Freiheit des Andersdenkenden

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Fritz Erler

Freiheit des Andersdenkenden

Ansprache des stellvertretenden Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Fritz Erler am 20. Juli 1966 in der Bonner Beethovenhalle

Der 20. Juli 1944 gehört in die Reihe jener tragischen Tage der deutschen Geschichte hinein zusammen mit dem März 1848 und dem 17. Juni 1953, als in unserem Volke die Freiheit gegen Gewalt aufstand, aber ihr ein unmittelbarer Erfolg versagt blieb.

Ohne die bewegenden Ereignisse des Jahres 1848 hätte es wohl später in Deutschland kein demokratisches Bewusstsein und keine Anfänge demokratischer Traditionen gegeben. Die deutsche Demokratie hätte ohne den Opfergang der Männer des 20. Juli 1944 wohl kaum das Vertrauen der Umwelt erworben. Dieser Aufstand war der Beweis dafür, dass Volk und Gewaltherrschaft nicht identisch waren. Zu dem Vertrauenskapital hat beigetragen, dass aus den Reihen des Widerstandes eine ganze Anzahl Persönlichkeiten in die Führungspositionen des demokratischen Deutschland eingerückt sind. Mit tiefer Trauer können wir nur feststellen, wie viele der Besten uns durch die Grausamkeit der Gewaltherrschaft heute fehlen.

Der 17. Juni 1953 hat deutlich gemacht, dass die Deutschen im anderen Teile unseres Vaterlandes sich mit dem ihnen von außen aufgezwungenen Regime nicht abgefunden haben. Bis in die jüngste Zeit hinein wurde bei verschiedensten Anlässen – ob nun bei den gewaltigen Familientreffen in Ost-Berlin oder durch das Echo auf das Vorhaben eines öffentlichen Meinungsaustausches in beiden Teilen Deutschlands – der Umwelt sichtbar gemacht, dass die Deutschen sich auch durch Mauer und Stacheldraht nicht auseinanderhalten lassen. Wir sind ein Volk und wollen auch eines bleiben.

Jeder der genannten Tage ist ein Kulminationspunkt und kann nicht von seiner Vorgeschichte gelöst werden. Zum März 1848 gehört der Opfergang derer, die in den Jahrzehnten seit den Freiheitskriegen für die Einlösung der Versprechungen stritten, welche die Regierenden dem Volk gemacht hatten.

Der 17. Juni 1953 ist nicht denkbar ohne den Mut und die Opferbereitschaft der Männer und Frauen, die sich in den Jahren vorher der Gewaltherrschaft widersetzten und zu Zehntausenden die Zuchthäuser, Gefängnisse und Lager der neuen Herren füllten. Deshalb war ja auch immer eine der Losungen jener stürmischen Tage: Freiheit für die politischen Gefangenen.

Der 20. Juli 1944 nun war der tragische Höhepunkt einer Entwicklung, die in Wahrheit mit der Errichtung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft begann. Die Zerschlagung aller nicht von der NSDAP kontrollierten Organisationen stieß auf Widerstand. Dieser wurde mit einer beispiellosen Terrorwelle gebrochen. Zehntausende von politisch Andersdenkenden, damals in erster Linie Sozialdemokraten, Kommunisten und Gewerkschaftler, wurden in den provisorischen Kerkern des Regimes gefangengehalten und gefoltert, Tausende in den ersten Monaten ermordet. Lange Jahre bevor der Krieg die Schreckensherrschaft des Regimes auf andere Länder ausdehnte und die den deutschen Namen verdunkelnden Konzentrationslager mit Männern, Frauen und Kindern aus anderen Ländern Europas füllte, waren es Deutsche, die von der Gewaltherrschaft verfolgt, gemartert und gequält wurden. Ihre aufrechte Haltung gereicht dem deutschen Volk zur Ehre. Ohne sie hätte es weder den 20. Juli 1944 noch Hoffnung auf ein besseres Deutschland gegeben.

Leider stand ein allzu großer Teil unseres Volkes den Vorgängen im Jahre 1933 verständnislos gegenüber. Die Enttäuschung über die Schwäche der demokratischen Republik und das Elend der Weltwirtschaftskrise führten zu einem unverdienten Vertrauensvorschuss für die neuen Herren. Allzu leichtgläubig übersah man die Sturmzeichen und schloss die Augen vor jener Verfolgung, die einen nicht direkt selbst betraf, und vor der bald erkennbaren Vorbereitung eines Angriffskrieges. Wer aber glaubt, um des Lebensstandards willen auf die Freiheit verzichten zu können oder zu müssen, der verliert außer der Freiheit auch noch Frieden und Leben. Dies ist die bittere, unbestreitbare Erfahrung unseres Volkes.

Erst in den Stürmen des Krieges und der Niederlage hat es gelernt, dass Freiheit unteilbar ist. Wer sie heute meinem Mitmenschen nimmt, der raubt mir morgen meine eigene Freiheit. Immer noch gilt der großartige Satz der Rosa Luxemburg: „Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden.“ Deshalb treten gute Demokraten nicht nur für die eigene Freiheit, sondern für die Freiheit aller ein.

Ich erwähnte die Verfolgung der Kommunisten im Jahre 1933. Trotz des neuen Schreckensregimes jenseits der Mauer dürfen wir die Teilnahme der Kommunisten am Widerstand nicht einfach verschweigen. Willkürherrschaft schreibt Geschichte nach Bedarf neu. Wir müssen es mit der Wahrheit und der Gerechtigkeit halten. Nur ein kleiner Teil jener Männer wollte damals eine Gewaltherrschaft nur durch eine andere ersetzen.

Bei den meisten gab es viel Idealismus, Mut und Opferbereitschaft im Glauben an eine vermeintlich bessere Ordnung. Tausende kamen um, Tausende wurden von ihrer Führung in sinnlose Abenteuer verstrickt. Von den überlebenden Altkommunisten jener Zeit sind nur ganz Wenige in den Dienst der neuen Gewaltherrschaft getreten. Für die meisten ist das jetzige Zonenregime Verrat an alten Idealen. Sie sind verbittert, geflohen, verfolgt und geschunden und zum Teil erneut hinter Gittern. Damit weist ihr Lebensweg ähnliche Züge auf wie der von ehemals gläubigen Nationalsozialisten, welche die Erkenntnis der Verbrechen und die Not des deutschen Vaterlandes in die Reihen des aktiven Widerstandes geführt hat.

Erst gemeinsame Not, gemeinsamer Widerstand und gemeinsame Verfolgung haben damals Brücken geschlagen, die vor dem leider nicht bestanden. Konservative, Liberale und Sozialdemokraten, Katholiken, Protestanten und Freidenker und, solange es ging, auch unsere jüdischen Mitbürger, Nord- und Süddeutsche Arbeiter, Offiziere und Beamte, sie alle wuchsen zu einer Not- und Leidensgemeinschaft in gemeinsamem Ringen zusammen, die davon zeugte, dass wir Angehörige eines Volkes sind.

Wir wissen, dass es Freiheit nicht ohne Bindung gibt: Bindung an den Respekt vor der Freiheit und den Rechten anderer; Bindung an die Werte, auf denen das Zusammenleben unserer Gemeinschaft beruht. Bindungslose Freiheit führt zur Anarchie, die in Gewaltherrschaft umschlägt; Bindung ohne Freiheit macht die Gemeinschaft zum Götzen und erstickt die Würde der menschlichen Persönlichkeit.

Wir sagen ja zur Demokratie, weil sie die menschenwürdigste Regierungsform ist. In ihr müssen sich Regierung und Bürger um ein Höchstmaß an Übereinstimmung bemühen. Sie ermöglicht Wechsel und Anpassung an neue Notwendigkeiten auf friedliche Weise, also ohne Gewalt. Ein Regime ist menschenunwürdig, wenn es den Bürgern nur den blutigen Weg der Gewalt lässt, um ihr Selbstbestimmungsrecht auszuüben.

Freiheit und Menschenwürde sind dem Staat vorgegeben und stehen nicht zu seiner Disposition. Eine Ordnung, die Freiheit und Menschenwürde zerstört, widerspricht dem ewigen Sittengesetz und kann freie Menschen nicht in Pflicht nehmen. Widerstand gegen eine solche Ordnung ist nicht nur menschliches und göttliches Recht, sondern wird zur sittlichen Pflicht. Diese Pflicht ruft aber nur den Einzelnen. Widerstand kann nicht von Menschen befohlen werden. Wohl kann sich der Einzelne mit Gleichgesinnten verbinden, wohl kann er versuchen, andere Gewissen aufzurütteln. Aber er darf nicht den Nächsten über seine eigene Einsicht hinaus zwingen. Widerstand aus Pflicht erfordert den höchsten Maßstab in der Beurteilung der Reinheit der Motive und des legitim gewordenen Notwehrcharakters des Handelns. Die bitterschwere Gewissensentscheidung der Auflehnung gegenüber der eigenen Obrigkeit war keine Auflehnung gegen, sondern für das eigene Volk, um es von verbrecherischer Gewalt zu befreien und dem Morden ein Ende zu setzen.

Dieser Entschluss war bitterer als der Entschluss zum Widerstand in den von Deutschland besetzten Gebieten. Widerstand in Deutschland konnte sich nicht auf die Solidarität der ganzen Nation stützen. Jeder Einzelne stand zunächst für sich allein und hatte den bitteren Weg des Alleinseins zu gehen, bis er auf Gleichgesinnte stieß. Die von deutscher Gewalt besetzten Völker haben im Ringen um ihre Freiheit bewunderungswürdige Opfer gebracht. Der Gewissenskonflikt des deutschen Widerstandes aber blieb ihnen erspart. Bei uns stieß der Widerstand nicht nur auf die verbrecherische Gruppe der Träger des Regimes, sondern auch auf die vielen Männer, die in alter Tradition ihre Bürgerpflicht zu erfüllen glaubten, und auch auf jene, die im irregeleiteten Idealismus einer guten Sache und der Größe ihres Volkes zu dienen wähnten. Auch dies gehört in die Tragik der Geschichte jener Jahre hinein.

Die Demokratie muss sich gegen ihre Feinde schützen können. Die Weimarer Demokratie ist bestimmt nicht deshalb untergegangen, weil sie sich beizeiten derer erwehrte, die keine Achtung vor der Freiheit anderer hatten. Wir müssen darauf achten, dass unter dem Vorwand, die Freiheit schützen zu wollen, die Freiheit selbst nicht demontiert wird. Hier steht ein anderer 20. Juli, der 20. Juli 1932, als warnendes Beispiel. Der damalige Staatsstreich gegen die demokratische Preußenregierung legte den Weg für Hitler frei. In Deutschland ist nun einmal die Freiheit mehrfach durch Missbrauch und Usurpation der Staatsgewalt zerstört worden. Deshalb gilt es, jeden Gebrauch staatlicher Macht sorgsam zu kanalisieren. Sonst gräbt sich die Macht selbst ein unkontrolliertes Bett.

Vor allem schließlich brauchen wir die Tugend demokratischer Wachsamkeit. Institutionen allein vermögen die Freiheit nicht zu schützen, wenn nicht freie Bürger entschlossen ihre eigene Freiheit und ihre freiheitliche Ordnung zu schützen bereit sind.

Unser Staat – das ist kein Fremdkörper, das sind wir selbst. Die Weimarer Republik ging auch an der Gleichgültigkeit der Mehrheit ihrer Bürger zugrunde. Sie sahen zu, wie Minderheiten wackerer Demokraten und entschlossener Feinde der Demokratie miteinander rangen.

Heute sind die extremen Gegner der Demokratie auf geringe Bruchteile unseres Volkes zusammengeschrumpft. Wir sollten die Sammlung der versprengten Gruppen weder übersehen noch überbewerten. Aber als Lehre daraus sollten wir erkennen, dass die Grundfragen unserer staatlichen Ordnung, unserer nationalen Zukunft und unserer in die Gegenwart hineinwirkenden Vergangenheit immer wieder freimütig mit den jungen Bürgern unseres Landes erörtert werden müssen. Dabei ist nicht nur Wissen zu vermitteln. Das kann leicht langweilen. Dabei ist nicht nur Legenden vorzubeugen, so nötig das auch ist. Dabei geht es vor allem um das persönliche Engagement des Einzelnen für die Werte, die auf dem Spiele stehen. Erst dann ist der Einzelne ein souveräner Bürger, der selbst die Geschichte von Staat und Gemeinschaft bestimmt.

Dies Engagement kann nicht gelehrt, sondern nur vorgelebt werden. Für dieses Vorleben brauchen wir die Eltern und Erzieher, die Verantwortlichen in all den vielfältigen Organisationen einer freien Gesellschaft. Vor allem aber muss es sichtbar sein bei der politischen Führung selbst – am 20. Juli, aber auch sonst in der Kärrnerarbeit eines jeden Tages.







Weitere Reden

20.07.1966
Dr. Johann Baptist Gradl