Kampf gegen Unrecht ist dauernder Auftrag

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Georg Neemann

Kampf gegen Unrecht ist dauernder Auftrag

Gedenkrede des Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Landesbezirk Nordrhein-Westfalen, Georg Neemann am 20. Juli 1966 in der Bonner Beethovenhalle

Nicht geschulte Spezialisten des illegalen Kampfes und des Lebens im Untergrund sondern Deutsche aus den verschiedenen Schichten des Volkes - getrieben aus der Sorge um Deutschland und durch ihre Gewissensnot - erhoben am 20. Juli 1944 die Hand gegen das Unrechtsregime. Dieser Tag sollte nicht am Erfolg oder Misserfolg der Aktion gemessen werden. Wir haben in der Auswahl unserer nationalen Feiertage keine besonders glückliche Hand gehabt. Auch können Traditionen und Erinnerungen nicht allein dazu beitragen, die Gegenwart unseres Lebens zu meistern. Nach meiner Auffassung fällt aber im Gegensatz zu dieser Feststellung der 20. Juli 1944 vollkommen aus dem Rahmen. In der Beurteilung dieses Tages hilft auch kein formal-juristisches Denken weiter. Hier gibt es nur ein klares Ja oder Nein. Für diesen Staat und für die Zukunft unseres Volkes ist eine unmissverständliche Zustimmung zum 20. Juli von entscheidender Bedeutung. Gerade deshalb sollten wir alles Erdenkliche tun, damit der 20. Juli in der deutschen Geschichte den richtigen Platz eingeräumt bekommt.

Es ist eigentümlich, dass viele Historiker in der Beurteilung des deutschen Widerstandes immer nur auf die Vorgänge weniger Jahre vor dem Aufstand eingehen. Ist es tatsächlich so gewesen, dass nur in dem Zeitabschnitt 1941 bis 1944 der Widerstand gegen Hitler und sein Regime sich formierte? Der 20. Juli ist nur zu verstehen und richtig zu würdigen, wenn wir mehrere Jahrzehnte in der deutschen Geschichte zurückblättern. Die Auseinandersetzungen mit dem Rechts- und Linksradikalismus in der Weimarer Republik waren Ausgangsbasen für den Widerstand in der Zeit nach 1933 und ganz besonders in den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges. An dieser Tatsache ändert sich auch dann nichts, wenn wir wissen, dass viele Männer und Frauen den Nationalsozialismus erst mit Beginn des letzten Krieges durchschauten. Mit Respekt und Hochachtung müssen wir uns an alle erinnern, die erst spät zur Auflehnung gegen Hitler bereit waren und an deren Wiege wahrhaftig nicht das Lied des Aufstandes gesungen wurde. Auch für den Außenstehenden ist es schwierig zu begreifen, dass ein in preußischer Pflicht- und Lebensauffassung aufgewachsener Beamter sich zur Rebellion gegen die Staatsführung entschließen kann - ganz zu schweigen von den Männern, die mit ihrer Berufswahl den unbedingten Gehorsam als oberstes Gesetz anerkannten. Daneben stehen Deutsche, die in der Weimarer Zeit bereits ihr Leben für die Republik und für die Farben des Deutschen Reiches auf das Spiel gesetzt haben. In unserem Lande erinnert kein Denkmal und keine Gedenktafel an jene, die im Reichsbanner „Schwarz-Rot-Gold“ sich fast täglich mit Rechts- und Linksextremisten, Monarchisten, mit Völkischen und Antisemiten herumschlagen mussten. Hunderte starben bereits damals für die Republik und im Kampf gegen den Radikalismus verschiedenster Färbung. Wen wundert es, dass gerade aus diesen Formationen sich später die ersten Zellen des Widerstandes nach 1933 bildeten? Das ist um so beachtlicher, wenn wir von der Enttäuschung wissen, die eine nicht entschlossene Führung des Kampfes gegen die NSDAP und gegen die Kommunisten hinterlassen hatte. Ich halte wenig von den immer wieder angestellten Vergleichen zwischen den Abwehrmaßnahmen des Kapp-Putsches und der Verhaltensweise demokratischer Parteien und Verbände in den Jahren 1930 bis 1933. Zu einer solchen Gegenüberstellung fehlt die vergleichbare Ausgangslage. Trotzdem bleibt die Tatsache bestehen, dass Fehler in diesen entscheidenden 30er Jahren begangen wurden, die sich niemals wiederholen dürfen. Für das Versagen in dieser Zeit musste später bitter bezahlt werden.

Widerstand ist nicht nur die Sache der Stunde des Aufstandes gegen den Tyrannen, Widerstand gegen das Totalitäre, gegen das Unmenschliche, gegen das Schlechte ist ein dauernder Auftrag. Dieses Wort „Widerstand“ sollte einen eindeutigen Sinn bekommen. Es hat nicht im geringsten etwas mit dieser Deutung zu tun, wenn Brandstifter in Berlin sich ostdeutsche Widerstandsgruppe nennen.

Ich möchte auch ein klares Wort an jene richten, die aus sehr unterschiedlichen Gründen einen Beitrag zu der sehr spürbaren Staatsverdrossenheit leisten. Wer genauer hinsieht muss feststellen, dass sie durch ihr Tun - gewollt oder ungewollt - den Unbelehrbaren, den Nihilisten und den nicht nur links sondern auch weit rechts angesiedelten Anarchisten in die Hand arbeiten. Wer etwas davon erfahren will, was wir unter Verpflichtung gegenüber dem eigenen Volke verstehen, der mag sich daran erinnern, was Julius Leber auf dem Gang zur Hinrichtung gesagt hat:

„Wir haben getan, was in unserer Macht gestanden hat. Es ist nicht unser Verschulden, daß alles so und nicht anders ausgegangen ist.“

Dieser Mann hat sich in den letzten Minuten seines Lebens vor seinem Volk dafür entschuldigt, dass nicht mehr erreicht werden konnte.

Wenn einmal der laute, überhebliche und dumme Nationalismus überwunden sein wird, sollten wir uns an Julius Leber, den großen deutschen Patrioten, erinnern.

Neben der Legion des Widerstandes aus der Arbeiterbewegung, der Kirchen und der Soldaten standen kleine Gruppen, die wir nicht vergessen sollten. Sie konnten sich nicht auf eine Glaubensgemeinschaft, eine Partei oder eine militärische Machtposition stützen. Allein, höchstens von einem winzigen Freundeskreis unterstützt, führten sie ihren Kampf gegen Hitler. Aus der deutschen Jugendbewegung kamen viele Ungereimtheiten, kulturpolitische und politische Fragwürdigkeiten. Vor den jungen Deutschen, die in einer großartigen Gesinnung - von der Hohen-Meißner-Formel geprägt - Widerstand leisteten und das letzte Opfer auf sich nahmen, sollten wir uns heute auch verbeugen.

Ja, ich meine, dass auch jene in unser Gedenken einbeschlossen sein müssen, die mutig und aufrecht gegen das nationalsozialistische Regime kämpften und starben ohne zu durchschauen, dass ihre Hintermänner mit der größten Skrupellosigkeit lediglich diese Diktatur durch eine andere ersetzen wollten.

Der 20. Juli 1944 ist ein Vermächtnis und eine Verpflichtung. Wir sollten das Geschehene tief in unsere Herzen eingraben, um es in unserer und in der Erinnerung der kommenden Generationen wach zu halten. Das sind wir jenem Deutschland, das wir alle lieben, schuldig.






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