„Ein Lichtpunkt in der dunkelsten Zeit Deutschlands“
Gedenkstätte Deutscher Widerstand
Ilse Aigner
„Ein Lichtpunkt in der dunkelsten Zeit Deutschlands“
Grußwort der Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz am 20. Juli 2012 im Ehrenhof der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in der Stauffenbergstraße, Berlin
Sehr verehrte Damen und Herren,
hier im Bendlerblock sehen wir die beklemmende Skulptur von Richard Scheibe: ein junger Mann mit verbundenen Armen. Davor befindet sich noch ein zweites Kunstwerk. Ein Kunstwerk, das auf den ersten Blick vielleicht etwas unscheinbar wirkt. Ich meine die Bodenskulptur, die Gedenkstufen, von Professor Erich Reusch hier in der Mitte des Hofes – genau vor Ihnen. Sie sind ein bewusst gesetzter Widerstand, der uns unbewusst zu einer Entscheidung zwingt: Wie gehe ich mit diesem Widerstand um? Mache ich einen Bogen um die Skulptur oder steige ich darüber hinweg? Die wenigsten Besucher nehmen diese Schwelle des Widerstandes. Das hat etwas mit Respekt zu tun gegenüber der Kunst, ihrem Künstler und dem historischen Ort, an dem wir uns befinden. Aber es zeigt auch, wie wir im Alltag Widerständen begegnen: Wir gehen ihnen nur zu gerne aus dem Weg.
Meine Damen und Herren,
ich zähle – Gott sei Dank – zu einer Generation, die den Zweiten Weltkrieg nicht mehr selbst miterleben musste. Wir kennen die Schrecken des Nationalsozialismus nur noch aus den Erzählungen unserer Eltern oder unserer Großeltern und aus den Geschichtsbüchern. Und dennoch: Wir wollen und wir müssen uns damit auseinandersetzen. Es ist viel geschrieben und geforscht worden über die Frage, warum es im Nationalsozialismus nur vereinzelten Widerstand gegen dieses System gab. Die landwirtschaftliche Bevölkerung bildete hier keine Ausnahme. Damals arbeitete ein großer Teil der Deutschen in der Landwirtschaft. Sie bildete einen der größten Berufszweige. Die Opposition aber, die sich aus der Landwirtschaft gegen den Nationalsozialismus richtete, blieb zahlenmäßig klein – viel zu klein.
Die nationalsozialistische Ideologie, die den Bauernstand als adelsgleich bewertete, hat viele geblendet. Und auch Gutsbesitzer stellten sich hinter Parolen wie „Blut und Boden“ oder den mörderischen Eroberungsplan vom „Lebensraum im Osten“. Ja – das Bauerntum wurde mythisch überhöht und gezielt instrumentalisiert.
Der Widerstand aus der Landwirtschaft ist bislang wenig erforscht. Aber auch in der Landwirtschaft gab es Einzelpersonen, die gegen das Regime kämpften. Im vergangenen Jahr hatten wir die Wanderausstellung „Landwirte im Widerstand“ in meinem Ministerium zu Gast. Sie zeigt die Schicksale von 90 Persönlichkeiten, die sich am aktiven oder passiven Widerstand gegen Hitler beteiligten – unter ihnen Bäuerinnen und Bauern, Gutsbesitzer und Agrarpolitiker. Einer von ihnen war Andreas Hermes. Er war bis 1933 Präsident des Reichsverbandes der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften – Raiffeisen. Es waren seine christliche Weltanschauung und vor allem sein Gewissen, die ihn zunächst in Opposition zum Nazi-Regime und im Laufe des Krieges in den Widerstand führten. Andreas Hermes sah seinen Widerstand als Beitrag – ich zitiere: „daß unserem Volke die unveräußerliche Grundlage christlicher Ethik erhalten bleiben möge, und daß die in Gott gegründeten Menschenrechte der Gerechtigkeit, Freiheit, Würde und Ehre wieder als ein unantastbares Gut Achtung und Schutz finden mögen.“ Menschen wie Andreas Hermes haben Verantwortung übernommen. Menschen wie er blieben sich selbst in ihren Wertvorstellungen treu. Dabei war der Widerstand gegen Hitler weit davon entfernt, eine einheitliche Bewegung zu sein. Doch seinem Gewissen zu folgen und Verantwortung zu übernehmen – diese Motive können als Leitschnur des Widerstandes gelten. Die Widerstandskämpfer und Widerstandskämpferinnen waren vereint in der Ablehnung der menschenfeindlichen NS-Diktatur und ihres Vernichtungswerkes.
Als das Symbol für den deutschen Widerstand gilt der 20. Juli 1944. Dramatische Stunden haben sich an diesem Tag hier im Bendlerblock abgespielt. Stunden, die mit der Ermordung der beteiligten Offiziere endeten. Und noch viele andere aufrechte und mutige Menschen mussten nach dem Umsturzversuch ihr Leben lassen, teils nach entwürdigenden Schauprozessen vor dem sogenannten Volksgerichtshof. Auch Andreas Hermes wurde nach dem 20. Juli zum Tode verurteilt. Wiederholte Eingaben seiner Frau Anna und schließlich der Zusammenbruch des Deutschen Reiches im Frühjahr 1945 verhinderten – Gott sei Dank – den Vollzug des Urteils.
Meine Damen und Herren,
unterstützt von der Propaganda der Nationalsozialisten war nach dem gescheiterten Umsturzversuch auch das Urteil der Öffentlichkeit schnell gefällt. Die Widerstandskämpfer selbst hatten im Hinblick auf die öffentliche Wahrnehmung ihrer Tat wenig Hoffnung. Noch in der Nacht vor seiner Hinrichtung schrieb Peter Graf Yorck von Wartenburg – ich zitiere: „Vielleicht kommt doch einmal die Zeit, wo man eine andere Würdigung für unsere Haltung findet, wo man nicht als Lump, sondern als Mahnender und Patriot gewertet wird.“
Tatsächlich ließ diese Zeit noch lange auf sich warten. Man sah zunächst diesen „Lichtpunkt in der dunkelsten Zeit Deutschlands“ nur widerwillig als Identifikationspunkt der neuen Bundesrepublik. Vielmehr haftete den Widerstandskämpfern auch noch lange nach dem Krieg der Vorwurf des Verrates an. Diese Einstellung der Deutschen gegenüber dem Widerstand hat sich in den folgenden Jahrzehnten nur langsam geändert. Die stille Verachtung weiter Teile der Bevölkerung für den Widerstand hatte direkte Auswirkungen auf das Leben der verbliebenen Angehörigen. Es war die Missachtung dessen, was größte Achtung verdient gehabt hätte! Die Angehörigen verloren nicht nur den geliebten Vater, Ehemann, Großvater, Cousin oder Onkel. Sie wurden in Sippenhaft genommen. Sie wurden nach Kriegsende gemieden und sie wurden schikaniert. Auch die mangelnde gesellschaftliche Wertschätzung bis hin zur Missachtung hat tiefe Spuren in den Familien hinterlassen. Spuren, die zu noch stärkerem Zusammenhalt in diesen Familien führten und zu dem festen Willen, für das Vermächtnis des 20. Juli zu kämpfen.
Auch dem unermüdlichen Bemühungen der Familien und ihrem Engagement teils schon in der dritten Generation ist es zu verdanken, dass wir heute dem deutschen Widerstand einen würdigen Platz in unserer Geschichte einräumen.
Ihnen, den Angehörigen, die heute hier sind, will ich daher aus tiefster Überzeugung meinen Dank und meinen Respekt aussprechen, auch im Namen der gesamten Bundesregierung.
Der 20. Juli wird immer ein Tag des Gedenkens an alle Widerstandskämpfer sein, die gegen den Nationalsozialismus kämpften – und auch ein Tag des Gedenkens an das schwere Schicksal ihrer Hinterbliebenen.
Sehr geehrte Damen und Herren,
es ist das Vermächtnis des deutschen Widerstandes, das uns nach 1945 die Wiederaufnahme in den Kreis der Völkerfamilie erleichterte. Und es ist dieses Vermächtnis, das uns mahnt, stets gegen Unrecht, Willkür, Fremdenhass und Diktatur aufzustehen. Die Aktualität dieses Vermächtnisses ist uns jüngst wieder schmerzhaft vor Augen geführt worden. Beim Gedenken an die Opfer der Anschlagsserie der NSU hat unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel gesagt: „Demokratie lebt vom Hinsehen, vom Mitmachen. Sie lebt davon, dass wir alle für sie einstehen, Tag für Tag und jeder an seinem Platz. Demokratie zu leben mutet uns zu, Verantwortung zu übernehmen für ein Zusammenleben in Freiheit – und damit für ein Leben in Vielfalt.“
Wie viel einfacher ist es für uns heute – in einem Staat, aufgebaut auf einer freiheitlichdemokratischen Grundordnung – für das einzutreten, was wir richtig finden!
Die Widerstandskämpfer gegen Hitler hatten diese Möglichkeit nicht. Sie mussten den höchsten Preis zahlen, ihr eigenes Leben, um ihrem Gewissen zu folgen und Verantwortung zu übernehmen. Ihrer gedenken wir heute! Wir verneigen uns vor ihnen in Hochachtung!
Ilse Aigner
„Ein Lichtpunkt in der dunkelsten Zeit Deutschlands“
Grußwort der Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz am 20. Juli 2012 im Ehrenhof der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in der Stauffenbergstraße, Berlin
Sehr verehrte Damen und Herren,
hier im Bendlerblock sehen wir die beklemmende Skulptur von Richard Scheibe: ein junger Mann mit verbundenen Armen. Davor befindet sich noch ein zweites Kunstwerk. Ein Kunstwerk, das auf den ersten Blick vielleicht etwas unscheinbar wirkt. Ich meine die Bodenskulptur, die Gedenkstufen, von Professor Erich Reusch hier in der Mitte des Hofes – genau vor Ihnen. Sie sind ein bewusst gesetzter Widerstand, der uns unbewusst zu einer Entscheidung zwingt: Wie gehe ich mit diesem Widerstand um? Mache ich einen Bogen um die Skulptur oder steige ich darüber hinweg? Die wenigsten Besucher nehmen diese Schwelle des Widerstandes. Das hat etwas mit Respekt zu tun gegenüber der Kunst, ihrem Künstler und dem historischen Ort, an dem wir uns befinden. Aber es zeigt auch, wie wir im Alltag Widerständen begegnen: Wir gehen ihnen nur zu gerne aus dem Weg.
Meine Damen und Herren,
ich zähle – Gott sei Dank – zu einer Generation, die den Zweiten Weltkrieg nicht mehr selbst miterleben musste. Wir kennen die Schrecken des Nationalsozialismus nur noch aus den Erzählungen unserer Eltern oder unserer Großeltern und aus den Geschichtsbüchern. Und dennoch: Wir wollen und wir müssen uns damit auseinandersetzen. Es ist viel geschrieben und geforscht worden über die Frage, warum es im Nationalsozialismus nur vereinzelten Widerstand gegen dieses System gab. Die landwirtschaftliche Bevölkerung bildete hier keine Ausnahme. Damals arbeitete ein großer Teil der Deutschen in der Landwirtschaft. Sie bildete einen der größten Berufszweige. Die Opposition aber, die sich aus der Landwirtschaft gegen den Nationalsozialismus richtete, blieb zahlenmäßig klein – viel zu klein.
Die nationalsozialistische Ideologie, die den Bauernstand als adelsgleich bewertete, hat viele geblendet. Und auch Gutsbesitzer stellten sich hinter Parolen wie „Blut und Boden“ oder den mörderischen Eroberungsplan vom „Lebensraum im Osten“. Ja – das Bauerntum wurde mythisch überhöht und gezielt instrumentalisiert.
Der Widerstand aus der Landwirtschaft ist bislang wenig erforscht. Aber auch in der Landwirtschaft gab es Einzelpersonen, die gegen das Regime kämpften. Im vergangenen Jahr hatten wir die Wanderausstellung „Landwirte im Widerstand“ in meinem Ministerium zu Gast. Sie zeigt die Schicksale von 90 Persönlichkeiten, die sich am aktiven oder passiven Widerstand gegen Hitler beteiligten – unter ihnen Bäuerinnen und Bauern, Gutsbesitzer und Agrarpolitiker. Einer von ihnen war Andreas Hermes. Er war bis 1933 Präsident des Reichsverbandes der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften – Raiffeisen. Es waren seine christliche Weltanschauung und vor allem sein Gewissen, die ihn zunächst in Opposition zum Nazi-Regime und im Laufe des Krieges in den Widerstand führten. Andreas Hermes sah seinen Widerstand als Beitrag – ich zitiere: „daß unserem Volke die unveräußerliche Grundlage christlicher Ethik erhalten bleiben möge, und daß die in Gott gegründeten Menschenrechte der Gerechtigkeit, Freiheit, Würde und Ehre wieder als ein unantastbares Gut Achtung und Schutz finden mögen.“ Menschen wie Andreas Hermes haben Verantwortung übernommen. Menschen wie er blieben sich selbst in ihren Wertvorstellungen treu. Dabei war der Widerstand gegen Hitler weit davon entfernt, eine einheitliche Bewegung zu sein. Doch seinem Gewissen zu folgen und Verantwortung zu übernehmen – diese Motive können als Leitschnur des Widerstandes gelten. Die Widerstandskämpfer und Widerstandskämpferinnen waren vereint in der Ablehnung der menschenfeindlichen NS-Diktatur und ihres Vernichtungswerkes.
Als das Symbol für den deutschen Widerstand gilt der 20. Juli 1944. Dramatische Stunden haben sich an diesem Tag hier im Bendlerblock abgespielt. Stunden, die mit der Ermordung der beteiligten Offiziere endeten. Und noch viele andere aufrechte und mutige Menschen mussten nach dem Umsturzversuch ihr Leben lassen, teils nach entwürdigenden Schauprozessen vor dem sogenannten Volksgerichtshof. Auch Andreas Hermes wurde nach dem 20. Juli zum Tode verurteilt. Wiederholte Eingaben seiner Frau Anna und schließlich der Zusammenbruch des Deutschen Reiches im Frühjahr 1945 verhinderten – Gott sei Dank – den Vollzug des Urteils.
Meine Damen und Herren,
unterstützt von der Propaganda der Nationalsozialisten war nach dem gescheiterten Umsturzversuch auch das Urteil der Öffentlichkeit schnell gefällt. Die Widerstandskämpfer selbst hatten im Hinblick auf die öffentliche Wahrnehmung ihrer Tat wenig Hoffnung. Noch in der Nacht vor seiner Hinrichtung schrieb Peter Graf Yorck von Wartenburg – ich zitiere: „Vielleicht kommt doch einmal die Zeit, wo man eine andere Würdigung für unsere Haltung findet, wo man nicht als Lump, sondern als Mahnender und Patriot gewertet wird.“
Tatsächlich ließ diese Zeit noch lange auf sich warten. Man sah zunächst diesen „Lichtpunkt in der dunkelsten Zeit Deutschlands“ nur widerwillig als Identifikationspunkt der neuen Bundesrepublik. Vielmehr haftete den Widerstandskämpfern auch noch lange nach dem Krieg der Vorwurf des Verrates an. Diese Einstellung der Deutschen gegenüber dem Widerstand hat sich in den folgenden Jahrzehnten nur langsam geändert. Die stille Verachtung weiter Teile der Bevölkerung für den Widerstand hatte direkte Auswirkungen auf das Leben der verbliebenen Angehörigen. Es war die Missachtung dessen, was größte Achtung verdient gehabt hätte! Die Angehörigen verloren nicht nur den geliebten Vater, Ehemann, Großvater, Cousin oder Onkel. Sie wurden in Sippenhaft genommen. Sie wurden nach Kriegsende gemieden und sie wurden schikaniert. Auch die mangelnde gesellschaftliche Wertschätzung bis hin zur Missachtung hat tiefe Spuren in den Familien hinterlassen. Spuren, die zu noch stärkerem Zusammenhalt in diesen Familien führten und zu dem festen Willen, für das Vermächtnis des 20. Juli zu kämpfen.
Auch dem unermüdlichen Bemühungen der Familien und ihrem Engagement teils schon in der dritten Generation ist es zu verdanken, dass wir heute dem deutschen Widerstand einen würdigen Platz in unserer Geschichte einräumen.
Ihnen, den Angehörigen, die heute hier sind, will ich daher aus tiefster Überzeugung meinen Dank und meinen Respekt aussprechen, auch im Namen der gesamten Bundesregierung.
Der 20. Juli wird immer ein Tag des Gedenkens an alle Widerstandskämpfer sein, die gegen den Nationalsozialismus kämpften – und auch ein Tag des Gedenkens an das schwere Schicksal ihrer Hinterbliebenen.
Sehr geehrte Damen und Herren,
es ist das Vermächtnis des deutschen Widerstandes, das uns nach 1945 die Wiederaufnahme in den Kreis der Völkerfamilie erleichterte. Und es ist dieses Vermächtnis, das uns mahnt, stets gegen Unrecht, Willkür, Fremdenhass und Diktatur aufzustehen. Die Aktualität dieses Vermächtnisses ist uns jüngst wieder schmerzhaft vor Augen geführt worden. Beim Gedenken an die Opfer der Anschlagsserie der NSU hat unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel gesagt: „Demokratie lebt vom Hinsehen, vom Mitmachen. Sie lebt davon, dass wir alle für sie einstehen, Tag für Tag und jeder an seinem Platz. Demokratie zu leben mutet uns zu, Verantwortung zu übernehmen für ein Zusammenleben in Freiheit – und damit für ein Leben in Vielfalt.“
Wie viel einfacher ist es für uns heute – in einem Staat, aufgebaut auf einer freiheitlichdemokratischen Grundordnung – für das einzutreten, was wir richtig finden!
Die Widerstandskämpfer gegen Hitler hatten diese Möglichkeit nicht. Sie mussten den höchsten Preis zahlen, ihr eigenes Leben, um ihrem Gewissen zu folgen und Verantwortung zu übernehmen. Ihrer gedenken wir heute! Wir verneigen uns vor ihnen in Hochachtung!