„Lebendiger Same für eine neue Welt der Menschenwürde“

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Karl Meyer

„Lebendiger Same für eine neue Welt der Menschenwürde“

Predigt von Pater Dr. Karl Meyer, OP im Rahmen des Ökumenischen Gottesdienstes am 20. Juli 2009 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Michael Jackson war ein großer Tänzer und Darsteller. Der Moonwalk war eines seiner Markenzeichen. Was ist der Moonwalk? Beim Moonwalk wird eine Vorwärtsbewegung dargestellt, aber tatsächlich wird eine Rückwärtsbewegung ausgeführt. Irgendwie faszinierend! Es heißt: Der Moonwalk und die entsprechenden Video-Clips haben den Verkauf seiner Alben erheblich gesteigert. Tanz drückt ein Lebensgefühl aus. Vielen Menschen hat es offenbar gefallen, dass die Realität so dargestellt wurde.

Ich musste an Sr. Isa Vermehren denken. Sie, die vor fünf Tagen gestorben ist, hat mir vor wenigen Monaten gesagt: „Die Nazidiktatur mit ihren Verbrechen war solch ein Paukenschlag in der Geschichte, dass alle aufwachen mussten. Und doch leben wir so, dass wir diesen Aufruf verträumen und verdrängen.“

Faktisch gibt es viel Rückschritt im Menschlichen, der Mensch ist gefährdet, als Konsument zu verkommen, und wir werden fasziniert vom Fortschritt. Dieser Umgang mit der Realität ist nicht neu, knüpft an unselige Zeiten an. Der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda war ein perfekter Vortänzer des Moonwalk. Und sehr vielen hat das gefallen – bis in den Untergang hinein.

Was aber ist solcher Gefahr in Diktaturen und in liberalen Gesellschaften entgegenzusetzen? Der bösen Geschichte ins Rad zu fallen, ist ein ethischer Auftrag, aber er gelingt selten. Das Volk Israel bleibt auch in dieser Hinsicht für uns ein großer Lehrer. Erwartet wird in der langen Geschichte Israels mit ihren Illusionen und Enttäuschungen auch bei den Frommen immer wieder der Einbruch Gottes in die Welt. Er müsste den neuen Moses schicken, den neuen Exodus bewirken.

Als Jesus kommt und vom Reich Gottes spricht, fordern Sie von ihm ein Zeichen „vom Himmel“ (Mk 8, 11). Das Göttliche muss überzeugen durch Hochleistung, durch eine Leistung, die den menschlichen Rahmen sprengt. Der Übermensch, der Halbgott, den Griechenland erdacht hat, spukt in den Köpfen: Herakles, der den Augias-Stall ausmistet. Solche Männer werden gesucht. Denen schenkt man Glauben. Wenn die geforderten Zeichen gegeben werden, verselbständigen sie sich, werden zu Wundern, die einer produziert und mit denen er etwas beweist.

Das alles ist nicht Gottes Werk – und deshalb gibt Gott diese Zeichen nicht. Gott gibt natürlich Zeichen seiner hilfreichen Nähe – durch seine Menschen. Denn es geht bei einem Zeichen immer um den Menschen, der das Zeichen gibt. Gibt er mit dem Zeichen sein Herz, ist jedes Zeichen gut. Das kleine Blatt Papier mit bunten Strichen darauf, der Mutter vom Kind mit strahlenden Augen gegeben, ist ein unverkäuflicher Schatz. Der Schatz ist eigentlich das Herz des Kindes. Es trägt seine eigene Weisheit in sich. Ein um noch so teures Geld erworbenes Geschenk ist demgegenüber wertlos, wenn das Herz nicht dahintersteht.

Gott kommt zeichenhaft zwar auch in gelungenen menschlichen Ordnungen, so wie sie Salomo aufgestellt hat. Aber Jesu Zeichen sind tiefer: Sie kommen aus einem weisen Herzen, das mit göttlicher Liebe den Menschen kennt und ihn liebend umfängt. Seine Weisheit ist menschenfreundlicher als die Weisheit Salomos, die der Königin von Saba den Atem stocken ließ. (1 Kön 10, 5) Jesus erzählt in seinen Gleichnissen vom göttlichen Sinn der einfachen Dinge. Und häufig geht es dabei um Säen und Wachsen und Reifen.

Gott kommt sicher im guten, warnenden Wort des Jona. Das göttliche bekehrende Wort zeigt sich aber noch mehr in der absoluten Zuwendung des Menschen Jesus zum abgeschriebenen Menschen. Jesus setzt sich zu den Sündern, er lässt sich von der Sünderin berühren, er lässt sich von Judas küssen und wirbt um ihn mit abgrundtiefer Traurigkeit. Hier ist mehr als Jona, der nicht damit zufrieden ist, dass Ninive nach seiner Umkehr überlebt. (Jona 4, 1-4) Jesu letzte Weisheit ist das liebende Schweigen am Kreuz, das die Sünde zudeckt. Jesus hat den Geist, der diese Weisheit bewirkt (vgl. Wsh 7, 22). Jesus will an seinem Geist teilhaben lassen. (Joh 7, 37-39)

Wir Menschen unter dem Ansturm der Angebote und Bedrohungen stehen mit unserem Leben immer wieder zwischen dem Geist der Welt und dem Geist Gottes. Natürlich kennen wir als Christen die Worte der Schrift:

Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken und eure Wege sind nicht meine Wege – Spruch des Herrn. So hoch der Himmel über der Erde ist, so hoch erhaben sind meine Wege über eure Wege und meine Gedanken über eure Gedanken.

Denn wie der Regen und der Schnee vom Himmel fällt und nicht dorthin zurückkehrt, sondern die Erde tränkt und sie zum Keimen und Sprossen bringt, wie er dem Sämann Samen gibt und Brot zum Essen, so ist es auch mit dem Wort, das meinen Mund verlässt: Es kehrt nicht leer zu mir zurück, sondern bewirkt, was ich will, und erreicht all das, wozu ich es ausgesandt habe. (Jes 55, 8-11)

Auch bei uns, die wir hier unter den Zeichen des schrecklichen Endes geliebter Menschen versammelt sind, kommt immer wieder der Gedanke, dass dieser Aufstand gegen Hitler hätte gelingen sollen, dass Gott auf der Seite der Guten hätte stehen müssen. Wie die Emmaus-Jünger sagen wir: “Wir aber hatten gehofft, ......“ (Lk 24, 21). Natürlich wäre es so besser verständlich und leichter lebbar, aber es gilt auch für uns: „meine Wege sind nicht eure Wege“, „meine Gedanken sind nicht eure Gedanken“.

Wir haben keinen Begriff dafür, welch fürchterliche Verfallenheit in Tod und Zerstörung aus der entschiedenen Gottferne entsteht, die auch zu erleiden ist. Das Buch der Könige macht sich über den Untergang Jerusalems Gedanken. Da gab es mitten unter den gottvergessenen Königen Jerusalems einen König, dessen Herz Gott zugewandt war wie keiner vor ihm und keiner nach ihm: Joschia. Dennoch war die Geschichte des Untergangs nicht mehr aufzuhalten und bezog alle ein. (2 Kön 23, 25-27) Sie hat ihre eigene „unerbittliche“ Logik, die Israel in der Heiligkeit Gottes begründet sieht. Solche Logik wiederholt sich in der Geschichte.

Wir haben aber auch keine Vorstellung davon, wie paradox mitten in der Vorherrschaft des Bösen die Weisheit Gottes ihre Kraft erweist, wie viel tiefer und nachhaltiger sie wirkt als ein gewaltsames Eingreifen.

Jesus kennt sie. Im Gleichnis vom Senfkorn erzählt er von der unendlichen Lebenskraft des Kleinen. (Mt 13, 31-32) So wie Gott aus einem unfassbar schweren Massepunkt in der Evolution ein Universum entfaltet, will er aus einem unendlich gewichtigen Liebespunkt ein noch größeres Universum der Menschlichkeit schaffen. Aber gegen Ende seines Lebens fügt Jesus hinzu: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein. Wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht. (Joh 12, 24) Jesus selbst hat diesen Weg in die Zukunft eröffnet. Er hat diesen Exodus aus dem Diesseits als erster beschritten. Er lädt Menschen in seine Weisheit, sein Lebenswissen ein.

Die Männer und Frauen aus dem Widerstand, die ihr Leben eingesetzt, ja, die hier ihr Leben gegeben haben, sind darin eingetreten. Aussaat kräftigsten Samens, die zu großer Frucht aufkeimt, ist hier geschehen. Pfarrer Poelchau, selbst mit einem Fuß am Abgrund, hat so gefangenen Witwen zum Trost vom Tod ihrer Männer gesprochen. Diese göttliche Weisheit ist nicht vom Himmel gefallen, sondern wurde auch in ihnen grundgelegt und ist gewachsen, manchmal durchaus bevor die religiöse Frage aktuell geworden ist oder bevor sie artikuliert werden konnte. Adam von Trott schreibt 1934 die tiefe Wahrheit: „Es gibt so viele Fragen, die man leben muss, bevor man sie aussprechen kann, und manchmal glaube ich noch, dass mein Leben eine Antwort auf eine von ihnen werden könnte ...“

Isa Vermehren ist 1933 als 15-jährige in Lübeck vom Gymnasium verwiesen worden, weil sie den Deutschen Gruß verweigert hat, aus Solidarität mit ihrer halbjüdischen Klassenkameradin, der dieser Gruß verboten war. Religion war damals für sie noch nicht wichtig. Emmy Bonhoeffer hat nie vergessen, dass ihre Mutter an einer belebten Straßenbahnhaltestelle einem alten Juden, der die Straße kehren musste und für den die Karre zu schwer war, diese Karre von der Straße auf den Gehweg geschoben hat. Diese Handlungsweisen alle gehören zu der Weisheit, zum bekehrenden Wort Jesu, der sich immer und nicht anders als in einem begegnenden Menschen gezeigt hat und zeigt.

Noch einmal zu Isa Vermehrens Wort:

Natürlich meint sie mit dem Paukenschlag nicht nur die negative Seite, sondern mehr noch das ungeheure Potential an Menschlichkeit, ja an göttlicher Weisheit, das uns aus dem Widerstand überkommen ist. Es darf nicht brach liegen bleiben. Wir – besonders unsere jungen Menschen – sind der Ort, wo diese kräftige Saat keimen und aufgehen möchte.

Im normalen Tag wird eingeübt, was für den Ernstfall tragende Grundlage ist. Uns sind dazu eine Menge „normaler“ Tage in großer Freiheit geschenkt. Ich gehe soweit zu sagen: Auch darin, ob ich einen Käfer auf dem Weg mutwillig zertrete oder nicht, entscheide ich schon mit, wie ich handle, wenn wieder einmal von „menschlichem Ungeziefer“ die Rede sein sollte. Lebe ich eine Kultur des Lebens, oder eine Kultur des Todes?

Wir feiern Gottesdienst.

Der Herr Jesus Christus kommt unter ganz kleinen und unauffälligen Zeichen, mit den kleinen Oblaten und einem kleinen Schluck Wein, aber er selbst ist mit aller göttlichen Liebe und Hingabe in diesen Zeichen präsent und mächtig. In diesem Raum hat er Menschen, die seinem Leben wissend oder unwissend konform waren, die für die Geringsten seiner Brüder und Schwestern eingetreten sind, in seine Hingabe einbezogen und sie höchst lebendiger Same für eine neue Welt der Menschenwürde werden lassen, die sie so sehr herbeigesehnt haben.

Wenn wir an dieser Stelle Gottesdienst feiern, ist das ein ungeheures Privileg: Es ist die Teilnahme an der neuen Geburt Gottes in einer höchst gefährdeten Welt. Deswegen gebührt diesem Ort mit dieser Feier eine hohe Intimität.

Durch unser Leben und Handeln in der Welt will Gott dann der Wirklichkeit dieser Feier die angemessene Öffentlichkeit schaffen.

Gott gebe dazu seine Gnade. Amen.






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