Freiwillig zum letzten Opfer bereit

Roman Herzog

Freiwillig zum letzten Opfer bereit

Gedenkrede des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Roman Herzog am 20. Juli 1990 im Ehrenhof der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in der Stauffenbergstraße, Berlin

Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Wieder einmal sind wir hier zusammengekommen, um der Männer und Frauen zu gedenken, die das Attentat vom 20. Juli 1944 vorberaten und vorbereitet haben, die es durchgeführt und verantwortet haben, die die unmenschlichen Folgen dieses in der deutschen Geschichte einmaligen Ereignisses getragen haben. Zugleich erinnern wir uns der vielen anderen, die dem menschenverachtenden System des Nationalsozialismus unter Einsatz und oft auch unter Opferung ihres Lebens entgegengetreten sind – ohne ein Handeln, das aufsehenerregend genug gewesen wäre, um sich mit einem bestimmten Datum zu verbinden.

Es ist oft genug betont worden, muss aber doch immer wieder aufs Neue gesagt werden: Sie kamen aus allen Schichten unseres Volkes, aus allen politischen Lagern und aus allen weltanschaulichen Gruppierungen, aus allen Altersschichten, und so sind sie, so gering sie der Zahl nach waren, doch wenigstens ihrer Herkunft nach für ihr Volk repräsentativ gewesen. Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind unter ihnen gewesen, Katholiken und Protestanten, Konservative, Liberale, Sozialdemokraten und Marxisten, Gewerkschafter, Bauern und Beamte, Soldaten, Pfarrer und Richter, junge Menschen und Greise. Es waren die Besten und unser Volk leidet im Ablauf seiner Generationen bis zur Gegenwart daran, dass es sie verloren hat, ehe sie aus ihren Visionen Wirklichkeit schaffen konnten. Kein Volk hat beliebig viele, die freiwillig zum letzten Opfer bereit sind, und wenn es sie vor der Zeit verliert, dann leidet niemand mehr darunter als das Volk selbst. Wir haben das in den vergangenen Jahrzehnten mehr als einmal in aller Bitterkeit erfahren und beklagen müssen.

Verschieden waren die Ziele, die sie mit ihren Aktionen unmittelbar verfolgten. Den Mitgliedern der alten Weimarer Parteien – vor allem der Sozialdemokratie, des Zentrums und der Demokraten – mag es zunächst um die Wiedergewinnung freiheitlicher und demokratischer Verhältnisse gegangen sein, und ihre Nahziele erscheinen uns heute zu Unrecht als gering: Die Mitbürger durch Flugblätter oder Wandparolen aufzurütteln, Sand ins Getriebe der nationalsozialistischen Machtmaschinerie zu streuen, am Ende nur noch ohnmächtigen Protest gegen das Unrecht und die Unfreiheit anzumelden.

Andere hatten Konkreteres im Auge, je nach dem Ort, an dem sie standen: die kleinen Leute, die einen oder zwei Juden versteckten, die Unternehmer und Abteilungsleiter, die vielleicht sogar einige hundert vor der Vergasung bewahren konnten, die vielen Ungenannten, die den Kindern verhafteter Widerstandskämpfer etwas zu essen zusteckten und etwas Zuwendung schenkten, der einsame Attentäter des Bürgerbräukellers, die Männer des 20. Juli 1944, die in letzter Stunde zum Sturz des ganzen Systems antraten. Man muss in Stunden wie dieser nicht nur den Mut und die Opferbereitschaft all dieser Menschen bewundern. Das andere muss genauso viel gelten: die innere Stärke, die dazu nötig war, in einer Flut von fehlgeleiteter Begeisterung, von Gemeinheit und Opportunismus das sichere Urteil zu bewahren oder doch wiederzugewinnen, das dem einzelnen Menschen auch in der Isolation eines totalitären Staates sagen kann, was Recht und was Unrecht ist.

Am Ende aber kam das Bitterste: das Attentat zu einer Stunde, die nur noch die Vernichtung des eigenen Staates zuließ – zu dem einzigen Zweck, ein paar Schrammen aus dem entstellten deutschen Antlitz etwas weniger tief erscheinen zu lassen. Man fragt sich, wie diese Menschen das bewältigt haben.

Die politischen Fernziele allein können es nicht gewesen sein – dazu waren die Lebenserfahrungen und die politischen Ideen zu verschieden. Wir wissen, dass der Staat, in dem wir seit Jahrzehnten leben, bei weitem nicht allen Mitgliedern des Widerstands vorgeschwebt hat.

Natürlich wollten die einen die Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie, aber andere folgten eher ständestaatlichen Ideen. Selbst bei den Kommunisten wird man da sehr genau hinschauen müssen, um ein gerechtes Urteil zu finden; denn auch sie standen beileibe nicht alle auf der Seite des stalinistischen Totalitarismus.

Natürlich ist in den verschiedenen Zirkeln an eine neue, soziale Marktwirtschaft gedacht worden. Aber andere dachten eher an eine kontrollierte und gesteuerte Verwaltungswirtschaft.

Natürlich wünschten sich viele die uneingeschränkte geistige Freiheit, die wir heute genießen, und bejahten auch ihre notwendige Folge, die pluralistische Demokratie. Andere aber stellten sich wohl eine homogenere, durch gemeinsame Pflichtethik „formierte“ Gesellschaft vor.

Am Ende aber war das alles nicht mehr entscheidend. Am Ende galt nur noch, was Carl Zuckmayer kurz nach Kriegsende seinen Oderbruch sagen ließ:

„Manche kamen aus Scham, andere aus Wut, aus Haß. Einige, weil sie ihre Heimat, viele, weil sie ihre Arbeit liebten oder ihr Werk oder die Idee der Freiheit und die Freiheit ihrer Brüder. Aber alle – auch die unversöhnlich hassen – sind gekommen, weil sie etwas mehr lieben als sich selbst.“

Welches Mehr also? Man tut sich nicht eben leicht, das in Worte zu fassen, und am Ende findet man nur Gedankensplitter, die – jeder für sich – wie Facetten wirken:

der Glaube an eine Herrschaft des Rechts, was immer man sich darunter vorstellen mag

der Glaube an die Freiheit und an die Kraft des menschlichen Geistes, sie zum Wohle des Menschen zu nutzen

der Glaube an einen Staat, der für den Menschen da ist und nicht umgekehrt

der Glaube an ein Quentchen Liebe unter den Menschen, wie sie der galiläische Prediger vor zwei Jahrtausenden verkündet hat und wie sie sehr viel später als Brüderlichkeit wieder verkündet worden ist

die Hoffnung auf die Kraft der Menschen, in Frieden beieinander zu leben

und vielleicht auch der Glaube daran, dass das deutsche Volk imstande sein könnte, trotz allem zu diesen Überzeugungen zurückzukehren.

Selten in der Geschichte ist es einem Volk vergönnt gewesen, nach einem äußeren und vor allem einem geistigen Zusammenbruch wie dem des deutschen Volkes noch einmal so neu zu beginnen, wie es das Deutsche konnte, und das gleich zweimal im Laufe zweier Generationen – im Westen nach 1945 und als Ganzes in diesen Tagen und Wochen.

Was nehmen wir aus unserer Geschichte in diese völlig unerwartete Zukunft mit?

Zunächst doch wohl dies: dass keine Geschichte und keine Gegenwart ein Volk davor schützt, in die tiefste Verwirrung, ja in die tiefste Barbarei zu versinken.

Man braucht nicht in Schwarz-Weiß-Malerei und nicht in Kollektivschuldtheorien zu verfallen, um das zu sehen und anzuerkennen. Aber wir sehen heute klarer als vielleicht vor vierzig Jahren: Der Nationalsozialismus mit allen seinen Verbrechen wäre nicht möglich gewesen, wenn ihn das Volk nicht zugelassen und wenn es sich ihm – vor allem – nicht selbst ausgeliefert hätte.

Hier gilt es Erfahrungen weiterzugeben, und zwar nicht theoretische Erfahrungen oder auch feingesponnene historische Schuldzuweisungen, sondern ganz allgemeine menschliche Erfahrungen, wie sie jeder machen und daher auch jeder verstehen kann.

Die Täter und die Verantwortlichen von damals, die zum Teil noch unter uns leben, und die beileibe nicht alle die gerechte Strafe ereilt hat, die haben hier nichts weiterzugeben; die sollen schweigen und vor allem ihre Rechtfertigungsversuche sein lassen. Und die, die in jener fürchterlichen Zeit den Verfolgten wirklich geholfen haben, die schweigen meist ohnehin, teils weil sie selbst umgebracht worden sind, teils weil sie zu bescheiden sind, um zu reden; aber gerade deshalb wollen wir sie in dieser Stunde nicht ganz vergessen.

Zu sprechen ist aber von denen, die dazwischen standen, die nichts getan haben als wegschauen, als sich ducken und – vielleicht auch – sich schämen. Denn so würden sich – und nicht nur in Deutschland – auch heute wieder die meisten verhalten – und von diesen, den ganz normalen Durchschnittsmenschen in einem totalitären Staat, ist hier zu sprechen.

Da haben wir Jüngeren, als wir 1945 nachfragten, die verschiedensten Antworten gehört – meist menschlich ganz verständlich, aber doch eben nur verständlich, nicht befriedigend – und meist nur die eine Hälfte der Wahrheit.

„Das habe ich nicht gewollt“, war einer von diesen Sätzen. Richtig, aber das ist eben nur die halbe Wahrheit. Denn der Angriffskrieg und die Vernichtung der Juden waren in Büchern und Reden vorhergesagt worden, und wenn man sich ihre Realisierung natürlich auch nicht vorstellen konnte – hat man sie in den Wahlen, solange sie noch frei waren, vielleicht in Kauf genommen? In Kauf genommen vielleicht deshalb, weil man vor lauter Sorge um die eigene wirtschaftliche Not oder vielleicht auch um das Schicksal des Vaterlandes das Gefühl für die Gefährdung des Nächsten verlernt hatte?

„Das habe ich nicht gewusst“, war ein anderer von diesen Sätzen. Wieder sage ich: Richtig, von den KZ-Gräueln und den Vernichtungslagern haben sicher die meisten nichts gewusst. Aber das andere konnte man in den Zeitungen lesen: dass das Recht vom Nutzen eines Volkes und nicht mehr von der Gerechtigkeit und der Humanität her begriffen wurde, dass Menschen ohne richterlichen Haftbefehl einfach „abgeholt“ werden konnten, dass man einer ganzen Gruppe von Mitbürgern einen Milliardentribut als Kollektivstrafe auferlegte für etwas, was keiner der Betroffenen getan hatte, dass die Staatsangehörigkeit, die man den Juden beließ, nur noch Pflichten enthielt, und die Reichsbürgerschaft, die Rechte bedeutete, ihnen natürlich vorenthalten wurde. Das war alles „nur“ juristischer Formelkram, und wie leicht sind wir heute noch mit diesem Urteil bei der Hand. Aber in Wirklichkeit war es der Rechtsstaat, der hier mit Füßen getreten wurde, und das konnte man wissen, das stand in jeder Zeitung!

Und dann gibt es da noch den Satz: „Aber ich habe doch selber nichts getan“ – und auch der ist für die meisten natürlich richtig. Aber richtig wäre eben auch: „Ich bin feige gewesen, ich habe mich geduckt, ich habe weggeschaut.“ Dass wir uns recht verstehen: Auch darüber sollte man sich nicht erhaben fühlen; denn immerhin geht es ja darum, eine Situation zu bewerten, in der eine falsche Bemerkung schon Freiheit, Gesundheit und Leben kosten konnte, und ich weiß auch, wie viele Menschen aus der Generation unserer Väter sich für diese Haltung bis ans Ende ihres Lebens geschämt haben und immer noch schämen. Wer nie in dieser Lage gewesen ist, der kann auch darüber kein gerechtes Urteil fällen.

Nur: Das alles wäre nicht nötig gewesen, wenn man dem Rattenfänger von Anfang an widerstanden hätte. Da erweist es sich eben, dass der letzte gebräuchliche Satz, den ich hier erwähnen will, immer falsch ist, der Satz vom Anfang der dreißiger Jahre nämlich: „Lasst ihn nur machen, der läuft sich in einem halben Jahr von selber tot.“ Er hat sich nicht totgelaufen, sondern er hat Europa vernichtet – physisch, geistig und moralisch. Viele wollten ihn später beseitigen, aber jeder zu einer anderen Zeit und unter Umständen, in denen eine Koalition seiner Gegner überhaupt nicht mehr möglich war. Ein totalitäres System muss man nicht beseitigen oder sich totlaufen lassen. Man muss es von vornherein bekämpfen, man muss es von vornherein verhindern. Und wenn man das sehenden Auges nicht tut, dann ist man vielleicht nicht Mitschuldiger, aber man ist Mitverursacher, und dann haftet man der Geschichte und den Opfern für den Rest seines Lebens. Und wenn es um die Abfolge der Generationen geht, dann hört diese Haftung auch nicht einfach auf, so wenig die Jüngeren von uns eine wirkliche Schuld tragen.

Die Haftung geht weiter, und sie verlangt von uns beispielsweise, mit aller Wachsamkeit und aller Leidenschaft dafür zu sorgen, dass sich solche Verbrechen zu unseren Lebzeiten nicht wiederholen. Wirklich sicher können wir da erst sein,

wenn andere nicht nur deshalb abgelehnt werden, weil sie anders sind,

wenn der Rechtsstaat auch dort bejaht wird, wo er „nur“ formal ist,

wenn die typisch deutsche Neigung zum Selbstmitleid aufhört, ohne die Hitler nicht möglich gewesen wäre,

wenn die Lust zur Verallgemeinerung aufhört – die Juden, die Deutschen, die Jugend, die Politiker – die immer ins Unrecht führt und die, wie wir heute wissen, bis an die Rampe von Auschwitz führen kann,

wenn endlich begriffen wird, dass die „totale“ Befolgung einer „Idee“ niemals „Idealismus“ ist,

weil auch Ideen letzten Endes immer nur Produkte des Menschen sind und daher vom Irrtum behaftet.

Nur wenn wir das begreifen, können wir von uns sagen, wir hätten unsere Lektion gelernt, und jeder mag sich prüfen, ob er das von sich sagen kann.







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