Ein Tag, an dem alle Demokraten und Antifaschisten ihr Haupt erheben können.

Walter Momper

Ein Tag, an dem alle Demokraten und Antifaschisten ihr Haupt erheben können.

Ansprache des Regierenden Bürgermeisters von Berlin Walter Momper am 20. Juli 1990 im Ehrenhof der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in der Stauffenbergstraße, Berlin

Die Gedenkfeiern zum 46. Jahrestag des 20. Juli 1944 stehen am Ende einer Entwicklungsphase der deutschen Geschichte. Diese Phase wurde entscheidend vom Kalten Krieg sowie von der neuen Ostpolitik Willy Brandts geprägt. Die Entspannungspolitik und die Versöhnung mit den Völkern Osteuropas brauchten einen langen Atem, um schließlich zum Erfolg zu kommen. Heute befinden wir uns an einem Wendepunkt für die weitere Entwicklung Deutschlands. Die Freude über das Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten darf aber nicht dazu führen, dass wir die Ursachen der Teilung vergessen. Das heutige Datum bietet Anlass, sich einige Gedanken zu Deutschlands Vergangenheit und Deutschlands Zukunft zu machen. Der 20. Juli war und ist ein Tag, an dem alle Demokraten und Antifaschisten ihr Haupt erheben können. Dieser Tag steht stellvertretend für alle Widerstandsformen gegen den Nationalsozialismus. Das waren ja vor allem die kleinen Widerstandshandlungen Einzelner im Alltag. Es waren Hilfsaktionen in der Not, verbunden mit hohen Risiken für das eigene Leben. Es waren nicht genug, aber doch mehr, als allgemein bekannt ist.

Dies schmälert nicht den Verdienst der Frauen und Männer des 20. Juli. Es hat immer wieder Vorhaltungen gegeben, dass dieses Attentat und dieser Umsturzversuch viel zu spät erfolgt seien. Dazu gehört der Vorwurf, das Staatsverständnis bei etlichen der Beteiligten habe nicht dem unsrigen entsprochen. Das mag sein. Aber erstens ist es nie zu spät, innezuhalten auf einem falschen Weg, und den Kurs zu ändern. Allein dafür verdienen die Frauen und Männer des 20. Juli unsere Anerkennung und unser ehrendes Gedenken. Und wir müssen zweitens sehen, was ein geglückter Umsturz den Menschen bei uns und in vielen anderen Staaten Europas erspart hätte. Ein Waffenstillstand hätte das millionenfache Töten beendet. Es hätte keine weiteren Opfer an den Fronten, durch Bomben in den Städten, durch Flucht vor herannahenden Armeen der Anti-Hitler-Koalition gegeben. Und auch die Konzentrationslager und das Morden in ihnen konnten nur so lange betrieben werden, wie die Fronten hielten. Das sollten sich gerade heute diejenigen Politiker bewusst machen, die zum Beispiel das kriegsverlängernde Kämpfen der Hitler-Truppen in Schlesien für eine herausragende militärische Leistung halten.

Die Lehre des 20. Juli heißt nicht, alte Feindbilder zu pflegen oder gar neue aufzubauen. Die Lehre heißt, dass man rechtzeitig lernen muss, auch einmal nein zu sagen. Denn als die Diktatur, als der Nationalsozialismus an der Macht war, da war es bereits zu spät. Dann war es mutig und ehrenvoll, dass man sich nicht beugte, dass man Widerstand leistete. Aber es war auch ein ziemlich hoffnungsloser Kampf. Das hat uns die Geschichte gelehrt. Und jeder, der will, kann gerade an diesem Ort, in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, lernen, was wirklich aufrechter Gang bedeutet.

Einer der politischen Leitsätze der frühen Nachkriegszeit war: Wehret den Anfängen! Dieser Satz gilt heute immer noch. Ja, er gilt mehr denn je. Denn die Ewiggestrigen kriechen ja nicht mehr nur aus ihren Löchern, sie bewegen sich zunehmend freier auf unseren Straßen. Der Rechtsextremismus hat viele Gesichter und weiß auch geschickt, die bewusst in Kauf genommenen Schwachstellen unserer Demokratie zu nutzen. Die rechten Rattenfänger suchen neue Anhänger, und sie finden sie. Sie finden sie vor allem unter frustrierten, vom sozialen Fortschritt ausgegrenzten jungen Menschen. Hier gilt es, Zukunftsperspektiven zu schaffen. Hier müssen die Ursachen für das Verhalten dieser fehlgeleiteten Mitbürger bekämpft und beseitigt werden. Wir dürfen sie nicht einfach links liegen lassen. Wir müssen aufklären und als Demokraten gleichzeitig wehrhaft sein. Und wir müssen unsere Hand ausstrecken für alle, die willens sind, innezuhalten und umzukehren.

Wir müssen äußerst wachsam sein, dass die Begeisterung über das Wiedererstehen eines deutschen Nationalstaates nicht in Chauvinismus umschlägt. Wir sehen, dass der Antifaschismus in der DDR bei weitem nicht die Herzen aller Menschen erfasst hatte, sondern nur aufgesetzt war. Wir beobachten einen neuen Rassismus. Auch der Antisemitismus lebt wieder auf, vor allem in Osteuropa. Diesem neuen, alten Treiben gilt es entschieden Einhalt zu gebieten.

Nein, wir sind nicht die Lehrmeister der Welt. Aber wir haben eine Verantwortung vor der Geschichte. Wir haben diese Verantwortung vor allen Dingen für unser eigenes Land. Doch wir dürfen und müssen auch auf Fehlentwicklungen in anderen Ländern aufmerksam machen. Das ist genauso eine Verpflichtung aus der Geschichte.

Demokratie ist ein mühsamer Prozess der Aufklärung und des Werbens für Mehrheiten. Es ist der Versuch, die Ratio gegen den Bauch durchzusetzen. Deshalb verurteilen wir bei uns und überall jede Form von Hass gegen Minderheiten und Ausländer. Gerade was Osteuropa betrifft, so vergessen wir nicht, dass es der von Deutschland begonnene Zweite Weltkrieg war, der diese Menschen unter die Knute des Stalinismus und in ihr heutiges wirtschaftliches Elend gebracht hat. Doch auch wer Opfer war, hat damit keinen Freibrief für sein Tun erhalten. Vor allem, wenn es gegen andere gerichtet ist.

Und wer jetzt den bei uns entstandenen Unmut über einige Osteuropäer ausnutzt und mit billigen Parolen versucht, die Stimmung anzuheizen und damit Stimmen zu fangen, der versündigt sich vor den Menschen und vor der Geschichte unseres Kontinents. Der versündigt sich auch an den ausländischen Mitbewohnern Deutschlands. Es ist auch eine Lehre des 20. Juli, dass ein guter Staat nur in einem Klima der Toleranz gedeihen kann. Dieses Klima brauchen wir jetzt bei uns und auf dem Weg in ein neues gemeinsames Europa, das die seit Jahrzehnten bestehenden Schranken durchbrochen hat.

Berlin kann und wird als Hauptstadt des neuen Deutschlands nicht seine eigene Geschichte verdrängen. Hier wird kein Schlussstrich gezogen, sondern wir bekennen uns zu allen Höhen und Tiefen der Vergangenheit. Es ist wahr, dass in Berlin der millionenfache Mord an den Juden geplant und der Vernichtungskrieg vor allem nach Osten geworfen wurde. Aber es ist auch wahr, dass Berlin das Zentrum des Widerstandes gegen die Nazi-Barbarei war. Wer die Schuld der Deutschen allein auf Berlin abladen will, um sich selbst reinzuwaschen, der verliert seine Integrität. Gerade unsere Nachbarn im Osten werden darauf achten, ob wir der Versuchung er- liegen, erneut eine Stunde Null zu konstruieren, um uns von den düsteren Kapiteln unserer Geschichte abzukoppeln.

Das neue Deutschland, das jetzt entsteht, muss auch an einem neuen Profil arbeiten, das vom europäischen Geist geprägt sein muss. Wir müssen uns unserer Größe bewusst sein, ohne der Gefahr zu erliegen, etwa Führungsmacht Europas spielen zu wollen. Das Kräfteverhältnis in Europa, das politische Koordinatensystem hat sich zu Gunsten der Deutschen verschoben. Wir müssen deshalb bei unseren Nachbarn Überzeugungsarbeit leisten, um ihnen die Angst vor der deutschen Vereinigung und der deutschen Stärke zu nehmen. Die Einheit soll und muss im Einklang mit unseren Nachbarn und mit den Siegermächten hergestellt werden. Das einige Deutschland, es wird anders sein als nur die Addition der Bundesrepublik und der DDR. Das neue Deutschland wird ein friedliches und ein europäisches Deutschland sein.

Das Treffen zwischen Staatspräsident Gorbatschow und Bundeskanzler Kohl hat das Tor zur deutschen Einheit endgültig aufgestoßen. Das vereinte Deutschland wird frei und souverän sein. Angesichts unseres historischen Erbes tragen wir fortan eine noch größere Verantwortung. Wir müssen sensibel bleiben gegenüber staatlicher Willkür, kultureller Borniertheit und ökonomischem Überlegenheitsstreben.

Wir bieten unseren guten Willen an und unsere Bereitschaft zu einem friedlichen Miteinander. Wir wollen nach innen unsere Demokratie noch weiter festigen und stärken. Und wir wollen nach außen jede demokratische Bewegung unterstützen.

Wir wollen als Deutsche in Europa leben. In einem gemeinsamen Europa, von dem nur noch Frieden ausgeht. Und nie wieder Krieg, Verfolgung oder Unterdrückung!“








Weitere Reden

20.07.1990
Prof. Dr. Roman Herzog