Für radikale Demokratie

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Jürgen Kunze

Für radikale Demokratie

Ansprache des Vorstandsmitglieds des Ringes Politischer Jugend e.V. Dr. Jürgen Kunze am 19. Juli 1969 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Wenn politische Jugendverbände eine Feier zum Gedenken an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus mitveranstalten, so ist das nicht selbstverständlich. Darin kommt zunächst zum Ausdruck, die große Hochachtung, die die Jugend denjenigen entgegenbringt, die unter Einsatz ihres Lebens Widerstand gegen ein faschistisches Regime geleistet haben. Sie zu ehren, ist unser besonderes Anliegen.

Es soll aber auch zum Ausdruck kommen, dass die Widerstandsbewegung nicht als abgeschlossenes historisches Kapitel betrachtet werden kann. Sie hat vielmehr Bedeutung auch für unsere politische Diskussion heute und für die Auseinandersetzung um die Gestaltung einer demokratischen Gesellschaft in der Zukunft. Diese regelmäßige Gedenkfeier findet ihre Rechtfertigung also nicht nur in der immer erneut formulierten gemeinsamen Hochachtung vor den Widerstandskämpfern.

Notwendig ist darüber hinaus die Auseinandersetzung über zentrale Fragen unserer gesellschaftlichen Ordnung und der Politik in dieser Ordnung vor dem Hintergrund einer Widerstandsbewegung, die auch die unzumutbaren Entscheidungssituationen verdeutlicht hat, in die eine totalitär veränderte gesellschaftliche Ordnung den Einzelnen stellt.

Unser Gedenken kann sich daher auch nicht erschöpfen in der Ablehnung des Faschismus, sondern wir müssen fragen nach den gesellschaftlichen Ursachen, die die erschreckend schnelle Veränderung der Weimarer Demokratie zu einer faschistischen Diktatur möglich machten. Wir müssen fragen, wie es kam, dass die große Mehrheit unseres Volkes für eine faschistische Entwicklung verfügbar war, diese bereitwillig unterstützte.

Erst wenn wir diese Fragen stellen und mögliche Antworten diskutieren, können wir herangehen an die Aufgaben, die uns als konkrete Verpflichtung durch die Widerstandsbewegung gestellt sind: Wir dürfen uns nicht zufriedengeben mit der Abschaffung des offenen Faschismus, sondern wir müssen eine Gesellschaft schaffen, die nicht anfällig ist für eine erneute faschistische Entwicklung.

Dazu brauchen wir Bürger mit demokratischem Bewusstsein, das notwendig auch Widerstandsbewusstsein gegen totalitäre Entwicklungen ist. Weil wir erfahren haben, dass den Entscheidungssituationen in einer totalitär veränderten Gesellschaft nur wenige gewachsen sind - die zu ehren wir heute versammelt sind -, müssen wir alles daransetzen, eine Gesellschaft zu schaffen, die für die Zukunft solche unzumutbaren Entscheidungssituationen unmöglich macht.

Dazu war nach dem Kriege notwendig eine radikale Politik der Erneuerung, die entschieden und kompromisslos darauf hinwirkte, die Verfügbarkeit der Bevölkerung für eine autoritäre und damit potentiell totalitäre Politik zu beseitigen. Die Einsicht, dass Weimar zu wenig Demokraten hatte, um einer faschistischen Entwicklung wirksam zu widerstehen, musste den Neubeginn nach dem Kriege bestimmen.

Es musste und muss gesehen werden, dass die Installierung einer Freizeitdemokratie, die die demokratische Praxis der Bürger auf die gelegentliche Teilnahme an Wahlen zu parlamentarischen Gremien beschränkt, nicht hinreichend ist zur Schaffung von Demokraten, die erst eine formale Demokratie real wirksam werden lassen.

Soll eine formal bestehende Demokratie nicht dauernd in Gefahr sein, mit Zustimmung der Betroffenen abgeschafft zu werden, braucht sie Bürger mit demokratischem Bewusstsein, die die Wahrnehmung demokratischer Möglichkeiten und die Schaffung immer neuer erweiterter Möglichkeiten als für sich selbst existentiell notwendig und damit unabdingbar ansehen. Dieses demokratische Bewusstsein kann nur Ergebnis einer umfassenden demokratischen Praxis der Bürger in allen gesellschaftlichen Bereichen sein.

Erforderlich war und ist daher eine radikaldemokratische Politik, die auf die Demokratisierung auch der Universität, der Schule, der Wirtschaft gerichtet ist. Nur radikale Demokratie ist ein zuverlässiges Mittel gegen eine erneute totalitäre Entwicklung.

Diesem Anspruch hat die Nachkriegspolitik nicht genügt. Man hat sich begnügt mit der Wiederherstellung einer politischen Ordnung, deren Anfälligkeit für totalitäre Veränderungen gerade erst überdeutlich erfahren werden musste. Dieser Anfälligkeit ist auf die Dauer nicht durch technische Veränderungen in der Zuordnung von Parlament und Regierung wirksam zu begegnen. Der Hinweis darauf, dass der Reichskanzler leicht zu stürzen war, ist keine hinreichende Erklärung für das Ende von Weimar.

Die notwendige radikale Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche ist bis heute ausgeblieben. Anpassung und Unterordnung werden auch heute noch als erfolgreiche Verhaltensweisen in Schule, Universität und Wirtschaft erfahren. Die Epoche der Nachkriegspolitik war eine Epoche der Restauration.

Die autoritäre und undemokratische Einstellung weiter Kreise der Bevölkerung blieb erhalten. So kann es nicht überraschen, dass in Zeiten des außen- und innenpolitischen Umbruchs, der sich gegen wesentliche politische Kräfte in diesem Lande vollzieht, diese Einstellung deutlicher erkennbar wird und sich öffentlich politisch formiert.

Die NPD lässt diese Einstellung großer Teile der Bevölkerung besonders deutlich werden. Sie ist öffentliches Symptom für den Misserfolg der Nachkriegspolitik. Eine Politik, die sich darin erschöpft, dieses Symptom abzuschaffen, ist untauglich zur dauerhaften Sicherung einer demokratischen Entwicklung.

Es ist auch unzulässig, die Augen davor zu verschließen, dass das Gedankengut der NPD längst Eingang gefunden hat bei wesentlichen politischen Kräften in diesem Land und dort erschreckend konkret wirksam wird. Wer heute versucht, durch Anpassung an die Politik der NPD dieser Partei Wählerstimmen zu nehmen, tut das Gegenteil von dem, was notwendig ist, gefährdet die Zukunft dieses Landes.

Dieser Entwicklung stellt sich heute eine kritische Jugend entgegen, die das von ihr erwartete Maß an Anpassung und Unterordnung immer mehr als unzumutbar ansieht und immer weniger bereit ist, noch länger auf den längst überfälligen Beginn einer radikaldemokratischen Politik zu warten. Diese Jugend erhebt die Forderung nach mehr Demokratie, nach Überwindung autoritärer Verhältnisse in dieser Gesellschaft.

Sie kann diese Forderungen nur durchsetzen gegen die früher und heute Regierenden, die ihre Unfähigkeit zur Demokratisierung und ihr Bemühen um die weitere Aufrechterhaltung autoritärer Verhältnisse immer wieder erneut unter Beweis stellen.

An der Spitze dieser kritischen Jugend steht heute eine antiautoritäre akademische Jugend, die Motor der Demokratisierungsbemühungen in wesentlichen Bereichen unserer Gesellschaft ist. Sie unterscheidet sich damit positiv von einer akademischen Jugend, die früher zu einem großen Teil bereitwillig eine faschistische Entwicklung in Deutschland unterstützte. Auch der Hinweis auf einige negative Erscheinungen an den Universitäten kann diese positive Einschätzung nicht korrigieren. Dieser Hinweis ist auch unzulässig ohne den gleichzeitigen Hinweis auf den Versuch vieler staatlicher Stellen, das aktive Bemühen der Studenten um Demokratisierung durch disziplinarische Mittel zu unterbinden. Notwendig ist dann auch der Hinweis auf das eilige Bemühen der Kultusminister, durch einen Staatsvertrag erweiterte Disziplinierungsmöglichkeiten in Form eines autoritären und in der Tat unzumutbaren Ordnungsrechtes zu schaffen.

Soll diese Gesellschaft auf Dauer die Anfälligkeit für totalitäre Veränderungen wirksam überwinden, ist es notwendig, die Bürger in allen ihren Erfahrungsbereichen in eine demokratische Praxis zu stellen.

Das bedeutet auch, dass diejenigen, die das Gedenken an den Widerstand heute proklamieren und öffentlich vollziehen, ihre Glaubwürdigkeit daran messen lassen müssen, ob sie sich einsetzen für eine radikale Demokratisierung dieser Gesellschaft. Dieser Maßstab führt oft zu nicht günstigen Ergebnissen.







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