Geistige Grundlagen des 20. Juli 1944

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Werner Goldberg

Geistige Grundlagen des 20. Juli 1944

Ansprache des Mitglieds des Berliner Abgeordnetenhauses Werner Goldberg am 20. Juli 1975 in der Stadthalle Bonn-Bad Godesberg

Vor einem Jahr haben wir in Berlin den 30. Jahrestag des 20. Juli 1944 begangen. In seiner Rede hat Herr Ministerpräsident Dr. Filbinger darauf hingewiesen, dass die Gedenkstunde dieses Tages in all den vergangenen Jahren nie zu einer Routine geworden sei. Und es ist sicher eine Überlegung wert, wie verhindert werden kann, dass das Datum dieses Gedenkens zu einer Pflichtübung derer wird, die als Widerstandskämpfer und Verfolgte Mitbeteiligte an diesem Aufstand gegen die Hitler-Tyrannei gewesen sind. Ich bin nach Abwägung mancher Argumente dafür oder dagegen zu dem Ergebnis gekommen, dass unsere Gemeinschaft der Verfolgten des Naziregimes nur dann einen Sinn behält, wenn sie sich nicht in gemeinsamen Erinnerungen an die Verfolgungszeit erschöpft, sondern sich bemüht, die daraus gewonnenen Erfahrungen und Einsichten in die Gegenwart mit einzubringen. Dazu gehört auch die Weitergabe des Wissens darum, dass der Neubeginn nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches von den Frauen und Männern maßgebend mit beeinflusst und auch ermöglicht wurde, deren Opfer wir beschämt, aber doch nicht ohne Stolz zu beklagen haben. Staatsbürger von hohem geistigen Niveau, im besten Sinne konservativ, versuchten die Revolution, indem sie einem ewigen Anspruch an die Sittengesetze Folge leisteten. Ihr Ziel beschrieb Goerdeler im Jahre 1943:

„Die Staatsgewalt unter das Gesetz der Moral und des Rechtes zu stellen. Achtung der Persönlichkeit, Familie, religiöser Bekenntnisse, der Berufsverbände, der örtlichen Selbstverwaltungen und der freien Gewerkschaften. Die Verpflichtung aller gegenüber dem Gemeinwohl.“

Wir haben also nicht nur der Toten zu gedenken, die ja eigentlich mit ihrem Vermächtnis dem ganzen deutschen Volk gehören, das ihnen verpflichtet ist. Wir haben vielmehr das zu vollziehen, was uns von ihnen hinterlassen wurde. Als Mahner und gleichzeitig als mitgestaltende Kraft unseres gesellschaftlichen, staatlichen und öffentlichen Lebens, solange wir atmen und solange Gott uns die geistige und seelische Kraft dazu schenkt.

Darum war es eine richtige, eine gute Entscheidung, wenn der Zentralverband demokratischer Widerstandskämpfer und Verfolgter die Last der Organisation und der Durchführung einer Gedenkveranstaltung auch in diesem Jahre wieder übernommen hat.

Ich bin sehr dankbar, dass mir die Ehre zuteil wurde, dazu heute zu Ihnen sprechen zu dürfen.

Wenn man nun die Reden und Schriften der Vergangenheit zu dem Ereignis des 20. Juli 1944 durchsieht, so stellt man fest, dass neben der Würdigung der Persönlichkeiten und der Scham über ihr Schicksal die Feststellung im Vordergrund gestanden hat, dass mit diesem Tage ein anderes Deutschland sichtbar geworden sei und es sich um eine Rettungstat für das deutsche Gewissen vor der deutschen Geschichte gehandelt habe. Ich glaube, dass es im 31. Jahr nun nicht nur erlaubt, sondern sogar angebracht ist, den Kreis der Betrachtungen weiterzuziehen als nur auf diesen nationalen Aspekt, so wichtig er uns auch erscheinen mag. Dieser Tag vermag genauso wenig die ganze Geschichte des Widerstandes gegen Hitler wiederzugeben und darzustellen, wie etwa der 30. Januar 1933 alleine für die Machtübernahme Hitlers stehen kann. Solche Tage sind Markierungspunkte, die Zusammenhänge aufzeigen, aus denen sie entstanden sind. Am 20. Juli wurde öffentlich bekannt, dass es einen Widerstand gegen Hitler in Deutschland gab. Wir haben Anlass, uns mit den Zusammenhängen solcher Tage auseinander zu setzen. Nur das Wissen um sie und die daraus gewonnenen Erkenntnisse können für uns die Maßstäbe des Handelns in der Gegenwart setzen, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, in jene Fehler zu verfallen, für die wir alle bitter haben zahlen müssen. Und wenn dieser Tag nicht mehr als ein Anlass dazu ist, darüber nachzudenken, dann ist es schon gerechtfertigt, ihn würdig zu begehen.

Auf die dabei immer wiederkehrende Frage nach der Motivation für die Widerstandshandlungen sind wir auf vielfältige Antworten gestoßen. Übereinstimmend kann jedoch festgestellt werden, dass individuelle und auch kollektive Triebkräfte zum Einsatz des Lebens für die eigene oder gemeinschaftliche Befreiung oder Freiheit so alt sind, wie die Menschheitsgeschichte selbst. Der Widerstand, dessen wir heute gedenken, ragt weit über den nationalen Bereich hinaus und bettet sich somit in die gesamte Menschheitsgeschichte ein. Er wird damit zu einer logischen Folge des Geschichts-Ablaufs. Niemand wäre natürlich in der Lage gewesen, im Voraus eine präzise Zeitangabe über dieses Ereignis machen zu können. Jedoch die Bildung des deutschen Widerstandes – das wissen wir heute genau – verlief parallel mit der Machtübernahme Hitlers, und wir wissen ferner, dass seine Entwicklung wesentlich durch Einflüsse mitbestimmt wurde, die in Bereichen außerhalb Deutschlands zu suchen sind. Ich erwähne in diesem Zusammenhang nur München 1938 und Moskau 1939. Damit wird deutlich, dass es Zusammenhänge gibt, die weit über die nationalen Grenzen hinausreichen.

Gestatten Sie mir jedoch auch, die mir zugestandene Zeit dazu zu nutzen, einige Gedanken vorzutragen, die dazu angetan sein können, dort Orientierungshilfe zu leisten, wo sie heute manchmal abhanden gekommen zu sein scheint. Ich knüpfe dazu an das an, was ich eingangs bereits sagte, als ich den 20. Juli in einen größeren historischen Zusammenhang einfügte.

Im Mittelpunkt solcher Betrachtungen steht das ewige Thema, mit dem das Leben der Menschen in Erfüllung gottgewollter Pflicht aufgewogen wird, gegenüber beschränktem Menschengebot. Aus der griechischen Mythologie überliefert uns Sophokles die Geschichte der Antigone, der Tochter des Ödipus, die immer wieder und wieder Dichter, Schriftsteller und auch Komponisten fasziniert und gefordert hat.

So Hasenclever 1917; Cocteau 1922; Anouilh 1943; Brecht 1948; Mendelssohn-Bartholdy schrieb dazu 1841 eine Bühnenmusik; Saint-Saëns 1893; Honegger 1922 und schließlich 1950 Carl Orff, dessen 80. Geburtstag vor 10 Tagen begangen wurde. Auch die Bibel erzählt uns schon im Alten Testament von der Sehnsucht des versklavten Volkes nach Befreiung und Freiheit. Wir können daraus entnehmen, wie auch aus den weiteren Überlieferungen, dass dieses Thema niemals versiegte und ständiger Begleiter der Menschheit geblieben ist.

Dichter, Historiker und Philosophen aller Zeiten haben sich damit beschäftigt und uns diese Überlieferungen hinterlassen. Daraus können wir erkennen, dass die Menschen immer schon in Spannungen hineingeboren wurden, deren Felder vielfältig sind: Der Einzelne – die Gemeinschaft, Individuum – Kollektiv, Herrschen – Dienen, Pflicht – Verpflichtung, Glück und Lust, Utopie – Wirklichkeit, um nur einige zu nennen. Parallel damit geht das ewige Bemühen um den Ausgleich, die Entspannung danach, sich diesem Zwang zu entziehen. Das wird wohl auch in der Zukunft nicht anders sein, weil wir sowohl mit unseren Utopien wie mit den Spannungen zu leben haben. Bitte fassen Sie es nicht als Fatalismus auf, wenn ich hinzufüge, dass es bei der Suche nach den Brücken zur Verständigung und Entspannung zwischen Einzelnen und Gruppen, Völkern und Nationen, wie auch zwischen Generationen ein Gebäude gibt, das einen stabilen Pfeiler für die Tragfähigkeit solcher Brücken abgeben kann: Das ist das Wissen und seine Weitervermittlung um diese großen Zusammenhänge der Menschheitsgeschichte.

Wie steht es nun aber um den Erfolg solcher Bemühungen, die opferreich waren und nie endeten? Frieden bedingt mehr als nur ein Schweigen der Waffen. Er setzt den Frieden und die Befreiung des Einzelnen voraus. Worin diese besteht, hat ebenfalls die Denker vieler Generationen beschäftigt. Schmerzlosigkeit und Unerschütterlichkeit der Seele sollen nach Epikur die Glückseligkeit bedeuten. Aber er weist auch darauf hin, dass diese ohne Tugend nicht möglich und erreichbar sei. Das heißt doch zugleich, dass es den Frieden des Menschen ohne die Unterwerfung unter die Sittengesetze nicht geben kann. Diese gleiche Erkenntnis finden wir in vielen anderen Überlieferungen, die Moral und Ethik zum Mittelpunkt aller Überlegungen gemacht haben. Die alte Philosophenschule Stoa sieht allerdings im Streben nach Lust eine Verkennung des Wesens des Menschen und zieht daraus den Schluss, dass die Lust ein Leiden darstellt, das den Menschen in die Unfreiheit führt.

Wenn ich in diesem Zusammenhang auf Ernst Bloch hinweise, dessen 90. Geburtstag vor einigen Tagen Anlass war, sein Lebenswerk zu würdigen, so ist das nicht so zu verstehen, als ob ich mich mit allen seinen Ansichten identifiziere. Aber er hat uns doch gewisse Zusammenhänge zwischen Utopie und Wirklichkeit aufgezeigt. Dabei erscheint es mir bemerkenswert, dass er selbst von Erfahrungen in dem Spannungsfeld zwischen Utopie und Wirklichkeit nicht verschont wurde. Solche Erlebnisse werden immer unterschiedliche Reaktionen auslösen, wobei es sicher auch eine Rolle spielt, ob sie in einem Alter von 20 oder von 80 Jahren gemacht werden. Schließlich dürfte wohl auch der Wahnsinn des Nationalsozialismus als ein Versuch der Realisierung fanatischer Utopien angesehen werden. Und wir haben uns nach dem Erlebten zu fragen, ob wir immer und überall in unserem Tun und Unterlassen darum besorgt sind, das nicht wieder zu verspielen, was uns unter großen Opfern an demokratischen Freiheiten geschenkt wurde. Wir müssen miteinander nüchtern darüber nachdenken, ob diese Sehnsucht nach Utopia, die ungeahnte Kräfte freizusetzen imstande ist, Maßstäbe setzen kann, wie sie uns z.B. im Alten Testament verheißen werden:

„Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken wird ...“

Ist das nicht die Maxime vieler Weltverbesserer? Stand dies nicht immer vor dem Auge des Menschen, der sich seiner eigenen Unzulänglichkeit nicht bewusst werden wollte? Das Mittelalter entwickelt daraus dann die geistige Grundlage für die französische Revolution, unter dem Motto: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

Ist eigentlich, so wird man fragen müssen, darin nicht ein Widerspruch enthalten? Freiheit bedeutet doch Ungleichheit. Gleichheit ist Unfreiheit und kann keine Brüderlichkeit schaffen. Auch hier sehen wir die Vorstellungen einer Utopie. Und Ernst Bloch gibt uns dann diese Definition: Minimum an Arbeit und Staat – Maximum an Freude. Und er fragt unter Hinweis auf Thomas Morus nach dem Sinn der Freiheit und nach ihrem Wert: Befreiung von etwas oder Befreiung zu etwas? Damit wird der Freiheitsbegriff in eine Verpflichtung eingebunden. Diese kann sich jedoch auf nichts anderes beziehen als auf die Lebensgemeinschaften, die von der Familie her, über gesellschaftliche Bindungen, ihren Ausdruck durch den Staat und seine Organisation findet. Bloch sagt dann weiter: „Überall besteht nur das spezielle Interesse an einer Freiheit, die die Freiheit eines speziellen Interesses ist. Freiheit wird durch Ordnung beendet, indem sie in einem gebauten Raum oder Reich landen lässt, statt dass die Freiheit in der Willenszeit endlos weiterläuft.“

Das zusammengenommen, setzt aber eines voraus: Die Solidarität der Einzelnen, die das Ganze ausmachen.

Gleichsam als ein reichbewegter Zusammenklang, einer Harmonie der individuellen und der gesellschaftlichen Kräfte. Das gerade wurde bei der Handlung der Frauen und Männer des 20. Juli spürbar: So unterschiedlich die individuellen Auffassungen und Ansichten sowohl nach Herkommen wie nach Erziehung und gesellschaftlicher Stellung auch gewesen sein mochten: Sie schöpften ihre Kraft zur Tat nicht alleine aus ihrer moralischen und ethischen Grundhaltung, sondern auch aus der Fülle der Solidarität! Das gemeinsame Streben nach der Befreiung „DAVON“ ließ die individuellen Vorstellungen des „WOZU“ zurücktreten.

Diese Gedanken über die menschliche Utopie müssten unvollständig bleiben, wenn ich nicht auch noch erwähnen würde, was uns Oscar Wilde dazu hinterlassen hat: „Keine Weltkarte ist eines Blickes wert, die das Land Utopia nicht enthält.“

Damit komme ich zu dem Begriff des Widerstandes, dessen Interpretation leider schon heute nicht mehr einheitlich ist, obwohl er durch das uns überlassene Vermächtnis des 20. Juli mit echtem Inhalt gefüllt wurde. Wahrer Widerstand bezieht das persönliche Opfer in seine Überlegungen ein. Er kann daher in dem Spannungsfeld, von dem ich vorhin sprach, nur dann überzeugend sein, wenn die Unfreiheit ihm mit der Todesrache begegnet, deren vermeintliches Recht sich aus dem uneingeschränkten Machtmissbrauch ableitet. In einer freiheitlichen Ordnung wäre die Freiheit beendet, wenn ihre Handhabung von allen akzeptiert werden müsste. Daher kann man in ihr von einem Widerstand, wie wir ihn verstehen, niemals sprechen. Ein persönliches Risiko gibt es nicht. Die begriffliche Anleihe „Widerstand“ soll doch lediglich dazu dienen, unverantwortliches Tun mit dem Anschein der Legalität auszustatten.

Und wir kennen die weitere Konsequenz daraus, die in der Provokation besteht. Mit ihr wird darauf abgezielt, einzelne Polizeibeamte, denen der Schutz des Staates und seiner Bürger übertragen ist, zu Affekthandlungen zu verleiten, um daraus in Umdrehung der Kausalität wiederum die eigene Verhaltensweise zu rechtfertigen. In unserer Verfassung wird daher im Artikel 20, Absatz 4, der Widerstand ausdrücklich nur auf die Absicht bezogen, dass es jemand unternimmt, diese unsere Ordnung zu beseitigen. Dieses Verfassungsrecht wird zudem zusätzlich dadurch eingeschränkt, indem vorausgesetzt wird, dass eine andere Abhilfe nicht möglich ist.

So führen uns die geistigen Grundlagen des 20. Juli 1944 zur parlamentarischen Demokratie unserer Tage, von der Churchill gesagt hat, dass sie von allen wählbaren Übeln das kleinste sei.

Wir machten den Versuch eines neuen Anfangs im Umgang mit der Macht. Nach unseren jüngsten Geschichtserfahrungen sollte das Wort „Auctoritas, non veritas facit legem“ (Die Macht, nicht die Wahrheit schafft das Recht) keinesfalls jene Bedeutung haben, wie sie uns von Thomas Hobbes hinterlassen wurde: Glaubens- und Gewissensfreiheit seien der Ausgangspunkt aller Uneinigkeit im Staate. Das Chaos des Rechtes des Einzelnen sei nur durch eine rechtsetzende Gewalt zu überwinden, die somit auch den Frieden sichert. Der Souverän kann sowohl durch eine Person, wie auch eine „Versammlung“ verkörpert werden. Diese sollte dann allmächtig und niemandem verpflichtet sein und Moral und Gesetz bestimmen. Es wird oft verkannt, dass in unserem Sprachgebrauch Begriffe miteinander verschmolzen werden, die in der lateinischen Sprache Unterschiedliches aussagten.

Dort gab es für den Begriff der Macht sowohl Auctoritas wie auch Potestas. Auctoritas stand dabei sinngemäß für Bürgschaft, Gewähr, Sicherheit, Glaubwürdigkeit und Verpflichtung. Potestas dagegen für Kraft, Macht, Gewalt und Herrschaft. Die Macht der Autorität bezog sich also im Gegensatz zu der Macht der Gewalt aus dem Ansehen und dem Kredit.

Lassen Sie uns gemeinsam dafür Sorge tragen, dass wir aus der Motivation unserer Friedenssehnsucht und unserer Sozialutopien jene Synthese schaffen, die uns und unsere nationalen Interessen gleichberechtigt in die Gemeinschaft der anderen Nationen einfügt. Und sie werden es mir als Berliner nicht verübeln, wenn ich auch darauf hinweise, dass Berlin nicht nur eine moderne Weltstadt ist und bleiben muss. Berlin ist mehr. Berlin ist Auftrag und Verpflichtung zugleich, was uns auch dadurch bewusst wird, dass Berlin der Mittelpunkt des Geschehens um den 20. Juli 1944 gewesen ist. Die Vorbilder dieser Vergangenheit haben gezeigt, dass auch das deutsche Volk der Selbstbestimmung fähig ist und ihrer bedarf.







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