Exil als Widerstand – Widerstand im Exil

Wolfgang Benz

Exil als Widerstand – Widerstand im Exil

Festvortrag von Prof. Dr. Wolfgang Benz am 20. Juli 1991 im Otto-Braun-Saal der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin

I.

Zum Gedenken an die Eröffnung der deutschen Nationalversammlung fand in der Frankfurter Paulskirche am hundertsten Jahrestag, am 18. Mai 1948, eine Feierstunde statt. Unter dem Geläute aller Glocken der Stadt zogen tausend geladene Gäste – Honoratioren der Stadt, Repräsentanten des keimenden neuen politischen Lebens, Vertreter der Besatzungsmächte, Professoren, Publizisten und andere wichtige Leute – an den Kernplatz der demokratischen Bewegung in Deutschland, in die gerade wieder aufgebaute Paulskirche. Die feierlichste Rede hielt der deutsche Dichter Fritz von Unruh, der zu diesem Anlass aus dem New Yorker Exil nach Deutschland zurückgekehrt war. Von Schwächeanfällen unterbrochen, voll Pathos und Leidenschaft, in ungeheuerer Bewegung, die sich auf das Publikum übertrug, hielt Fritz von Unruh seine „Rede an die Deutschen“.

Der Dichter und Dramatiker, der als preußischer Junker 1914 freiwillig in den Ersten Weltkrieg gezogen, der 1918 als Pazifist heimgekehrt war, der im September 1939 den Soldaten der deutschen Wehrmacht zugerufen hatte „Fallt den Kriegstreibern in die Arme“ – dieser Mann sprach im Mai 1948 in der Paulskirche im Namen der von Hitler ins Exil gejagten deutschen Demokraten und Intellektuellen, die die Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft im Ausland verbracht hatten. Diese politischen Emigranten waren ja die Ersten gewesen, die gegen Hitler und gegen den Nationalsozialismus als Ideologie und drohendes Herrschaftssystem gekämpft hatten, die wegen ihres Widerstandes als demokratische, sozialistische, liberale, konservative Politiker, als Literaten, Künstler, als engagierte Pazifisten oder als exponierte Beamte der Weimarer Demokratie, Deutschland hatten verlassen müssen, um im Exil den Kampf fortzusetzen oder um das Ende der nationalsozialistischen Tyrannei abzuwarten.

Fritz von Unruh erinnerte in der Paulskirche an den zweiten Aufbruch zur Demokratie in Deutschland, erfolgt auf den Trümmern des wilhelminischen Kaiserreichs, motiviert durch das Erlebnis des Ersten Weltkrieges: „So kamen wir heim über die Brücken am Rhein. Und was die Paulskirche 1948 nicht vollbracht hatte, das wollten wir 1918, wir unbekannten Soldaten, nun schaffen: Eine deutsche Republik, in der die Gesamtheit das Leben des Einzelnen garantiert.“

Im politischen Alltag der Republik von Weimar schmolz die Zahl der Gleichgesinnten dann von Jahr zu Jahr dahin, wurde der Kampf – oder kann man ihn schon Widerstand nennen? – gegen Rassismus und Nationalismus, gegen Ideologien einer Diktatur von Rechts oder von Links zur Niederlage. „Umsonst formten wir noch in letzten Stunden gegen den Ausbruch des Nazichaos am 18. Januar 1932 im Sportpalast Berlin eine ‚Eiserne Front’, warnten vor all den kronengeilen Prinzen, vor den Pour-le-mérite- und kriegssüchtigen Generalen samt ihren Gefreiten, diesem Rattenfänger aus Braunau, der über die Grenze kam, um seine Schwindelware vom Bräuhauskeller aus bei uns zu vertreiben. Warnten, weil uns die Ahnung dunklen Endes schon den Atem würgte ... Wir Widersteher mußten entweder außer Landes, oder wurden in Lager verschleppt, oder von seinen SS-Schergen erledigt.“

Für die Emigranten der ersten Stunde, zu denen Unruh gehörte, kamen einsame Jahre, Jahre der Not, voll Zorn und ohnmächtiger Verzweiflung. Den meisten war ein dürftiges Leben in der Emigration beschieden. Ludwig Quidde hauste in sehr bescheidenen Umständen in Genf, der andere große alte Mann der deutschen Friedensbewegung, Hellmuth von Gerlach, fristete in Paris eine keineswegs behagliche Existenz. Ernst Toller zog ruhelos umher, bis er in einem New Yorker Hotel 1939 sechsundvierzigjährig seinem Leben ein Ende setzte. Anderen waren zwar bessere materielle Umstände beschieden, wie dem Grafen Kessler oder Lion Feuchtwanger, die nach Frankreich emigrierten. Aber das war die Ausnahme.

Mit Hilfe des „Gesetzes über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit“ vom Juli 1933 konnte das nationalsozialistische Regime nicht nur Missliebige mit dem Entzug der deutschen Staatsbürgerschaft bestrafen, sondern sie auch ihres Vermögens berauben. 39 000 mal wurde dieses Gesetz gegen Emigranten angewendet, „weil sie durch ein Verhalten, das gegen die Pflicht zur Treue gegen Reich und Volk verstößt, die deutschen Belange geschädigt haben“. Die Proskriptionslisten mit den Namen der Ausgebürgerten wurden im Deutschen Reichsanzeiger und im Reichssteuerblatt veröffentlicht, außerdem verschickte das Auswärtige Amt Verzeichnisse an alle deutschen Botschaften und Konsulate. Auf der ersten Ausbürgerungsliste, veröffentlicht am 1. September 1933, finden sich die Namen Rudolf Breitscheid, Friedrich Wilhelm Foerster, Kurt R. Grossmann, Albert Grzesinski, Emil Gumbel, Heinrich Mann, Ernst Toller, Bertold Jacob, Kurt Tucholsky, Lion Feuchtwanger, Philipp Scheidemann, Friedrich Stampfer, Otto Wels, Georg Bernhard, Alfred Kerr, Leopold Schwarzschild. Die weiteren Listen ergänzen sich zu einem fast vollständigen „Who is Who“ der demokratisch-republikanischen Prominenz aus Literatur, Politik, Wissenschaft und Publizistik.

„Die deutsche Emigration war eine Art Mikrokosmos des deutschen Volkes. In ihr repräsentierte sich die ganze Dutzendspältigkeit der inneren Mannigfaltigkeit und Zerrissenheit: Sozialdemokraten und Kommunisten, Katholiken und Protestanten, Juden und Bibelforscher, Reformisten und Revolutionäre, Gemäßigte und Radikale, Konservative und Liberale, Demokraten und Monarchisten, Bürger und Aristokraten, Kapitalisten und Proletarier – der babylonische Wirrwarr der rund drei Dutzend deutscher Parteien war so ziemlich restlos vertreten. Wir waren die kleinen verlorenen Haufen des in alle Welt zersprengten deutschen Widerstandes, manchmal der verzweifelnden Mutlosigkeit näher als dem siegesgewissen Optimismus. Wo hätten wir ihn auch hernehmen sollen in der Enttäuschung an Enttäuschung fügenden Kapitulation des Opportunismus vor Hitlers Gewalt in aller Welt?“

Heinz Kühn, im Kampf gegen die Machtübernahme Hitlers exponiert als Jungsozialist und Angehöriger des „Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold“, beschrieb auch Status und Selbstgefühl der politischen Emigration: „Für sie gab es nicht das Untertauchen in die schützende Anonymität einer neugewonnenen Gemeinschaft. Sie wollte ja auch nicht, auf Selbstrettung bedacht, anonym untertauchen, sondern im Gegenteil sich sichtbar machen in ihrer Gesinnung, Banner entrollen gegen Hitler, Sprachrohr sein für das andere, das bessere, das in der Heimat mundtot gemachte Deutschland.“

Aber die politische Exilbewegung war in doppelter Hinsicht einsam, fühlte sich im Stich gelassen durch die wachsende Akklamation, die Hitler wegen seiner Erfolge in Deutschland erfuhr und wegen der Reputation, die sein Regime im Ausland in immer stärkerem Maße gewann: „Diese Emigranten waren vom nährenden Boden der Heimatsprache losgelöst, in das Vakuum der Heimatlosigkeit geworfen, und dennoch zum Widerstand bereit, ohne dass sie damit rechnen konnten, im Ausland viel Hilfe zu finden. Im Gegenteil: nie in der Geschichte ist eine politische Widerstandsbewegung im Ausland so sehr im Stich gelassen worden wie die deutsche Exilbewegung.“

II.

Die Möglichkeiten einer deutschen politischen Widerstandsbewegung im Ausland waren also begrenzt. Dafür sorgten nicht nur die Exilländer mit Restriktionen der politischen Betätigung, auch die Fortdauer der weltanschaulichen Differenzen in Parteien und Gruppen hemmte die Wirksamkeit des Exilwiderstands. In den Gruppierungen und Organisationen des Exils lebte die Parteienlandschaft der Weimarer Republik weiter, an den Konstellationen und Positionen änderte sich kaum etwas. SPD und KPD fanden im Exil zu keiner Volksfrontbewegung zusammen, die linken Splitterparteien und die diversen Richtungen der Gewerkschaften führten ihr Eigenleben weiter, ebenso die bürgerlich-demokratischen oder konservativ-christlichen Organisationen wie die „Deutsche Freiheitspartei“.

Widerstand gegen Hitler und das nationalsozialistische Regime vom Ausland aus konnte in den Jahren 1933 bis 1938/39 nur darin bestehen, die Weltöffentlichkeit und die Deutschen aufzuklären über den wirklichen Charakter und die Ziele des Regimes, zu warnen, zu beschwören, zu mahnen. Das geschah in Zeitungen wie dem „Pariser Tagblatt“ bzw. der „Pariser Tageszeitung“ (1933 bis 1940), der „Deutschen Freiheit“ (Saarbrücken 1933 bis 1935) oder dem Londoner Blatt „Die Zeitung“ und in den Wochenschriften wie dem „Neuen Vorwärts“, dem „Gegenangriff“, dem „Neuen Tage-Buch“, der „Neuen Weltbühne“, der „Zukunft“ und vielen anderen. Dazu kam eine Fülle von kulturpolitischen, literarischen Zeitschriften, erwähnt seien nur „Die Sammlung“, die ab Herbst 1933 in Amsterdam publiziert wurde, „Maß und Wert“ ab Herbst 1937 in Zürich, die „Neuen Deutschen Blätter“ ab September 1933 in Prag, „Das Wort“ (ab Juli 1936 in Moskau) oder „Orient“ (1942 bis 1943 in Haifa).

Der politischen und literarischen Publizistik des Exils dienten auch die heute legendären Verlage Bergmann-Fischer in Stockholm, Querido in Amsterdam, Oprecht in Zürich, Malik und andere. Was heute freilich von einer spät in Gang gekommenen Exilforschung als literarische, kulturelle, humanitäre Leistung gefeiert wird, hatte damals nur bescheidene Wirkungen: Der größere Teil der Welt und die Deutschen waren von Hitler fasziniert und wenig interessiert an Aufklärung über die Verbrechen des Regimes, an Informationen über den Terror und das System der Konzentrationslager, an der beginnenden Verfolgung der Juden, an den räuberischen Absichten gegenüber Nachbarstaaten des Deutschen Reiches.

Das politische Exil befand sich in einer ähnlichen Lage wie der Widerstand in Deutschland, den vor dem Zweiten Weltkrieg vor allem die Reste der Arbeiterbewegung trugen. In den ersten Jahren, vor allem als das Saargebiet noch nicht zum Herrschaftsbereich Hitlers gehörte, gab es noch mehr Informationen und Kontakte zwischen draußen und drinnen, Kuriere brachten Flugblätter nach Deutschland und schleusten Gefährdete ins Ausland. Aber das hörte nach einiger Zeit fast ganz auf. Als der Nationalsozialismus in seine scheinbar friedliche Phase eingetreten war, in den Jahren 1935 bis 1938, brachen die Kontakte zwischen Heimat und Exil so ziemlich ab. Die Emigranten blieben mit ihrer „Offensive der Wahrheit“, mit ihren Versuchen, der Welt die Augen zu öffnen, allein. Dass sie sich als das andere und bessere Deutschland verstanden, blieb ihnen aber unverwehrt, und in dieser Existenz hat ihnen die Geschichte Recht gegeben.

Mit der Zerstörung der Tschechoslowakei, mit dem Krieg gegen Polen und die Westmächte, mit dem Überfall auf die Sowjetunion und der Kriegserklärung an die USA schließlich änderten sich der Stellenwert des Exils und die Möglichkeiten des Widerstandes von außen. Nun gab es die Möglichkeit, an der alliierten Kriegsführung teilzunehmen, mit militärischen Waffen oder mit denen der Propaganda. Von beiden Möglichkeiten haben die Emigranten keinen großen Gebrauch gemacht. Trotzdem sahen sie sich dann von vielen im Nachkriegsdeutschland pauschal, wenn nicht als Verräter, so doch als vaterlandslose Gesellen in fremder Uniform, diffamiert. Dabei war es Patriotismus, wenn sich das politische Exil gegen Hitlerdeutschland engagierte, es waren aber auch patriotische Gefühle, die viele vom aktiven Kampf abhielten.

Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hätte es wohl auch eine weitere Möglichkeit des Widerstandes gegeben, nämlich die Konstituierung einer Exilregierung. Sicherlich hätte sie, wo auch immer etabliert, nicht die gleiche Legitimation gehabt wie sie die Exilregierungen der von Deutschland überfallenen Nationen hatten, also die tschechoslowakische, die polnische, die norwegische, die luxemburgische, die belgische, die niederländische, die jugoslawische und die griechische Exilregierung oder der „Rat der freien Dänen“ und die französische Résistance unter de Gaulle, die zuletzt alle in London residierten.

Aber eine wie auch immer zustande gekommene „Exilregierung“ aus deutschen Gegnern des nationalsozialistischen Regimes hätte eine moralische Instanz dargestellt, die für das Nachkriegsgeschick der Deutschen vielleicht von Relevanz gewesen wäre. Es hat Ansätze zu einer deutschen Exilregierung gegeben. Heinrich Brüning, der letzte auf demokratische Weise ins Amt gekommene Reichskanzler, hätte an ihrer Spitze stehen sollen. Männer wie Arnold Brecht und Max Brauer waren für wichtige Ämter vorgesehen, aber sie verweigerten sich. Heinrich Brüning begründete es im November 1943 gegenüber dem früheren Reichstagsabgeordneten Rudolf Katz: „Aus all meiner Erfahrung in der Vergangenheit, auch in den anderthalb Jahren, die ich unter dem Naziregime verlebte, habe ich geschlossen, daß es nicht so einfach ist, das Regime zu stürzen, wie Ausländer häufig annehmen. Die Proklamation einer ‚Regierung’ im Ausland würde der Nazimaschine die Gelegenheit verschaffen, die Menschen zu beseitigen, die für die Zukunft Deutschlands wirklich wertvoll sein können, und die jetzt seit über zehn Jahren Verfolgung, Armut und entsetzliche geistige Belastungen ausgehalten haben. Ich kann mir vorstellen, daß Hitler, Göring und Himmler, ehe sie abtreten, auf jeden Fall versuchen werden, eine zweite Bartholomäusnacht zu veranstalten. Das zu verhindern, war für meine ganze Haltung in den Jahren meines Exils bestimmend.“

Arnold Brecht begründete seine Absage ganz ähnlich, auch sei es ihm im tiefsten Herzen zuwider gewesen, „vom sicheren amerikanischen Hafen aus Heldentaten des Märtyrertums von denen zu fordern, die in Deutschland der furchtbaren Realität brutalen Terrors ausgesetzt waren“. Er hat aber hinzugefügt: „Später ist mir zweifelhaft geworden, ob meine Ablehnung richtig war. Eine Exilregierung hätte vielleicht die halb-offizielle Sammelstelle für Verhandlungen mit den alliierten Regierungen während des Krieges werden und dahin wirken können, daß die Alliierten für den Fall eines inneren Umsturzes dem deutschen Volke günstigere Friedensbedingungen zusagten.“

III.

Die wichtigste Aktivität des Exilwiderstandes bestand, neben dem publizistischen Kampf gegen das NS-Regime, im Nachdenken über eine künftige Ordnung. Die ersten Programmschriften zum staatlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Neubau Deutschlands nach Hitler entstanden im Exil. Der wohl früheste Text, das „Prager Manifest der SOPADE“, wurde im Januar 1934 vom sozialdemokratischen Exilvorstand in Prag als Ergebnis langer Debatten und mehrerer Entwürfe verabschiedet. Das „Prager Manifest“ verstand die Hitlerdiktatur als Sieg der Gegenrevolution, der durch neuen revolutionären Kampf überwunden werden müsse, quasi um die Ausgangsposition von 1918 wiederherzustellen. Die Wiedereroberung demokratischer Rechte werde „zur Notwendigkeit, um die Arbeiterbewegung als Massenbewegung wieder möglich zu machen und den sozialistischen Befreiungskampf wieder als bewußte Bewegung der Massen selbst zu führen“. Der „Kampf um die Demokratie“ erweiterte sich zum „Kampf um die völlige Niederringung der nationalsozialistischen Staatsmacht“.

Das Pathos der Verzweiflung bestimmte die Sprache des Prager Manifests, wenn es etwa hieß: „Die Niederwerfung des nationalsozialistischen Feindes durch die revolutionären Massen schafft eine starke revolutionäre Regierung, getragen von der revolutionären Massenpartei der Arbeiterschaft, die sie kontrolliert.“ Die litaneimäßige Beschwörung der Revolution war wohl auch als Schmerzlinderungsmittel verordnet für die Wunden, die die widerstandslose Zerschlagung der organisierten Arbeiterbewegung den Sozialdemokraten und Gewerkschaften geschlagen hatte. Aber die SPD-Führer im Exil hatten auch, über die Sofortmaßnahmen nach einem Sieg über den Nationalsozialismus hinaus, die Vision eines demokratischen Staats und einer sozialistischen Gesellschaft. Dazu sollten der alte politische Apparat zerschlagen und die Eliten in Bürokratie, Justiz, Polizei und Militär ausgetauscht, die Trennung von Kirche und Staat durchgeführt werden. Als Bedingung des revolutionären Wandels schien die sofortige entschädigungslose Enteignung des Großgrundbesitzes und der Schwerindustrie und die Sozialisierung der Großbanken unerlässlich. Das Zauberwort „Selbstverwaltung“ findet sich auch im Prager Manifest: „Das despotische System der zentralisierten Staatsvollmacht wird durch die Herstellung einer echten freiheitlichen Selbstverwaltung innerhalb des gegliederten Einheitsstaats gebrochen.“ Die erstrebte Sozialisierung der gesamten Wirtschaft würde dann das „Mittel zum Endziel der Verwirklichung wahrer Freiheit und Gleichheit, der Menschenwürde und voller Entfaltung der Persönlichkeit“ sein.

Das Ideal schließlich würde, je mehr der Obrigkeitsstaat durch die Selbstverwaltung ersetzt wäre, in der Überwindung des Gegensatzes zwischen Staat und Gesellschaft erreicht: „An die Stelle des Machtstaates, der durch Militär, Bürokratie und Justiz seine Untertanen beherrscht, tritt die Selbstverwaltung der Gesellschaft, in der jeder zur Mitwirkung an den allgemeinen Aufgaben berufen ist.“

Anders als beim Goerdeler-Kreis, wo mit dem Begriff „Selbstverwaltung“ in erster Linie die Kompetenzen des preußischen Landrats gemeint waren, assoziierten die Sozialdemokraten damit Elemente direkter Demokratie. Das Prager Manifest schloss mit dem flammenden Aufruf an die deutsche Arbeiterschaft, die Ketten der Knechtschaft abzuschütteln.

Die Illusion, dass sich das deutsche Volk aus eigener Kraft von der NS-Herrschaft befreien könne, verflog unter den Emigranten bis in die letzten Kriegsjahre hinein nicht vollständig. In New York trafen sich Anfang Juli 1943 deutschsprachige Sozialdemokraten und Gewerkschafter zu einer Konferenz. Als Veranstalter zeichnete der deutschsprechende Zweig der „Social Democratic Federation of America“, die „German Labor Delegation in U.S.A.“ und die New Yorker „Neue Volkszeitung“. Einige Prominenz der deutschen Arbeiterbewegung war versammelt, wie Siegfried Aufhäuser, Hedwig Wachenheim, Friedrich Stampfer und Max Brauer. Unter den Resolutionen, die nach zweitägiger Beratung verabschiedet wurden, war eine dem künftigen Staatsaufbau Deutschlands gewidmet. Darin wurde der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass „die allgemeine Kriegslage zu einer Revolution in Deutschland führen möge, noch ehe ein Soldat der Alliierten Mächte deutschen Boden betreten hat“. Die Konferenz, so hieß es weiter, würde in dieser Revolution „den vom deutschen Volke selbst ausgesprochenen und Tat gewordenen Willen zur Freiheit erblicken, dem die Welt ihre Achtung nicht versagen dürfe“.

Aber viel Hoffnung auf einen befreienden revolutionären Akt hatten die Emigranten in New York nicht, denn sie fuhren fort: „Sollte der Zusammenbruch des Naziregimes nur allmählich, jeweils mit dem Vordringen der alliierten Heere vor sich gehen, so spricht die Konferenz den Wunsch aus, dass bei der dann eintretenden Okkupation die militärischen Befehlshaber bereit sein werden, den demokratischen Kräften Gelegenheit und Hilfe zur Liquidierung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und zu wirkungsvollem Aufbau eines neuen Deutschland möglichst früh durch Wiedereinführung normaler Formen demokratischen Lebens in Angriff genommen werden könne. Sie empfiehlt zur Sicherung der künftigen Demokratie und zur Erhaltung des Weltfriedens die politische Demokratie der Zweiten Republik durch wirtschaftlich demokratische Maßnahmen zu festigen und den Bestand der Verfassung durch die Garantie einer überstaatlichen Organisation sicherzustellen.“

Das Referat über die staatliche Neugestaltung Deutschlands hatte bei dieser Konferenz der frühere preußische Innenminister Albert Grzesinski gehalten. Seine Rede war eine Verteidigung der Weimarer Reichsverfassung von 1919 und ein Plädoyer für ihre Wiederinkraftsetzung. Grzesinski dachte freilich an einige Modifikationen wie die Heraufsetzung des Wahlalters, die Verbesserung des Wahlsystems, der Präsident sollte nicht mehr plebiszitär gewählt werden, die Kompetenzen des Reichs wollte er u.a. auf dem Gebiet des Erziehungswesens, der Polizei, der Justiz ausdehnen und die Verwaltungsexekutive den Ländern nehmen. Das waren für den Weimaraner und Sozialdemokraten Grzesinski selbstverständliche Konsequenzen und Nutzanwendungen zu einer verbesserten Neuauflage der demokratischsten Verfassung der Welt.

Ein Jahr zuvor, 1942, hatte im brasilianischen Exil der ehemalige Reichsminister Erich Koch-Weser, einer der linksliberalen Verfassungsväter von Weimar, den „Entwurf einer Deutschen Reichsverfassung nach Hitlers Sturz“ fertig gestellt. Koch-Weser zog zum Teil die gleichen Schlüsse aus dem Scheitern der Weimarer Republik wie Grzesinski, wenn er die Regierung gegenüber Misstrauensvoten des Parlaments stärken und wenn er den Ländern Kompetenzen entziehen wollte. Anders als der Sozialdemokrat Grzesinski hielt Koch-Weser aber am plebiszitär gewählten Staatsoberhaupt als der Spitze einer starken Exekutive fest, und – das war ein typischer Reflex auf den Untergang der Weimarer Republik – Koch-Weser suchte die eher konservative Lösung der Stärkung der Exekutive einschließlich eines formulierten Notstandsrechts anstelle der verfassungsrechtlichen Fixierung des Instrumentariums der Massendemokratie, der politischen Parteien.

Im Schweizer Exil hatte sich eine Gruppe deutscher Politiker getroffen, die unter dem Namen „Das Demokratische Deutschland“ eine Arbeitsgemeinschaft bildeten: Der Sozialdemokrat und spätere bayrische Ministerpräsident Wilhelm Hoegner, sein Parteifreund, der legendäre frühere preußische Ministerpräsident Otto Braun und der ehemalige Reichskanzler Josef Wirth vom Zentrum waren die Köpfe der Gruppe. Im Mai 1945, schon an der Schwelle zur Nachkriegszeit, veröffentlichten sie eine Broschüre mit dem Titel: „Grundsätze und Richtlinien für den deutschen Wiederaufbau im demokratischen, republikanischen, föderalistischen und genossenschaftlichen Sinne“. Diese Grundsätze sind ein signifikantes und singuläres Beispiel für die Adaption politischer Ideen des Exillandes.

In kraftvoller Sprache und mit Pathos wurde ein deutscher Bundesstaat im Mittelpunkt einer europäischen Föderation propagiert. Kategorisch abgelehnt wurden die Auflösung der nationalen Einheit und jede Verletzung der territorialen Integrität Deutschlands durch Gebietsverluste im Osten wie durch Gründung katholischer Separatstaaten im Süden oder im Westen. Statt eines Reichspräsidenten sollte der deutsche Bundesstaat eine kollegiale Bundesregierung mit jährlich wechselndem Vorsitz haben. Wirtschaftspolitisch wurden rigorose Enteignungen des Großgrundbesitzes, aber der Erhalt des vererbbaren Privateigentums und genossenschaftliche Produktionsformen in der Landwirtschaft, im Gewerbe und in der zu dezentralisierenden Industrie propagiert. Die besonders zu fördernde Familienpolitik schloss die Forderung nach Einfamilienhäusern beim Wiederaufbau ein.

Den Grundsätzen war ein Aufruf vorangestellt, in dem der Gedanke einer Kollektivschuld der Deutschen zurückgewiesen wurde: Das ganze deutsche Volk für alle seit 1933 begangenen Untaten verantwortlich machen zu wollen sei reine Rachsucht: „Gerecht ist schließlich doch auch die Einsicht, daß das gegenwärtige furchtbare Weltunglück nicht nur von seinen unmittelbaren Urhebern, sondern auch durch blinde Duldung des Unrechts mitverschuldet worden ist.“

Die ausdrückliche Zurückweisung der Kollektivschuld-These war übrigens häufiger Bestandteil von Überlegungen, die im Exil publiziert worden sind, und indirekt basierte sogar der Aufruf des Nationalkomitees Freies Deutschland an die Wehrmacht und an das deutsche Volk, der hier wenigstens erwähnt werden soll, darauf, ja darüber hinaus wurde darin in Aussicht gestellt, dass die Selbstbefreiung der Deutschen vom Nationalsozialismus honoriert würde. Das Ziel heiße „Freies Deutschland“, hatten die Kriegsgefangenen der bei Stalingrad vernichteten 6. Armee in Krasnogorsk bei Moskau im Juli 1943 geschrieben, und das bedeute: „Eine starke demokratische Staatsmacht, die nichts gemein hat mit der Ohnmacht des Weimarer Regimes, eine Demokratie, die jeden Versuch des Wiederauflebens von Verschwörern gegen die Freiheitsrechte des Volkes oder gegen den Frieden Europas rücksichtslos schon im Keime erstickt. Restlose Beseitigung aller auf Völker- und Rassenhass beruhenden Gesetze, aller unser Volk entehrenden Einrichtungen des Hitlerregimes, Aufhebung aller gegen die Freiheit und Menschenwürde gerichteten Zwangsgesetze der Hitlerzeit. Wiederherstellung und Erweiterung der politischen Rechte und sozialen Errungenschaften der Schaffenden, Freiheit des Wortes, der Presse, der Organisation, des Gewissens und der Religion.“

Das späteste Dokument des demokratisch-sozialistischen Exils, die „Richtlinien für eine deutsche Staatsverfassung“, wurde von der Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien Ende November 1945 in London veröffentlicht. In der Präambel hieß es: „Die Achtung und der Schutz der Freiheit und der Würde der Persönlichkeit sind die unveräußerlichen Grundlagen des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens der deutschen Republik.“

Dementsprechend hatten die Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit, kultureller und ökumenischer Gleichberechtigung, Humanität und Frieden, Völkerverständigung und internationaler Organisation hohen Stellenwert. Das erklärt sich auch aus der Entstehungsgeschichte der „Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien“. In der Organisation trafen unterschiedliche Strömungen des demokratischen Sozialismus aufeinander. Im März 1941 hatte in Großbritannien die Exil-SPD (der unter dem Namen SOPADE firmierende Rest des Parteivorstands der 1933 emigrierten SPD) mit drei links von der SPD stehenden politischen Gruppierungen ein gemeinsames Dach errichtet.

Die revolutionär-voluntaristische Gruppe „Neubeginnen“, die „Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAP)“ und der „Internationale Kampfbund (IKS)“ waren in die Partnerschaft zur Exil-SPD, gegen die sie einst opponiert hatten, eingetreten. Ziel der Gründung der Union war die gemeinsame Repräsentanz aller demokratisch-sozialistischer (das heißt nichtkommunistischer) deutscher Emigranten und die Diskussion und Veröffentlichung eines Bauplans zum demokratischen Wiederaufbau Deutschlands. Wegen der unterschiedlichen ideologischen Positionen innerhalb der Union kam es erst 1944 zum Kompromiss in den entscheidenden Punkten und zur Ausarbeitung programmatischer Richtlinien zur Wirtschaftspolitik, zur Staatsverfassung, zum Aufbau von Verwaltung und Justiz, zur Kulturpolitik und zum Erziehungswesen. Diese Diskussionen im Exil wurden parallel zu den Erörterungen im Goerdeler-Kreis und zu den Debatten in Kreisau geführt. Parallel heißt in diesem Zusammenhang vor allem: gleichzeitig, ohne dass sich innere oder äußere Berührungspunkte ergeben haben.

IV.

Ernst Reuter, bis 1933 Oberbürgermeister von Magdeburg, nach zweimaliger KZ-Haft und Emigration Professor für Kommunalwissenschaft in Ankara, schrieb im März 1943 einen Brief an Thomas Mann, den in Kalifornien lebenden deutschen Schriftsteller. Thomas Mann sollte, das war die Idee, in einem feierlichen Appell an alle Deutschen Antwort geben auf die verzweifelte Frage, „wie nach dem Sturze der verhaßten Peiniger eine neue bessere Welt aufgebaut werden könnte ... Auf diese Frage muß eine Antwort gegeben werden, wenn der Absprung dem deutschen Volke und auch denen, die technisch ihn vielleicht in gegebener Zeit herbeiführen könnten, ermöglicht werden soll.“

An diesen Appell der Sammlung dachte Ernst Reuter, es hätte ein Brückenschlag zwischen dem Widerstand des Exils und den Kräften des Widerstands in Deutschland sein sollen.

Thomas Mann hatte in seinen Radiosendungen die „Deutschen Hörer“ seit 1940 immer wieder beschworen, der Welt ein Zeichen der Abkehr von Hitler zu geben, um für die Zeit nach dem Zusammenbruch seines Regimes nicht mit leeren Händen dazustehen. Im Sommer 1943, als Thomas Mann den Brief Ernst Reuters erhielt, war er nicht mehr zu solch einem Appell bereit: „Ich war immer der Meinung, daß diese führenden Kräfte aus dem Inneren Deutschlands kommen müssen, und habe über die Rolle, die wir Emigranten dabei zu spielen haben, immer recht bescheiden gedacht ... Es kommt aber etwas anderes hinzu. Ich zweifle nicht, daß sich unter der deutschen Emigration eine Anzahl von Namen finden ließe, die danach angetan wären, das Vertrauen des angeredeten deutschen Volkes zu erwecken ... Mit welcher Autorität aber außerdem können wir zum deutschen Volke sprechen? Doch nur mit unserer allerpersönlichsten, denn wir haben nichts hinter uns, wir sprechen nicht im Einverständnis mit den Regierungen der Länder, in denen wir leben, wir haben keinerlei Sicherheit über ihre Absichten, sondern zuweilen nur böse Ahnungen über diese Absichten. Den Deutschen irgendwelche Zusicherungen zu machen, sind wir einfach nicht in der Lage. Täten wir es, so bestünde die Gefahr einer schweren Desavouierung, und so scheint mir für eine solche Kundgebung, feierlich wie sie gedacht ist, der rechte Grund und Boden zu fehlen.“

In diesem Briefwechsel spiegelt sich das ganze Dilemma von Exil und Widerstand: die Zersplitterung der Kräfte, die Resignation der Hitlergegner in der Emigration, der mangelnde Kontakt zwischen innerem und äußeren Widerstand, das geringe Vertrauen in die Regenerationskraft der schweigenden Mehrheit in Deutschland. Trotzdem bewahrten die Frauen und Männer des Widerstands, die Regimegegner in Deutschland wie die im Exil, den erheblichen Teil der moralischen Integrität auf deutscher Seite, der nach dem Zusammensturz des nationalsozialistischen Regimes das Kapital für den inneren Wiederaufbau bildete.