Dieser Ort verpflichtet uns.

Wolfgang Lüder

Dieser Ort verpflichtet uns.

Ansprache des Bürgermeisters von Berlin Wolfgang Lüder am 20. Juli 1977 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Wir gedenken an diesem Tage des Widerstandes gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft. Der 20. Juli ist zuerst der Tag des Gedenkens an jene, die mit dem Attentat auf den Diktator das verbrecherische System beseitigen wollten, die Deutschland, das verwüstete Europa und die kriegsbelastete Welt aus der furchtbaren Zerstörung herausreißen wollten, die in unserem Land der Zivilisation wieder Geltung verschaffen wollten. Der 20. Juli steht für uns zugleich für allen Widerstand gegen das Unrecht zwischen 1933 und 1945, für den nach Zeitpunkt und Personen bekannten ebenso wie für den ungenannt gebliebenen Unbekannten. Wir denken an die Gruppe der Weißen Rose ebenso wie an alle die Mitbürger, die Verfolgte versteckten oder auf andere Weise sich dem System verweigerten und opponierten.

Wir gedenken des Schicksals jedes Einzelnen aus der Widerstandsbewegung. Nur die Angehörigen dieser Opfer, die Älteren unter uns, die diese Diktatur erlebt und erlitten, können wohl ganz ermessen, in welchen Konflikten diese Menschen gestanden haben. Viele waren durch Eid und Gehorsam gebunden und einer Macht verpflichtet, die sie und Deutschland in Wirklichkeit verraten hatte und die doch in den Augen der Mehrheit unseres Volkes den Widerstand des Verrats bezichtigen konnte. Sie lebten im Spannungsfeld zwischen Rücksicht auf ihre Familie, auf die Menschen, die sie liebten und der Verantwortung ihres Gewissens.

Diese Gedenkstätte mahnt, nicht zu vergessen, zu welcher unmenschlichen Brutalität Diktaturen und ihre staatlich bediensteten Henker fähig sein können. Scheitert der Widerstand, steigert die Gewaltherrschaft den Terror ins Grenzenlose. Sie, die Rettung versuchen, bezahlen mit ihrem Leben. Hier ist eine der Stätten, wo jene ermordet worden sind wie andere vor ihnen und nach ihnen hier und an anderen Orten des Grauens.

Ihnen und den Frauen und Männern des 20. Juli sagen wir auch heute unseren Dank.

Sie haben uns Deutschen die moralische Grundlage für unsere Existenz gegeben. Sie haben uns – im übertragenen Sinn – ermöglicht, weiterleben zu können. Sie gehören zu jenem anderen Deutschland, das die Welt auch in der finstersten Zeit unseres Volkes noch das Fortbestehen des Wissens um Recht und Freiheit und Menschenwürde erkennen ließ. Der Widerstand der wenigen im täglichen Leben gehört eben zu jener Zeit wie der blinde Jubel, die zerstörerische Irrationalität und der nationale Wahn der vielen. Die Frauen und Männer des Widerstandes haben darauf aufmerksam gemacht. Sie haben gezeigt, dass die humanen Traditionen und eine verlässliche Menschlichkeit in Deutschland trotz allem auch da waren.

Wir in Berlin und der Bundesrepublik Deutschland leben in einem Staat und einer Gesellschaft, in der verwirklicht ist, worum es damals ging. Das ist nicht selbstzufrieden gemeint. Es gibt vieles bei uns, was Kritik verdient und Besserung erfordert, aber den Grundwerten, für die am 20. Juli 1944 gehandelt wurde, ist Geltung verschafft.

Dieser Tag, dieser Ort verpflichtet uns, uns zu den Grundrechten unserer demokratischen Staatsordnung zu bekennen und uns für sie einzusetzen, für Freiheit, Recht und Toleranz, für Menschenwürde und Menschlichkeit. Und Tag und Ort verpflichten uns, denen mit Nachdruck entgegenzutreten, die verniedlichen wollen, was die nationalsozialistische Diktatur über Deutschland und die Welt brachte, die verdrängen wollen, welches Unheil und Unrecht damals geschah oder die wieder, auch wenn es nur wenige sind, das Heil im braunen Denken suchen. Gedenken an den Widerstand gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft fordert Rückblick und Ausblick zugleich, heißt Bekenntnis zu Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit ebenso wie Absage an jede Form der Gewaltherrschaft und jede Form ihrer Vorboten.

Was wir zu tun haben, ist gering und leicht, verglichen mit dem, was die taten, derer wir hier gedenken. Aber tun wir es, engagieren wir uns für unseren Staat und für Recht und für Freiheit, wäre das in der ersten deutschen Republik so selbstverständlich gewesen, wie es sich heute sagt und anhört, wäre die Demokratie schon damals heimisch geworden in Deutschland und hätte die Mehrheit aus überzeugten Demokraten bestanden, der Welt und uns wäre Furchtbares erspart geblieben. Die Männer vom 20. Juli und die anderen Widerstandskämpfer in Deutschland und im Ausland und die Millionen, die in den Lagern ermordet und im Krieg getötet wurden, sie hätten leben können.







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