Fanal im Dunklen

Hans Rothfels

Fanal im Dunklen

Gedenkrede von Prof. Dr. Hans Rothfels am 20. Juli 1962 im Ehrenhof des Bendlerblocks in der Stauffenbergstraße, Berlin

Wenn mit echtem Sinn für das Symbolhafte des Ortes und des Ereignisses seit Jahren nun schon an diesem Tag und vor diesem Ehrenmal die Gedenkstunde begangen wird, zu der Angehörige, Freunde und Überlebende derer vom 20. Juli mit Vertretern der Bundesregierung, der Stadt Berlin und der Wehrmacht sich zusammenfinden, so kann und darf und wird diese Regelmäßigkeit in keiner Weise das Grundempfinden und das elementare Bewusstsein abstumpfen, das uns alle bewegt: Das Bewusstsein der Lücke, so tief schmerzlich in den persönlichsten Bereichen, aber ebenso einschneidend in denen des öffentlichen Lebens und zugleich – untrennbar damit verbunden – das Empfinden ehrfürchtigen Dankes dafür, dass es in dunkelsten Stunden Männer und Frauen gab, die bereit waren, nur der Stimme des Gewissens zu folgen und mit Einsatz ihres Lebens dem Unrecht zu widerstehen.

Bei der Enthüllung einer Gedenktafel in der deutschen Botschaft in London, mit der im vorigen Jahr drei ehemalige Angehörige, die zur Widerstandsgruppe der Wilhelmstraße gehört haben, geehrt wurden, hat der Engländer Sir Harold Nicolson von dem Mut gesprochen, der „fackelgleich durch die Finsternis und den Propagandanebel strahlt“. Ein solches Fanal im Dunklen ist für uns der 20. Juli. In ihm offenbarte sich am deutlichsten und sinnfälligsten das „andere Deutschland“, das kein Privileg einer Partei, einer Klasse, einer Berufsgruppe ist, das hinter der nationalsozialistischen Fassade in allen Schichten des deutschen Volkes lebendig war, in vielfachem Martyrium bezeugt, lange vor wie nach dem 20. Juli, aber in der Tat von Stauffenberg erst recht sichtbar werdend, auch vor den Augen einer noch lange ungläubig bleibenden Welt.

Dass es den Verschworenen nicht zum wenigsten um diesen Nachweis oder wesentlicher gefasst, um die Reinigung des deutschen Namens, der für so Furchtbares missbraucht worden war, ging, braucht nicht in die Ereignisse hinein- oder aus ihnen herausgelesen zu werden. Es sei an die Worte des Staatssekretärs Erwin Planck erinnert: „Das Attentat muss versucht werden, allein schon um der moralischen Rehabilitierung Deutschlands willen.“ Auch einer der aktivsten unter den Militärs, der General von Tresckow, hat sich einige Tage vor dem 20. Juli mit aller Deutlichkeit zu dieser Sicht bekannt: „Das Attentat auf Hitler muss erfolgen um jeden Preis. Sollte es nicht gelingen, so muss trotzdem der Staatsstreich versucht werden. Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, dass die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und der Geschichte unter Einsatz des Lebens den entscheidenden Wurf gewagt hat.“

Vor solchen Zeugnissen der Unbedingtheit, was immer die Chancen sein mochten, muss das Geraune um das Vergebliche eines Versuchs verstummen, dem der Erfolg versagt blieb, erweist überhaupt die Kategorie des Erfolges sich als unzureichend und kurzschlüssig. Die Frage, warum alle Anschläge, unter denen der 20. Juli ja nur der letzte in einer Reihe ist, scheiterten, warum eine Summe trivialer Zufälle sich ihnen in den Weg legte, führt ins Spekulative und Theologische. Nicht wenige mochten darin – in sehr anderem Sinne als Hitler – die Hand der Vorsehung erblicken, der zufolge das Übel ausbrennen sollte und nicht durch Menschenhand abgewendet werden konnte. Es gibt auch dafür bewegende Zeugnisse. Sie belegen im Grunde erst recht, aus welcher inneren Notwendigkeit der Gewissensentscheidung, aus welcher Tiefe der seelischen Substanz heraus gehandelt wurde, weit über die Erwägungen des Möglichen und Erreichbaren hinaus.

Damit sei nicht gesagt, dass es Stauffenberg und seinen Verbündeten an handgreiflichen Nahzielen nationaler und verpflichtender Art gefehlt hätte. Es ging um den Sturz eines Regimes, unter dem ein menschenwürdiges Leben und mit dem Frieden nicht möglich war, um Beendigung des Krieges vor dem vollen Weißbluten und ehe das Chaos hereinbrach, um die Erhaltung des Vaterlandes mindestens in den Grenzen von 1933. Versuche, darüber bei den westlichen Alliierten Sicherheit zu erlangen, waren gleichfalls vergeblich. Aber das konnte Männer von hohem sittlichen Verantwortungsbewusstsein nicht aus der Aufgabe entlassen, gegen eine Führung vorzugehen, die in den eigenen Untergang ein ganzes Volk mit herabzureißen gedachte. Gewiss waren die zum Widerstand Entschlossenen in Heimatstäben wie in leitenden Kommandostellen die Letzten, der opferreichen Kameradschaftsgesinnung und der Härte der Pflichterfüllung, wie sie an der Front geübt wurde, die Achtung zu versagen, die ihr gebührt. Aber sie selbst mussten eine schwerere Pflicht auf sich nehmen, die um der Erhaltung von Leib und Seele des eigenen Volkes willen zum Durchbruch durch traditionelle Loyalitäten zwang und den Vorwurf von Hochverrat, im extremen Fall auch von Landesverrat, ins Wesenlose zerrinnen lässt. Ja, im Grunde ging es um eine Zurechtrückung der Werte, bei der das nationale Interesse im üblichen Sinn nicht mehr an der Spitze der Rangordnung stehen konnte. Schon die Versuche, den Ausbruch des Krieges, auf den Hitler zutrieb, durch eine internationale Aktion, durch diplomatische Kooperation über Landesgrenzen hin zu verhindern, zielten nicht nur darauf, Deutschland vor der Katastrophe zu bewahren, sondern dem Verbrechen überhaupt ein Ende zu setzen und eine menschenwürdige Ordnung zwischen den Völkern wiederherzustellen.

Im Kriege mit seiner Forderung nach nationaler Solidarität steigerte sich das Dilemma der Pflichten und trieb damit erst recht auf das Grundsätzliche, auf die ethische Unbedingtheit eines Widerstandes hin, bei dem es nicht mehr nur um die Interessen eines Volkes, nicht bloß um Kritik verfehlter Maßnahmen, um ressorthafte Opposition, sondern um Auflehnung gegen das Böse schlechthin, um die Bewahrung des Menschentums überhaupt sich handelte. Im Kirchenkampf beider Konfessionen war dieser Übergang von einer Teilfront in eine Totalfront vorgebildet worden. Er hat sich unter erschütternden Erfahrungen für viele Einzelne wiederholt, die über Klassen und Parteigrenzen hin im Bekenntnis zum Humanum ihren Vereinigungspunkt fanden.

Vor diesem Vermächtnishaften wird vollends die Frage nach Ergebnis und Erfolg gegenstandslos, oder, wenn anders wir sie ernsthaft nehmen, schlägt sie als Frage und Forderung auf uns selbst und die nachlebenden Generationen zurück. Im Gedenken an die Dahingegangenen und Hingerichteten hat einer der Familienangehörigen die nur zu berechtigte Frage gestellt, berechtigt lange vor der Mauer des 13. August und gewiss nicht nur im Hinblick auf drüben: „Wer wollte behaupten, dass die dämonische Macht, gegen die sie angetreten und von der sie verschlungen worden sind, uns heute nichts mehr zu schaffen mache, wenn auch ihre nationalsozialistische Inkarnation nicht mehr hervortritt“. So gesehen war der 20. Juli nur erst ein Anfang.

In der Tat wird ja die Rückbesinnung an dieser Gedenkstätte Jahr für Jahr und aus jeweils drängenden Erfahrungen heraus an dem schmerzlich Unvollendeten und Abgebrochenen nicht vorbeigehen dürfen. Wir mögen uns mit gewissem Recht darauf berufen, dass in der Überwindung eines engen Nationalismus und in der Förderung des europäischen Zusammenschlusses das Gedankengut und die Entwürfe des deutschen Widerstands Nachfolge gefunden haben. Diese Entwürfe schlossen freilich für die klarer Blickenden mit Selbstverständlichkeit ein wiederhergestelltes Polen und eine wiederhergestellte Tschechoslowakei in den Rahmen der geplanten europäischen Föderation ein, die ihrerseits integrierender Teil einer Weltföderation sein sollte. Die ganze Bemühung um übernationale Lösungen kreiste um das Problem des Friedens zwischen Völkern als der einzigen gesunden Grundlage für Frieden zwischen Staaten. Hier haben die Austreibungen und hat die Verhärtung der ideologischen und gesellschaftspolitischen Fronten einen scharfen Schnitt gezogen. Im gleichen schmerzlichen Zusammenhang eines unerfüllten Erbes erinnern wir uns der Worte, die Graf Moltke 1942 einem englischen Freunde schrieb: „Für uns ist Europa nach dem Krieg weniger ein Problem von Grenzen und Soldaten, von wasserkopfartigen Organisationen. Die eigentliche Frage, vor die Europa nach dem Krieg gestellt sein wird, ist die, wie das Bild des Menschen im Herzen unserer Mitbürger wiederhergestellt werden kann. Dies aber ist eine Frage der Religion und der Erziehung, der organischen Verbundenheit mit Beruf und Familie, des rechten Verhältnisses zwischen Verantwortung und Anspruch.“

In solchen Worten deuten sich Grundgedanken an, aus denen man personale Rechte und Pflichten der Freiheit herleiten mochte, Grundgedanken eines gesellschaftspolitischen Programms, wie es der Kreisauer Kreis fern aller Verwaschenheit in einer Verbindung christlicher, aristokratischer und sozialistischer Ethik vertrat, in einer Überwindung der Klassenschranken, die dem Menschlichen innerhalb des öffentlichen Raumes Geltung verschaffen sollte. Man wird das mit dem Ausgleich in der Wohlfahrtsgesellschaft gewiss noch nicht verwirklicht und gegen die kollektive Wucht der Apparaturen gesichert sehen dürfen. Übrigens war dies nicht die einzige Linie. Es bedurfte nicht erst der leichtfertigen, ja grob tendenziösen Veröffentlichung der Gestapo-Berichte zum 20. Juli, um uns über Gegensätze, personalpolitische, wie staats- und sozialpolitische, in den Widerstandskreisen zu unterrichten. Aber man wird diese Differenzen etwa zwischen Älteren und Jüngeren auch nicht überschätzen dürfen, sie verschwinden fast, verglichen mit der überzeugenden und ungewöhnlich breiten Gemeinsamkeit aller Kreise in der Forderung einer auf Freiheit und Selbstverantwortung, auf Menschenrecht und Menschenwürde gegründeten Gesellschaft.

Und hier wird ein Wort der Abwehr in anderer Richtung vonnöten sein. In der historischen Literatur zum Widerstand, wie sie jenseits des Vorhangs erscheint, gilt als dogmatisch feststehende Tatsache, dass nur der Kommunismus, nur er überhaupt und nur er konsequent und durchgängig, den Nationalsozialismus bekämpft habe. Nun wird gewiss niemand, dem es um die Wahrheit geht und der sich mit der deutschen Opposition ernsthaft befasst hat, bestreiten wollen, dass an ihr kommunistische Gruppen einen nicht unerheblichen Anteil hatten – und dies trotz der Gemeinsamkeit im Totalitären –, die zeitweise, insbesondere während des Stalin-Hitler Pakts, auch ihre Rolle gespielt haben. Aber der Exklusivanspruch widerlegt sich nicht nur an der breiten geschichtlichen Wirklichkeit, er zwängt auch alle Erscheinungen des Widerstands, die höchst vielfältiger Art waren, in ein enges Schema des Klassenkampfes ein. Der Mensch, der leidet oder handelt, verschwindet zu Gunsten gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeiten. Recht und Unrecht, Loyalität gegenüber dem Vaterland, Bruch der Loyalität um der ethischen Unbedingtheit willen, Gewissenskampf und Gewissensentscheidung, das Menschliche im Protest gegen das Unmenschliche, solche Begriffe sind drüben offenbar nicht statthaft, weil ihre Anerkennung fatale Konsequenzen antitotalitärer Art haben könnte.

So fällt denn aller bürgerliche und aristokratische, aller gewerkschaftliche und freiheitlich-sozialistische Widerstand im Schwarz-Weiß-Gemälde des Klassenkampfes unter den Begriff des „Imperialismus“ und der „Reaktion“. Nur eine Ausnahme wird gemacht, und davon ist für einen Augenblick an dieser Stätte zu sprechen, wo Stauffenberg auf dem Sandhaufen fiel mit dem letzten Ausruf: „Es lebe das heilige Deutschland!“ Er gilt als glühender Patriot in dem Sinn, wie sein Vorfahre Gneisenau, der ja auch zugleich als Klassenkämpfer reklamiert wird, als Freund Russlands, als Mann, der den Werktätigen die Hand reichen wollte. Ferner soll die Stauffenberg-Gruppe sich nach Stalingrad unter dem Einfluss des „Nationalkomitees Freies Deutschland“ gebildet haben, wofür ausgerechnet der „Völkische Beobachter“ als Zeuge angeführt wird. Ein solcher Zusammenhang nun hat in keiner Weise bestanden, und auch die Russenfreundschaft sieht sehr anders aus, als die Propaganda es wahrhaben will. Sie betätigte sich zunächst im humanen Sinne, indem Stauffenberg eine große Anzahl russischer Kriegsgefangener freisetzte, die Hitler zum Hungertod verurteilt hatte, und sie dann in militärischen Formationen zusammenfasste, die nicht als deutsches Kanonenfutter, sondern als antisowjetische Befreiungsarmee dienen sollten. An bedeutsamen Ansätzen einer solchen Unternehmung hat es nicht gefehlt. So galt Stauffenbergs Denken und Planen der Befreiung aller Völker, die unter tyrannischer Herrschaft litten, und sicherlich nicht einer Ersetzung der hitlerschen Diktatur durch die Stalins.

Von diesem Einzelpunkt darf ich zu der allgemeinen Betrachtung zurücklenken, die uns in dieser Stunde obliegt, und zu den Zusammenhängen, die uns eben hier inmitten der Berliner Krise besonders bedrängen und an denen nicht vorbeizugehen ist. Besteht nicht, so zwingt es sich uns auf, eine weit mehr als äußere Verbindung, jedenfalls in unserem heutigen Gedenken, zwischen dem 20. Juli und dem 17. Juni wie der Entwicklung seitdem, zwischen der Erhebung, so könnte man formulieren, gegen einen pervertierten Nationalismus hier, einen pervertierten Sozialismus dort; gegen den totalen Anspruch auf den Menschen, wenn auch unter anderen Vorzeichen gestellt, aber bis heute und heute erst recht andauernd? Gewiss waren der unmittelbare Anlass und waren die Ausdrucksformen beider Ereignisreihen, an die uns die beiden symbolischen Berliner Daten gemahnen, sehr verschiedener Art. Aber so sehr das Besondere und Unvergleichliche zu betonen ist, das der deutschen Opposition nach den Bedingungen ihrer Existenz und ihres Kampfes eignete, so sehr hat sie zugleich eine Vorhut gebildet in dem immer wieder aufgegebenen Ringen gegen die Anmaßung des Totalitären in allen seinen Farben, braun oder schwarz oder rot. Sie war gewiss auch in einem bestimmten Sinne nationale Unabhängigkeitsbewegung, aber mehr noch und prinzipiell auf Bewahrung und Wiederherstellung der Werte, der leitenden Maximen, der verbindlichen Postulate gerichtet, ohne die eine freie Welt nicht bestehen kann. Solche Forderungen, die um des Menschen und seiner Menschlichkeit willen gestellt werden, dürfen vor keinem Vorhang und keiner Mauer Halt machen. Das heißt aber, dass das Problem der Teilung unseres Landes und dieser Stadt uns nicht nur unter nationalem Vorzeichen angeht, dem der Ermöglichung der Wiedervereinigung, sondern ein universal-menschliches ist, eines, das uns insbesondere deshalb zur Mitverantwortung aufruft, weil die Brüder und Schwestern drüben stellvertretend für uns das Opfer der Fremdherrschaft von außen und der Unfreiheit von innen geworden sind. Für die Erleichterung ihrer Lage, für die Wiedererringung ihrer Selbstbestimmung, welches soziale System immer sie wählen mögen, von unserer Seite jedes nur tragbare Opfer zu bringen, auch dazu mahnt uns das Mahnmal, vor dem wir stehen.






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