Die letzte Wahrheit
Martin Kruse
Die letzte Wahrheit
Predigt von Bischof Dr. Martin Kruse, am 20. Juli 1984 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin
An diesem Tag, der für viele unter uns in diesem Gottesdienst mit persönlichen Erinnerungen, mit Schrecken, Leid, Demütigung und Verlust, aber auch mit heilsamer Erinnerung und tiefer Dankbarkeit verbunden ist, sammeln wir uns um ein Wort aus dem Alten Testament: aus dem 2. Buch Mose, Kapitel 33, Vers 18-23:
„Und Mose sprach zum Herrn: Lass mich deine Herrlichkeit sehen! Und Gott sprach: Meine Herrlichkeit kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.
Aber siehe, es ist Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen. Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dich halten bis ich vorübergegangen bin.
Dann will ich meine Hand von dir tun; und du darfst hinter mir her sehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen.“
Moses möchte Gewissheit haben über seinen Weg. Darum möchte er Gottes Angesicht schauen. Er möchte gewiss sein, dass er sein Volk nicht ins Leere, in die ausweglose Wüste führt. Er braucht die Klarheit Gottes.
Aber seine Bitte findet keine Erhörung. Oder doch? Ihm wird gesagt: Niemand darf Gottes Herrlichkeit schauen, ohne selbst daran zugrunde zu gehen. Die Ietzte Wahrheit bekommt der Mensch nicht zu Gesicht. Sie bleibt verborgen, sie ist verhüllt.
Und doch: ich werde meine Hand über dich halten, bis ich vorübergegangen bin. Und du darfst hinter mir her sehen, aber mein Angesicht kannst du nicht sehen. Wir werden diese geheimnisvolle Geschichte nicht schnell und direkt in unsere Erfahrung, in die Erinnerung an den 20. Juli 1944 hineintragen dürfen. Sie sagt etwas Einmaliges. Und doch sagt sie etwas Bleibendes für alles Volk Gottes, das unterwegs ist und immer in der Gefahr steht, verloren zu gehen, in den Wüsten und den Versuchungen der Zeit. Was haben sie denn gesehen, die Menschen, deren Namen unlöslich mit dem 20. Juli verbunden sind und verbunden bleiben? Sie haben den Abgrund gesehen, die innere Verwüstung, den Tanz um das Goldene Kalb, die Tyrannei, die Verkehrung allen Rechts. Das haben sie gesehen. Und die meisten anderen haben es nicht gesehen, oder wagten es nicht zu sehen. Aber weil die, an deren Namen und Leben und Sterben wir uns erinnern, mehr gesehen haben, als was vor Augen ist, weil sie etwas von der Wahrheit Gottes gesehen haben, darum sind sie gegen die Tyrannei aufgestanden. Sie haben um diese Wahrheit ringen müssen. Es gab da keine letzte Gewissheit, es blieb ein Wagnis. Und viele haben es mit dem Tod bezahlt.
In den Briefen, die aufbewahrt sind, wie ein Vermächtnis für die Späteren, wird an vielen Stellen greifbar, wie beides zusammengehört: Gewissheit und Ungewissheit, das Bewahrtsein und das Preisgegebensein, das Gewinnen und das Verlieren.
„Und siehe, es ist Raum bei mir. Ich will dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dich halten.“
Es ist ein enger Raum, aber Raum auf dem Felsen auf einem Grund, der trägt. Und selbst der enge Raum einer Zelle kann von Gott dazu gemacht werden. Und ich will meine Hand über dich halten. Das ist ein eigenartig doppeldeutiges Bild. Denn es spricht ja an, dass die Augen des Menschen gehalten sind, dass er nicht hindurchsieht. Und zugleich ist es die Hand, die bewahrt und beschützt.
„Dann will ich meine Hand von dir tun; und du darfst hinter mir her sehen.“
Am Abend des 20. Juli und am Tag darauf ist öffentlich die Vorsehung beschworen worden, deren Spur man erkennen wollte in dem Überleben des Tyrannen. Sie aber, die mit ihrem Leben für die Menschlichkeit, für die Güte Gottes unter den Menschen eingestanden sind, kamen in Elend und Unehre und viele erlitten den Tod.
Und doch glauben wir, dass sie es waren, in deren Leben und Sterben Gottes Herrlichkeit und Menschenfreundlichkeit eine Spur hinterlassen hat.
Die letzte Wahrheit
Predigt von Bischof Dr. Martin Kruse, am 20. Juli 1984 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin
An diesem Tag, der für viele unter uns in diesem Gottesdienst mit persönlichen Erinnerungen, mit Schrecken, Leid, Demütigung und Verlust, aber auch mit heilsamer Erinnerung und tiefer Dankbarkeit verbunden ist, sammeln wir uns um ein Wort aus dem Alten Testament: aus dem 2. Buch Mose, Kapitel 33, Vers 18-23:
„Und Mose sprach zum Herrn: Lass mich deine Herrlichkeit sehen! Und Gott sprach: Meine Herrlichkeit kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.
Aber siehe, es ist Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen. Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dich halten bis ich vorübergegangen bin.
Dann will ich meine Hand von dir tun; und du darfst hinter mir her sehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen.“
Moses möchte Gewissheit haben über seinen Weg. Darum möchte er Gottes Angesicht schauen. Er möchte gewiss sein, dass er sein Volk nicht ins Leere, in die ausweglose Wüste führt. Er braucht die Klarheit Gottes.
Aber seine Bitte findet keine Erhörung. Oder doch? Ihm wird gesagt: Niemand darf Gottes Herrlichkeit schauen, ohne selbst daran zugrunde zu gehen. Die Ietzte Wahrheit bekommt der Mensch nicht zu Gesicht. Sie bleibt verborgen, sie ist verhüllt.
Und doch: ich werde meine Hand über dich halten, bis ich vorübergegangen bin. Und du darfst hinter mir her sehen, aber mein Angesicht kannst du nicht sehen. Wir werden diese geheimnisvolle Geschichte nicht schnell und direkt in unsere Erfahrung, in die Erinnerung an den 20. Juli 1944 hineintragen dürfen. Sie sagt etwas Einmaliges. Und doch sagt sie etwas Bleibendes für alles Volk Gottes, das unterwegs ist und immer in der Gefahr steht, verloren zu gehen, in den Wüsten und den Versuchungen der Zeit. Was haben sie denn gesehen, die Menschen, deren Namen unlöslich mit dem 20. Juli verbunden sind und verbunden bleiben? Sie haben den Abgrund gesehen, die innere Verwüstung, den Tanz um das Goldene Kalb, die Tyrannei, die Verkehrung allen Rechts. Das haben sie gesehen. Und die meisten anderen haben es nicht gesehen, oder wagten es nicht zu sehen. Aber weil die, an deren Namen und Leben und Sterben wir uns erinnern, mehr gesehen haben, als was vor Augen ist, weil sie etwas von der Wahrheit Gottes gesehen haben, darum sind sie gegen die Tyrannei aufgestanden. Sie haben um diese Wahrheit ringen müssen. Es gab da keine letzte Gewissheit, es blieb ein Wagnis. Und viele haben es mit dem Tod bezahlt.
In den Briefen, die aufbewahrt sind, wie ein Vermächtnis für die Späteren, wird an vielen Stellen greifbar, wie beides zusammengehört: Gewissheit und Ungewissheit, das Bewahrtsein und das Preisgegebensein, das Gewinnen und das Verlieren.
„Und siehe, es ist Raum bei mir. Ich will dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dich halten.“
Es ist ein enger Raum, aber Raum auf dem Felsen auf einem Grund, der trägt. Und selbst der enge Raum einer Zelle kann von Gott dazu gemacht werden. Und ich will meine Hand über dich halten. Das ist ein eigenartig doppeldeutiges Bild. Denn es spricht ja an, dass die Augen des Menschen gehalten sind, dass er nicht hindurchsieht. Und zugleich ist es die Hand, die bewahrt und beschützt.
„Dann will ich meine Hand von dir tun; und du darfst hinter mir her sehen.“
Am Abend des 20. Juli und am Tag darauf ist öffentlich die Vorsehung beschworen worden, deren Spur man erkennen wollte in dem Überleben des Tyrannen. Sie aber, die mit ihrem Leben für die Menschlichkeit, für die Güte Gottes unter den Menschen eingestanden sind, kamen in Elend und Unehre und viele erlitten den Tod.
Und doch glauben wir, dass sie es waren, in deren Leben und Sterben Gottes Herrlichkeit und Menschenfreundlichkeit eine Spur hinterlassen hat.