaft im 20. Jahrhundert den Menschen zu erniedrigen und zu entehren vermag. Sie haben dann aus nächster Nähe das Wiederentstehen des Totalitarismus in einem Teil Deutschlands erleben müssen. Die Bilder ähnelten sich, und der Generation, zu der ich gehöre, drängten sich Vergleiche auf. Wir lernten so, den Staat zu schätzen, in dem wir aufzuwachsen das unverdiente Glück hatten. Nun steht die Mauer schon sieben Jahre und Mitteldeutschland scheint für manchen jungen Westdeutschen weiter entfernt zu liegen als Persien oder Griechenland.

Die Generation, die heute ihr politisches Bewusstsein entwickelt, kann nicht mehr den demokratischen Staat, in dem sie lebt, aus dem konkreten Erlebnis der Alternative heraus begreifen. Sie ist auf Informationen derer angewiesen. Sie begegnet aber jedem Erfahrungsbericht Älterer mit dem Misstrauen des Hilflosen, der sich nicht darüber im Klaren ist, ob die angebotene Hilfe uneigennützig gewährt werden soll.

Es gibt heute Pädagogen, die schlicht bestreiten, dass gesammelte Erfahrungen an Jüngere weitergegeben werden können. Jovial wird verkündet, man solle die Studenten, die da über das Ziel hinausschössen, nicht so hart verurteilen. Die jungen Leute müssten halt ihre Erfahrungen sammeln.

Meine Damen und Herren, wenn dies wahr wäre, dass eine Erziehung der Jugend in dem Sinne, wie es durch das deutsche Wort „Bildung“ zum Ausdruck gebracht wird, unmöglich sei, dann müsste man in letzter Konsequenz jeder Generation ihren Krieg oder ihre totalitäre Phase zugestehen, damit sie selbst erkennen kann, dass Krieg und Gewaltherrschaft nicht dem Fortschritt den Weg ebnen, sondern nur Trümmer und Tränen bescheren. Dann müssten wir auch die Opfer der Hitlerbarbarei, derer wir heute gedenken, nur bedauern, dass sie völlig unnötigerweise sich hingegeben haben für ein Volk, das immer wieder die gleichen Fehler zu begehen gewillt ist. Ist dem so? Manche Indizien scheinen dafür zu sprechen.

Wieder wird in unserem Land der Ruf nach Ordnung laut, werden chauvinistische Töne angeschlagen, sind ganze Berufsgruppen bereit, das demokratische System fallen zu lassen, weil ihre materiellen Wünsche nicht völlig befriedigt werden. Auf der anderen Seite breitet sich in der jungen Generation eine Faszination des großen Entwurfs aus; immer zahlreicher wird die Schar derer, die – wie gehabt – dem Glauben verfällt, man könne mit einem einzigen Kraftakt alle Probleme lösen.

Minderheiten reklamieren im Namen der Wahrheit für sich Führungsanspruch; Gewalt als Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele ist kein Tabu mehr. Die zweite Republik ist zum ersten Mal ernsten Belastungsproben ausgesetzt. Die bange Frage, ob die zukünftige Generation das begonnene Werk fortsetzen und den Aufbau eines demokratischen Staates vollenden wird, oder ob auch sie wieder neuen Rattenfängern nachlaufen und alten Ideologien anhängen wird, beschäftigt uns.

Die bisherige Art der Vergangenheitsbewältigung – wie sie bei uns betrieben wird – ist nicht dazu angetan, Pessimisten zu widerlegen. Die dunkelsten Tage deutscher Geschichte wurden allzu oft angerufen, um billige Polemik zu rechtfertigen, um politische Gegner mundtot zu machen, um die staatliche Ordnung zu diskreditieren.

Wir haben uns schon fast daran gewöhnt, dass Ereignisse, Personen und Institutionen des Dritten Reiches als Vergleichsmaßstab benutzt werden, um subjektiver Kritik einen objektiven Anstrich zu geben. Da werden munter die Notstandsgesetze mit dem Ermächtigungsgesetz verglichen, die Polizei mit der SA, ein übereifriges Verkehrsgericht mit dem Volksgerichtshof. Wer seine politischen Gegner diffamieren möchte, findet sofort einen tüchtigen Politologen, der mit wissenschaftlicher Akribie das faschistische Element in der Grundhaltung des anderen bloßlegt. Umgekehrt fühlen sich einige, die selbst scharfer Kritik ausgesetzt sind, recht wohl in der Rolle des politisch Verfolgten; vergleichen ihre Lage heute mit der jüdischer Mitbürger im faschistischen Deutschland. Immer häufiger wird in unserem Staat, in dem es ein Verfassungsgericht, parlamentarische Untersuchungsausschüsse, eine kritische Presse gibt, ein Widerstandsrecht reklamiert und damit ungesetzliche Protesthandlungen von Studenten auf eine Ebene gestellt mit dem Kampf der Todgeweihten vom 20. Juli.

Es sind wohlgemerkt immer Ältere, die es eigentlich wissen müssten, die solche Vergleiche erfinden. Den Jungen kann man es kaum verübeln, wenn sie eine solche Hilfestellung akzeptieren. Der Hitlerismus, der totale Staat, der unverhüllte Terror des Dritten Reiches werden durch ein derartiges Spiel mit Argumenten verniedlicht, weil bis zur Unkenntlichkeit verzerrt.

Wenn die Proportionen verbogen werden, ist es nicht verwunderlich, dass junge Menschen beginnen, die Systeme zu relativieren. Dann ist es auch nicht verwunderlich, wenn sie verwirrt sind und misstrauisch auf alle Versuche der älteren Generation reagieren, gesammelte Erfahrungen weiterzugeben. Die Demokratie, in der wir leben, ist unvollkommen. Aber die Alternative zu dieser Demokratie – und daran erinnert dieser heutige Tag und dieser Ort – ist nicht das menschheitsbeglückende Paradies, sondern die Fratze der totalen Diktatur.

Die Frauen und Männer des 20. Juli waren keine Revolutionäre. Sie wollten, dass Recht und Moral wiederhergestellt würden in Deutschland. Sie hatten miterleben müssen, in welches Inferno ein Volk stürzen kann, das bereit ist, ethische Maßstäbe zu relativieren, die allerdings sehr, sehr alt sind und dennoch gültig bleiben. Wenn das Gedenken an die Toten der Hitlerdiktatur sinnvoll bleiben soll, dann gilt es, die furchtbaren Erfahrungen im Gedächtnis zu behalten, und dann sind wir verpflichtet, sie zukünftigen Generationen weiterzuvermitteln. Dies bleibt unsere Aufgabe.






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