Ein Zeichen für eine bessere Zukunft Deutschlands
Jutta Limbach
Ein Zeichen für eine bessere Zukunft Deutschlands
Gedenkrede von der Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Jutta Limbach am 20. Juli 1995 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin
An diesem Ort, der Hinrichtungsstätte Plötzensee, ehren wir die Frauen und Männer, die sich gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft erhoben haben und für die Freiheit ihres Gewissens gestorben sind. Der 20. Juli 1944 symbolisiert über das Geschehen dieses Tages hinaus den deutschen Widerstand im Schatten der NS-Diktatur. Er ruft nicht nur die Erinnerung an die Verschwörer wach, die den von Deutschland ausgehenden Krieg und Terror aus eigener Kraft beenden wollten. Der mit diesem Datum verknüpfte Gedenktag soll die Aufmerksamkeit auch auf jene Menschen lenken, die sich – vereinzelt oder vereint – gegen den Missbrauch staatlicher Gewalt während des Dritten Reiches aufgelehnt haben.
So vielfältig wie die Beweggründe waren die Erscheinungsformen des Widerstandes. Die einen handelten aus christlicher, humanistischer und sozialistischer Verantwortung heraus. Wieder andere fühlten sich durch ihren Bürgersinn oder das Ethos ihres Berufs – etwa als Anwalt oder Offizier – zum Handeln verpflichtet. Der Widerstand in den Jahren 1933 bis 1945 war nicht nur Sache einer gesellschaftlichen Elite; wenn auch die Flugblattaktion der „Weißen Rose” und die Umsturzversuche der Männer aus der Politik und dem Militär vorzugsweise das öffentliche Interesse in Anspruch nehmen. Zu denken ist auch an die kleinen Leute aus dem Volke, die zuweilen mit besonderer Feinnervigkeit das heraufkommende Unheil vorausgesehen haben, wie etwa Georg Elser, der 1939 im Münchener Hofbräuhaus einen Anschlag auf Hitler verübt hat.
Nicht nur die Tat dieses Einzelgängers, sondern auch dem im Staatsstreich vom 20. Juli 1944 gipfelnden Widerstand ist lange Zeit der gebotene Respekt versagt geblieben. Noch heute wird darüber geklagt, dass die Opfer des 20. Juli 1944 kaum ein Echo im Herzen unsere Volkes finden (Bodo Scheurig). Das ist umso erstaunlicher, als all diese Aktionen des Aufbegehrens und Sichverweigerns Leuchtzeichen des Gewissens in der dunkelsten Phase der deutschen Geschichte gewesen sind.
Diese Distanz zum deutschen Widerstand mag ähnliche Ursachen haben wie die Sprachlosigkeit der Menschen in den frühen Jahren der Bundesrepublik angesichts der mörderischen Bilanz des NS-Regimes. Jene Teilnahmslosigkeit und Realitätsflucht mag ihren Grund in Schuldgefühlen und einer tiefen Scham gehabt haben. Denn die Akte der Auflehnung – und sei es auch nur eine kleine Hilfe für einen NS-Verfolgten unter erheblichem Risiko gewesen – sind moralische Gegenbilder zu dem angstbeherrschten Opportunismus zu Zeiten der Diktatur. Sie sind beredte Zeugnisse der Abkehr von einer kritiklosen Autoritätsgläubigkeit.
Ein Widerstandskämpfer kann sich des Nachruhms gewiss sein, wenn sein mutiges Aufbegehren von Erfolg gekrönt wird. Im Falle eines Fehlschlags richtet sich die allgemeine Aufmerksamkeit zumeist auf die Gründe des Scheiterns. Gern wird noch grundsätzlicher gefragt, ob nicht der Zeitpunkt für eine erfolgreiche Gegenwehr in den Tagen des Staatsstreiches längst verpasst gewesen sei. – Den Männern des 20. Juli 1944 ist dies widerfahren. Die Politiker unter ihnen haben sich ihre Resignation, die Militärs ihre Selbstentmachtung in den Anfängen des Dritten Reiches vorwerfen lassen müssen (Joachim Fest). Albrecht Haushofer hat diese Schuld zum Thema eines seiner Moabiter Sonette gemacht. Dort schrieb er:
Schuld
Ich trage leicht an dem, was das Gericht
mir an Schuld benennen wird; an Plan und Sorgen.
Verbrecher wär’ ich, hätt’ ich für das Morgen
des Volkes nicht geplant aus eigner Pflicht.
Doch schuldig bin ich anders als ihr denkt,
ich mußte früher meine Pflicht erkennen,
ich mußte schärfer Unheil Unheil nennen –
mein Urteil hab ich viel zu lang gelenkt ...
Ich klage mich in meinem Herzen an:
Ich habe mein Gewissen lang betrogen,
ich hab mich selbst und andere belogen –
ich kannte früh des Jammers ganze Bahn -
ich hab gewarnt – nicht hart genug und klar!
Und heut weiß ich, was ich schuldig war...
Nicht viele der Zeitgenossen Albrecht Haushofers teilten diese Einsicht. Noch nach dem Kriege gab es Stimmen, die jenes Aufbegehren der Frauen und Männer des 20. Juli 1944 als Vaterlandsverrat werteten. Eine Ansicht, die bedingungsloser Autoritätsgläubigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern eines grauenhaften Krieges verrät. Joachim Fest berichtet in seinem Buch „Staatsstreich”, wie viele Menschen in den zehn Monaten seit dem 21. Juli 1944 bis zum Kriegsende ihr Leben verloren haben und wie viele Städte erst in dieser Zeit zerstört worden sind. In dieser kurzen Zeitspanne sind 4,8 Millionen Menschen deutscher Staatsangehörigkeit zu Tode gekommen. Bedenken wir, wie viele Menschen in den Konzentrationslagern überlebt hätten, wenn das Morden in den Gaskammern, das „Vernichten durch Arbeit” am 21. Juli 1944 gestoppt und die Todesmärsche vor den herannahenden Truppen unterblieben wären. Die Gräber der alliierten Soldaten auf deutschem Boden machen uns deutlich, wie viel Leid amerikanischen, englischen, französischen und russischen Eltern, Frauen und Kindern erspart geblieben wäre, hätten die Männer des Aufstandes Erfolg gehabt.
Es ist die besondere Tragik des Widerstandkämpfers, dass er das Risiko sowohl des Irrtums als auch des Scheiterns trägt. Er muss die Folgen der von ihm beabsichtigten Tat bedenken, auf das er das Unheil für das Gemeinwesen nicht noch vergrößert (Thomas von Aquin). Diese Ansicht darf nicht etwa in dem Sinne missverstanden werden, dass die Erfolgsaussicht eine Voraussetzung rechtmäßigen Widerstandes sei.
Der Respekt gilt jedem, der sich der Unmenschlichkeit in Gestalt eines Gesetzes oder Befehls widersetzt hat. Und zwar unabhängig davon, ob die Tat geeignet war, der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in nennenswertem Ausmaß Abbruch zu tun (eine solche Erfolgsaussicht hatte der Bundesgerichtshof zum Kriterium des rechtmäßigen Widerstandes gemacht).
Das moderne Nachdenken über den Widerstand wird von dem Staatsstreich des 20. Juli 1944 geprägt. Darüber gerät fast in Vergessenheit, dass das historisch-literarische Sinnbild des Widerstandsrechts eine zarte Frau ist: nämlich Antigone, die entgegen dem Gebot des Despoten ihren im Kampf gefallenen Bruder begrub. Sie setzte jenem Befehl des Kreon die aller staatlichen Gesetzgebung vorausgehenden Sittengesetze entgegen, die wir heute die unveräußerlichen Menschenrechte nennen. Sophokles spricht in seiner Tragödie von ungeschriebenen Gottgeboten. Seine Antigone setzte mit ihrem Ungehorsam ein moralisches Zeichen, das sie mit dem Leben bezahlte. Welchen Keim des Erfolges barg diese schwesterliche Tat? – Man darf die Rechtmäßigkeit eines Widerstands nicht von dem Erfolg oder dem Gebrauch von Gegengewalt abhängig machen.
Widerstand ist nicht nur Sache einer Elite, die Einfluss hat oder den Hebel der Macht zu bedienen vermag. Auch und gerade unter einer menschenverachtenden Herrschaft kommt es auf das Verhalten der Menschen unten an der Basis an. Auf die Frage „Was ist Widerstand?” hat Adolf Arndt geantwortet, dass alles zum Widerstand wird, wodurch ein Mensch sich dem Verlangen eines Unrechtsregimes auf Gehorsam entzieht. „Wird Staatsmacht ohne Maß so missbraucht, dass sie totalitär nach dem Menschen greift und ihm nichts mehr als eigenes seiner Menschlichkeit zu belassen sucht, ist jede Gebärde der Weigerung und jedes Zeichen der Menschlichkeit Widerstand (so in NJW 1962, 430 f.). Und es kommt nicht darauf an, ob mit der Tat das Unrechtsregime erschüttert wird oder dessen schlimme Folgen in bemerkenswerter Weise abgemildert werden.
Widerstand haben all die Frauen geleistet, die verfolgten Juden, Kriegsgefangenen und Fahnenflüchtigen Hilfe und Unterschlupf gewährten. Emmy Zehden wurde wegen einer solchen Tat zugunsten dreier Bibelforscher vom Reichskriegsgericht zum Tode verurteilt, Marta Husemann in ein Konzentrationslager verbracht – um nur zwei der vielen couragierten Frauen zu nennen. Widerstand leistete auch der Geistliche, der für die Juden und die armen Gefangenen in den Konzentrationslagern beten ließ. Ein Berliner Sondergericht quittierte diese Mahnung an das strikte Gebot der Nächstenliebe mit zwei Jahren Gefängnis. Widerstand leistete auch Pater Franz Reinisch, der wegen der antichristlichen Einstellung des Nationalsozialismus den Deutschen Gruß, den Gestellungsbefehl und Fahneneid verweigerte und deshalb vom Reichskriegsgericht zum Tode verurteilt und mit dem Fallbeil im Jahre 1942 ermordet worden ist. Gewiss ist der mit seiner Weigerung verbundene „Kräfteausfall für die Deutsche Wehrmacht verschwindend gering” gewesen. Aber zynisch wäre es geradezu, wollte man dem Pater deshalb die Ehre eines Widerstandskämpfers streitig machen. Das gleiche gilt für den Offizier im Felde, der durch seine bewusste Säumigkeit bei der Vollstreckung eines Haftbefehls einem Verschwörer des 20. Juli 1944 die Flucht zu den Russen ermöglichte. Dieses kameradschaftliche Verhalten ist vom Reichskriegsgericht mit der Todesstrafe geahndet worden. Auch diese Einzelaktion vermochte an den seinerzeitigen Verhältnissen nichts zu ändern. Sie war gleichwohl ein respektgebietender Ungehorsam gegenüber dem Missbrauch staatlicher Gewalt.
Solch mutiges Verhalten nicht als rechtmäßigen Widerstand zu werten, wäre folgenreich - hätte fatale Folgen: Nicht nur, dass eine solche Geisteshaltung Zivilcourage künftig im Keim erstickte. Sie käme mittelbar einer Billigung jener Unrechtsjustiz gleich, die Akte reiner Menschlichkeit drakonisch bestrafte.
Der Terror des Nationalsozialismus ist eines der schaurigsten Lehrstücke der deutschen Geschichte. Hat er doch gezeigt, dass eine totalitäre Herrschaft nicht nur die Freiheit und Gleichheit zerstört. Mit dem Medium der Angst untergräbt sie planvoll auch die Brüderlichkeit, ja alle grundlegenden menschlichen Tugenden. Ist das ethische Vakuum - die sittliche Leere erst erreicht, erscheint jedes Aufbegehren gegen staatliche Willkür als abweichendes, als kriminelles Verhalten. In einem solchen gesellschaftlichen Ausnahmezustand sind auch Menschen von Rang und Namen ohnmächtig. Die Einsamkeit, der Verlust des Vertrauens und die fehlende gesellschaftliche Rückbindung (in die Bevölkerung hinein) war dann das eigentliche Verhängnis der Verschwörer.
„Früher“, so schrieb Albrecht Haushofer, „mußte ich meine Pflicht erkennen.“ – Das ist das Vermächtnis all jener, die gegen das nationalsozialistische Regime aufbegehrt haben: Der Aufruf zu frühzeitiger und ewiger Wachsamkeit. Dies ist der Preis der Freiheit und einer zivilen Gesellschaft.
Die Garantie der Freiheit, die Machtteilhabe und Gewaltenteilung in unserer Demokratie sind – verfassungsgeschichtlich betrachtet – das Ergebnis eines naturrechtlich begründeten Widerstandsrechts (so treffend Josef Isensee, Das legalisierte Widerstandsrecht, 1969, S. 60. f.). In dem Recht der Wahl und der Abwahl der Staatsorgane, dem Mehrparteiensystem, in dem verbürgten und gerichtlich zu schützenden Grundrechten steckt ein legalisiertes Widerstandsrecht. Die Demokratie ist nicht nur Sache einer politischen Elite, sie richtetet ihren Anspruch auch an den Einzelnen. Kritische Bürgerloyalität ist das Elixier - der Lebensgeist der demokratischen Staatsform und damit das Unterpfand für die unveräußerlichen Menschenrechte. Mit dem stets zu erneuernden Bekenntnis zu diesen Grundwerten zollen wir am besten jenen Frauen und Männern Respekt, die mit Ungehorsam und Gegenwehr dem NS-Regime widerstanden und so ein Zeichen für eine bessere Zukunft Deutschlands setzten.
Ein Zeichen für eine bessere Zukunft Deutschlands
Gedenkrede von der Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Jutta Limbach am 20. Juli 1995 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin
An diesem Ort, der Hinrichtungsstätte Plötzensee, ehren wir die Frauen und Männer, die sich gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft erhoben haben und für die Freiheit ihres Gewissens gestorben sind. Der 20. Juli 1944 symbolisiert über das Geschehen dieses Tages hinaus den deutschen Widerstand im Schatten der NS-Diktatur. Er ruft nicht nur die Erinnerung an die Verschwörer wach, die den von Deutschland ausgehenden Krieg und Terror aus eigener Kraft beenden wollten. Der mit diesem Datum verknüpfte Gedenktag soll die Aufmerksamkeit auch auf jene Menschen lenken, die sich – vereinzelt oder vereint – gegen den Missbrauch staatlicher Gewalt während des Dritten Reiches aufgelehnt haben.
So vielfältig wie die Beweggründe waren die Erscheinungsformen des Widerstandes. Die einen handelten aus christlicher, humanistischer und sozialistischer Verantwortung heraus. Wieder andere fühlten sich durch ihren Bürgersinn oder das Ethos ihres Berufs – etwa als Anwalt oder Offizier – zum Handeln verpflichtet. Der Widerstand in den Jahren 1933 bis 1945 war nicht nur Sache einer gesellschaftlichen Elite; wenn auch die Flugblattaktion der „Weißen Rose” und die Umsturzversuche der Männer aus der Politik und dem Militär vorzugsweise das öffentliche Interesse in Anspruch nehmen. Zu denken ist auch an die kleinen Leute aus dem Volke, die zuweilen mit besonderer Feinnervigkeit das heraufkommende Unheil vorausgesehen haben, wie etwa Georg Elser, der 1939 im Münchener Hofbräuhaus einen Anschlag auf Hitler verübt hat.
Nicht nur die Tat dieses Einzelgängers, sondern auch dem im Staatsstreich vom 20. Juli 1944 gipfelnden Widerstand ist lange Zeit der gebotene Respekt versagt geblieben. Noch heute wird darüber geklagt, dass die Opfer des 20. Juli 1944 kaum ein Echo im Herzen unsere Volkes finden (Bodo Scheurig). Das ist umso erstaunlicher, als all diese Aktionen des Aufbegehrens und Sichverweigerns Leuchtzeichen des Gewissens in der dunkelsten Phase der deutschen Geschichte gewesen sind.
Diese Distanz zum deutschen Widerstand mag ähnliche Ursachen haben wie die Sprachlosigkeit der Menschen in den frühen Jahren der Bundesrepublik angesichts der mörderischen Bilanz des NS-Regimes. Jene Teilnahmslosigkeit und Realitätsflucht mag ihren Grund in Schuldgefühlen und einer tiefen Scham gehabt haben. Denn die Akte der Auflehnung – und sei es auch nur eine kleine Hilfe für einen NS-Verfolgten unter erheblichem Risiko gewesen – sind moralische Gegenbilder zu dem angstbeherrschten Opportunismus zu Zeiten der Diktatur. Sie sind beredte Zeugnisse der Abkehr von einer kritiklosen Autoritätsgläubigkeit.
Ein Widerstandskämpfer kann sich des Nachruhms gewiss sein, wenn sein mutiges Aufbegehren von Erfolg gekrönt wird. Im Falle eines Fehlschlags richtet sich die allgemeine Aufmerksamkeit zumeist auf die Gründe des Scheiterns. Gern wird noch grundsätzlicher gefragt, ob nicht der Zeitpunkt für eine erfolgreiche Gegenwehr in den Tagen des Staatsstreiches längst verpasst gewesen sei. – Den Männern des 20. Juli 1944 ist dies widerfahren. Die Politiker unter ihnen haben sich ihre Resignation, die Militärs ihre Selbstentmachtung in den Anfängen des Dritten Reiches vorwerfen lassen müssen (Joachim Fest). Albrecht Haushofer hat diese Schuld zum Thema eines seiner Moabiter Sonette gemacht. Dort schrieb er:
Schuld
Ich trage leicht an dem, was das Gericht
mir an Schuld benennen wird; an Plan und Sorgen.
Verbrecher wär’ ich, hätt’ ich für das Morgen
des Volkes nicht geplant aus eigner Pflicht.
Doch schuldig bin ich anders als ihr denkt,
ich mußte früher meine Pflicht erkennen,
ich mußte schärfer Unheil Unheil nennen –
mein Urteil hab ich viel zu lang gelenkt ...
Ich klage mich in meinem Herzen an:
Ich habe mein Gewissen lang betrogen,
ich hab mich selbst und andere belogen –
ich kannte früh des Jammers ganze Bahn -
ich hab gewarnt – nicht hart genug und klar!
Und heut weiß ich, was ich schuldig war...
Nicht viele der Zeitgenossen Albrecht Haushofers teilten diese Einsicht. Noch nach dem Kriege gab es Stimmen, die jenes Aufbegehren der Frauen und Männer des 20. Juli 1944 als Vaterlandsverrat werteten. Eine Ansicht, die bedingungsloser Autoritätsgläubigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern eines grauenhaften Krieges verrät. Joachim Fest berichtet in seinem Buch „Staatsstreich”, wie viele Menschen in den zehn Monaten seit dem 21. Juli 1944 bis zum Kriegsende ihr Leben verloren haben und wie viele Städte erst in dieser Zeit zerstört worden sind. In dieser kurzen Zeitspanne sind 4,8 Millionen Menschen deutscher Staatsangehörigkeit zu Tode gekommen. Bedenken wir, wie viele Menschen in den Konzentrationslagern überlebt hätten, wenn das Morden in den Gaskammern, das „Vernichten durch Arbeit” am 21. Juli 1944 gestoppt und die Todesmärsche vor den herannahenden Truppen unterblieben wären. Die Gräber der alliierten Soldaten auf deutschem Boden machen uns deutlich, wie viel Leid amerikanischen, englischen, französischen und russischen Eltern, Frauen und Kindern erspart geblieben wäre, hätten die Männer des Aufstandes Erfolg gehabt.
Es ist die besondere Tragik des Widerstandkämpfers, dass er das Risiko sowohl des Irrtums als auch des Scheiterns trägt. Er muss die Folgen der von ihm beabsichtigten Tat bedenken, auf das er das Unheil für das Gemeinwesen nicht noch vergrößert (Thomas von Aquin). Diese Ansicht darf nicht etwa in dem Sinne missverstanden werden, dass die Erfolgsaussicht eine Voraussetzung rechtmäßigen Widerstandes sei.
Der Respekt gilt jedem, der sich der Unmenschlichkeit in Gestalt eines Gesetzes oder Befehls widersetzt hat. Und zwar unabhängig davon, ob die Tat geeignet war, der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in nennenswertem Ausmaß Abbruch zu tun (eine solche Erfolgsaussicht hatte der Bundesgerichtshof zum Kriterium des rechtmäßigen Widerstandes gemacht
Das moderne Nachdenken über den Widerstand wird von dem Staatsstreich des 20. Juli 1944 geprägt. Darüber gerät fast in Vergessenheit, dass das historisch-literarische Sinnbild des Widerstandsrechts eine zarte Frau ist: nämlich Antigone, die entgegen dem Gebot des Despoten ihren im Kampf gefallenen Bruder begrub. Sie setzte jenem Befehl des Kreon die aller staatlichen Gesetzgebung vorausgehenden Sittengesetze entgegen, die wir heute die unveräußerlichen Menschenrechte nennen. Sophokles spricht in seiner Tragödie von ungeschriebenen Gottgeboten. Seine Antigone setzte mit ihrem Ungehorsam ein moralisches Zeichen, das sie mit dem Leben bezahlte. Welchen Keim des Erfolges barg diese schwesterliche Tat? – Man darf die Rechtmäßigkeit eines Widerstands nicht von dem Erfolg oder dem Gebrauch von Gegengewalt abhängig machen.
Widerstand ist nicht nur Sache einer Elite, die Einfluss hat oder den Hebel der Macht zu bedienen vermag. Auch und gerade unter einer menschenverachtenden Herrschaft kommt es auf das Verhalten der Menschen unten an der Basis an. Auf die Frage „Was ist Widerstand?” hat Adolf Arndt geantwortet, dass alles zum Widerstand wird, wodurch ein Mensch sich dem Verlangen eines Unrechtsregimes auf Gehorsam entzieht. „Wird Staatsmacht ohne Maß so missbraucht, dass sie totalitär nach dem Menschen greift und ihm nichts mehr als eigenes seiner Menschlichkeit zu belassen sucht, ist jede Gebärde der Weigerung und jedes Zeichen der Menschlichkeit Widerstand (so in NJW 1962, 430 f.). Und es kommt nicht darauf an, ob mit der Tat das Unrechtsregime erschüttert wird oder dessen schlimme Folgen in bemerkenswerter Weise abgemildert werden.
Widerstand haben all die Frauen geleistet, die verfolgten Juden, Kriegsgefangenen und Fahnenflüchtigen Hilfe und Unterschlupf gewährten. Emmy Zehden wurde wegen einer solchen Tat zugunsten dreier Bibelforscher vom Reichskriegsgericht zum Tode verurteilt, Marta Husemann in ein Konzentrationslager verbracht – um nur zwei der vielen couragierten Frauen zu nennen. Widerstand leistete auch der Geistliche, der für die Juden und die armen Gefangenen in den Konzentrationslagern beten ließ. Ein Berliner Sondergericht quittierte diese Mahnung an das strikte Gebot der Nächstenliebe mit zwei Jahren Gefängnis. Widerstand leistete auch Pater Franz Reinisch, der wegen der antichristlichen Einstellung des Nationalsozialismus den Deutschen Gruß, den Gestellungsbefehl und Fahneneid verweigerte und deshalb vom Reichskriegsgericht zum Tode verurteilt und mit dem Fallbeil im Jahre 1942 ermordet worden ist. Gewiss ist der mit seiner Weigerung verbundene „Kräfteausfall für die Deutsche Wehrmacht verschwindend gering” gewesen. Aber zynisch wäre es geradezu, wollte man dem Pater deshalb die Ehre eines Widerstandskämpfers streitig machen. Das gleiche gilt für den Offizier im Felde, der durch seine bewusste Säumigkeit bei der Vollstreckung eines Haftbefehls einem Verschwörer des 20. Juli 1944 die Flucht zu den Russen ermöglichte. Dieses kameradschaftliche Verhalten ist vom Reichskriegsgericht mit der Todesstrafe geahndet worden. Auch diese Einzelaktion vermochte an den seinerzeitigen Verhältnissen nichts zu ändern. Sie war gleichwohl ein respektgebietender Ungehorsam gegenüber dem Missbrauch staatlicher Gewalt.
Solch mutiges Verhalten nicht als rechtmäßigen Widerstand zu werten, wäre folgenreich - hätte fatale Folgen: Nicht nur, dass eine solche Geisteshaltung Zivilcourage künftig im Keim erstickte. Sie käme mittelbar einer Billigung jener Unrechtsjustiz gleich, die Akte reiner Menschlichkeit drakonisch bestrafte.
Der Terror des Nationalsozialismus ist eines der schaurigsten Lehrstücke der deutschen Geschichte. Hat er doch gezeigt, dass eine totalitäre Herrschaft nicht nur die Freiheit und Gleichheit zerstört. Mit dem Medium der Angst untergräbt sie planvoll auch die Brüderlichkeit, ja alle grundlegenden menschlichen Tugenden. Ist das ethische Vakuum - die sittliche Leere erst erreicht, erscheint jedes Aufbegehren gegen staatliche Willkür als abweichendes, als kriminelles Verhalten. In einem solchen gesellschaftlichen Ausnahmezustand sind auch Menschen von Rang und Namen ohnmächtig. Die Einsamkeit, der Verlust des Vertrauens und die fehlende gesellschaftliche Rückbindung (in die Bevölkerung hinein) war dann das eigentliche Verhängnis der Verschwörer.
„Früher“, so schrieb Albrecht Haushofer, „mußte ich meine Pflicht erkennen.“ – Das ist das Vermächtnis all jener, die gegen das nationalsozialistische Regime aufbegehrt haben: Der Aufruf zu frühzeitiger und ewiger Wachsamkeit. Dies ist der Preis der Freiheit und einer zivilen Gesellschaft.
Die Garantie der Freiheit, die Machtteilhabe und Gewaltenteilung in unserer Demokratie sind – verfassungsgeschichtlich betrachtet – das Ergebnis eines naturrechtlich begründeten Widerstandsrechts (so treffend Josef Isensee, Das legalisierte Widerstandsrecht, 1969, S. 60. f.). In dem Recht der Wahl und der Abwahl der Staatsorgane, dem Mehrparteiensystem, in dem verbürgten und gerichtlich zu schützenden Grundrechten steckt ein legalisiertes Widerstandsrecht. Die Demokratie ist nicht nur Sache einer politischen Elite, sie richtetet ihren Anspruch auch an den Einzelnen. Kritische Bürgerloyalität ist das Elixier - der Lebensgeist der demokratischen Staatsform und damit das Unterpfand für die unveräußerlichen Menschenrechte. Mit dem stets zu erneuernden Bekenntnis zu diesen Grundwerten zollen wir am besten jenen Frauen und Männern Respekt, die mit Ungehorsam und Gegenwehr dem NS-Regime widerstanden und so ein Zeichen für eine bessere Zukunft Deutschlands setzten.