Leitbild und Erbe

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Eugen Gerstenmaier

Leitbild und Erbe

Gedenkrede von Bundestagspräsident Dr. Eugen Gerstenmaier am 21. Juli 1954 im Stadttheater Bonn-Bad Godesberg

Um die Mittagszeit des 21. Juli 1944 begannen sich die Zellen des Kellergefängnisses im Reichssicherheitshauptamt in der Prinz-Albrecht-Straße in Berlin zu füllen. Am Abend zuvor hatte der Deutschlandsender die Meldung gebracht, dass auf den Führer ein Sprengstoffanschlag verübt, dass er dabei aber kaum verletzt worden sei.

Spät in der Nacht sprach Hitler selbst. „Eine ganz kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich verbrecherischer dummer Offiziere“ habe das Komplott geschmiedet. Der Oberst Graf Stauffenberg habe die Bombe gelegt. Es sei „ein ganz kleiner Klüngel verbrecherischer Elemente, die jetzt unbarmherzig ausgerottet würden“. Es ging schon auf den Morgen, als der Deutschlandsender diese Rede übertrug. Graf Stauffenberg und vier seiner Freunde aus der Führung des Staatsstreichs lagen, standrechtlich erschossen, im Oberkommando der Wehrmacht in der Bendlerstraße in Berlin. Einige andere, des gleichen Schicksals gewärtig, wurden, aneinandergefesselt, in das Gefängnis im Reichssicherheitshauptamt gebracht.

Was zunächst nur wie ein Militärputsch aussah, begann sich schon nach kurzer Untersuchung als eine weitverzweigte, lang vorbereitete Erhebung vor den erstaunten, schließlich erschrockenen Augen der Geheimen Staatspolizei darzustellen. Seit dem Mittag des 21. Juli mischten sich zwischen die vielen Männer in grauer Offiziersuniform, die in den Keller der Prinz-Albrecht-Straße hinuntergeführt wurden, immer mehr Zivilisten. Der Polizeiapparat Himmlers war in Bewegung. Erst nachdem jeder Fußbreit deutschen Bodens von den Gegnern Deutschlands besetzt war, kam dieser Apparat zum Erliegen. In der Zwischenzeit hatte er Tausende an den Galgen oder auf das Schafott gebracht. In einem amtlichen Dokument ist die Zahl der im Zusammenhang mit dem Staatsstreich vom 20. Juli 1944 Hingerichteten auf 4980 beziffert worden.

Unter ihnen befinden sich die Angehörigen und ehemaligen Angehörigen des Auswärtigen Amtes: der Botschafter Friedrich Werner Graf von der Schulenburg, der Botschafter Ulrich von Hassell, der Gesandte Otto Kiep, der Vortragende Rat Richard Kuenzer, der Botschaftsrat Albrecht Graf Bernstorff, der Vortragende Legationsrat Hans Bernd von Haeften, der Legationsrat Adam von Trott zu Solz, der Legationsrat Eduard Brücklmeier und Legationssekretär Herbert Mumm von Schwarzenstein. Ohne Verbindung mit dem Staatsstreich vom 20. Juli, aber als Opfer gleicher Gesinnung starb der wissenschaftliche Hilfsarbeiter in der Politischen Abteilung Hans Litter.

Der Mann aus dem Auswärtigen Amt, den der gescheiterte Staatsstreich dem Zugriff der Gestapo zuerst ausgeliefert hat, war der Vortragende Legationsrat Hans Bernd von Haeften. Sein Bruder Werner war der vertraute Freund und Adjutant Graf Stauffenbergs. Er war mit ihm zusammen erschossen worden. Es lag nahe, mindestens einen Gesinnungszusammenhang zwischen den beiden Brüdern Haeften anzunehmen. Die persönliche Haltung und die dienstliche Führung des jungen Vortragenden Legationsrates war dem engeren Kreis um Ribbentrop und der Geheimen Staatspolizei schon lange verdächtig. 1905 geboren, verwandt mit führenden Vertretern der Wehrmacht, war Haeften nach dem juristischen Studium und einem Aufenthalt im Trinity College in Oxford Assistent des Auswärtigen Ausschusses des Reichstags geworden. Nach seiner Übernahme in das Auswärtige Amt hatte er sich auf einer Reihe von Auslandsposten so gehalten, dass es in einer zusammenfassenden dienstlichen Beurteilung kurz und bündig über ihn heißt: „Hat sich auf allen Posten hervorragend bewährt.“ Während des Krieges wurde er in die Informationsabteilung des Auswärtigen Amtes versetzt. Es wird berichtet, dass Haeften über das dort Beobachtete zeitweilig „dem seelischen Zusammenbruch nahe war.“ Haeften war im strengen Sinne des Wortes ein Mann der Kirche. Ein evangelischer Christ, der in enger Freundschaft mit bewussten katholischen Christen lebte. Er war immer, auch dann, wenn es nicht nur seiner Karriere, sondern seiner Freizeit und seinem Leben gefährlich wurde, bereit, für die Verfolgten und Unterdrückten einzutreten und ihnen Schutz und Hilfe zu gewähren. Im Freundeskreis der Kreisauer um Graf Moltke fand er gleichgesinnte Freunde. Mit ihnen zusammen, insbesondere mit seinem Freund und Kollegen, dem Legationsrat Adam von Trott zu Solz, hat er die von den Kreisauern entwickelte politische Problematik für ein neues Deutschland durchdacht. Mit dem Kreisauer Kreis zusammen und in Verbindung mit den Männern um Karl Goerdeler hat er die deutsche Politik, insbesondere die deutsche Außenpolitik, erstmalig konsequent unter dem Aspekt einer europäischen Föderation durchdacht. Er, der Spross einer ebenso traditionsbewussten wie freiheitlich gesonnenen Familie, er hat einen wesentlichen Anteil daran, wenn die deutsche Opposition gegen Hitler den Gedanken der nationalen Großmachtpolitik mehr und mehr durch den Gedanken der europäischen Föderation ersetzte.

Zusammen mit Adam von Trott zu Solz stand Hans Bernd von Haeften am 15. August 1944 vor dem Ersten Senat des Volksgerichtshofes in Berlin. Er hing zärtlich an seiner Frau und seiner großen Familie - sein jüngstes Kind war an dem Tag, an dem er starb, noch nicht drei Monate alt. Von ihm, der das Leben und seine Schönheit liebte, wird berichtet, dass er Freisler, dem Blutrichter in der roten Robe, auf die Frage „Wie stehen Sie zum Führer?“ die stolze, ungebrochene Antwort gab: „Ich sehe in ihm das personifizierte Böse der Weltgeschichte.“ Am Abend desselben Tages starb Hans Bernd von Haeften am Galgen von Plötzensee.

Mit ihm wurde zum gleichen Tod verurteilt der Legationsrat Adam von Trott zu Solz. Sie waren Freunde gewesen im Leben. Sie blieben es im Tod. Jeder neue Tag hat sie gemeinsam im Dienste der Freiheit, am Werk der Rettung gesehen. Der Geheimen Staatspolizei wurde es nicht leicht, Adam von Trotts weitgespanntes Wirken zu erkunden. Von seinen Motiven und seinen Gedanken hat sie nur das Wenigste begriffen, von seinem Tun hat sie das Wichtigste nicht zu erfassen vermocht. Er war Diplomat mit Leib und Seele. Er war dazu geboren, Deutschland in der Welt, insbesondere in der angelsächsischen Welt zu vertreten. Wie wenige andere, hat er sein Vaterland, hat er das andere, das geheime Deutschland fremden, aber auch gegnerischen Augen und Ohren verständlich, ja achtunggebietend zu machen vermocht. Sein juristisches Studium hat er mit einer glänzenden Arbeit über Hegel abgeschlossen. Er war als Rhodes Scholar im Balliol College in Oxford gewesen und er hatte sich einen großen Freundskreis unter der Jugend Englands erworben. Er war um die Welt gefahren und in das Vaterland zurückgekehrt. Er hatte gesehen, wie Hitler und die Seinen Deutschland nicht nur in der Welt zu entwürdigen, sondern auch auf das Höchste zu gefährden begannen. Kurz vor dem Krieg war er noch einmal nach England und bald danach - durch die schon bestehende Blockade hindurch - in die Vereinigten Staaten von Amerika gefahren. Sein einziges wirkliches Thema war, Verständnis für das andere Deutschland zu schaffen, eine politische Grundlage zu gewinnen, von der aus der Sturz Hitlers gewagt werden konnte. Der Erfolg blieb ihm ebenso versagt wie seinen Freunden, die sich die gleiche Aufgabe gestellt hatten.

Ein Goerdeler, ein Moltke, ein Bonhoeffer, ein Hassell und mancher andere, der heute noch davon Kunde geben kann, taten dasselbe ohne Rücksicht auf Gefahr und immer neue Enttäuschung. Noch im Juni 1944 war Trott in Schweden. Wo er auch war, in welcher Sprache er auch sprach, er dachte, sprach, lebte für das geheime, für das andere Deutschland. Er sagte die lautere Wahrheit. Zuweilen wurde er als besonders raffinierter Nazi-Agent abgetan und kehrte ergebnislos heim. Als er tot war, hat ihn einer sogar kommunistischer Neigungen bezichtigt, weil er in brennendem Schmerz den Westen der Ignoranz und des Pharisäismus geziehen hatte. Dabei war Adam von Trott nicht weniger als die ehemaligen deutschen Botschafter in Moskau und Rom, nicht weniger als jeder seiner Freunde ein entscheidender Gegner jedes Totalitarismus. Sein Herz, sein ganzes Herz gehörte der Freiheit, der Zukunft Deutschlands in der brüderlichen Gemeinschaft der freien Völker. Deshalb starb er am 26. August 1944 den Tod am Galgen von Plötzensee.

„Vom anderen Deutschland“ sind die Tagebuchblätter überschrieben, die Ulrich von Hassell, weiland deutscher Botschafter am Quirinal, uns hinterlassen hat. Wie wenig anderes, geben sie einen unmittelbaren, den Augenblick festhaltenden Eindruck jener ruchlosen Jahre, deren Grauen da und dort einer ganz unzeitgemäßen Gedankenlosigkeit zu weichen begonnen hat. Aus hannoverschem Adel stammend, war der junge Assessor mit Erlass vom 13. April 1909 in das Auswärtige Amt einberufen worden. Zwei Jahre später ist er auf seinem ersten Auslandsposten. In der Marneschlacht wird der Leutnant schwer verwundet. Eine Kugel dringt ihm ins Herz. Er wird gerettet. Nach dem Krieg ist er in Rom, in Barcelona, in Kopenhagen, in Belgrad und schließlich seit Herbst 1932 als Botschafter wieder in Rom. Schon vor der Übernahme des Auswärtigen Amtes durch Ribbentrop kommt es zwischen Hassell und Ribbentrop zu Differenzen. Man sagt ihm eine negative Einstellung zu den Ideen Ribbentrops nach. Im Januar 1938 wird er aus Rom abberufen und in den Wartestand versetzt. Unter Hitler gibt es für ihn, den hoch gebildeten Historiker und Schriftsteller, für ihn den erfahrenen Diplomaten, den auf das Ganze und Wesentliche drängenden Politiker, keine Verwendung mehr. Seit Jahren hat er sich mit dem geheimen Deutschland verbündet. Sein Leben, seine Arbeit gehört dem gegen Hitler verschworenen Deutschland. In seiner gelassenen, heiteren, treffsicheren Art wird er ein Vertrauter, ein unentbehrlicher Mittler zwischen den älteren und den jüngeren Männern im Widerstand gegen Hitler. Dabei entfaltet er, der Kaltgestellte, ein weitgehendes öffentliches Wirken. Im Medium der historischen Vergegenwärtigung weist er die Nachdenklichen auf das Verhängnis Hitlers hin. Er spricht, mahnt, ordnet und drängt, insbesondere zusammen mit dem Freund und Gefährten Johannes Popitz, unablässig zur Tat. Im Kreis von Beck, Popitz, Haushofer, Sauerbruch und Jessen hat er seine politische Heimat. Nach dem gescheiterten Attentat führt er, wie einer seiner Söhne berichtet, äußerlich unbekümmert sein Leben weiter in sicherer Erwartung des nahen Todes. Er, der Frau und Kindern ein Leben lang mit großer Liebe zugetan war, macht im Angesicht der hereinbrechenden Katastrophe keinen Augenblick den Versuch, auszuweichen oder sich in Sicherheit zu bringen. Gelassen steht er vor den Männern in der roten Robe, ungebrochen, edelmännisch empfängt er das Todesurteil und am Abend des gleichen Tages, am 8. September 1944, stirbt Ulrich von Hassell in Plötzensee den Tod, in den ihm so viele seiner Freunde vorausgegangen und noch mehr gefolgt sind.

Einige Monate nach dem ehemaligen deutschen Botschafter am Quirinal wurde der ehemalige deutsche Botschafter beim Kreml, Graf Werner von der Schulenburg, in Plötzensee hingerichtet. Tiflis, Beirut, Damaskus, Teheran, Bukarest und schließlich Moskau, das sind die Orte, an denen Graf von der Schulenburg als Vertreter des Deutschen Reiches, als Angehöriger des auswärtigen Dienstes, ein Leben lang gewirkt hat. Sein Gesicht und sein Denken waren nach dem Osten gerichtet. Er hat mit seiner diskreten, geduldigen Art auf all diesen Posten Deutschland ohne Zweifel hervorragend gedient. Es wird berichtet, dass er, der Vertreter eines in hohem Maße gefürchteten, ja gehassten Landes von Stalin mit besonderer Achtung, ja, Wertschätzung behandelt worden sei. Schulenburg hat alles getan, was ein deutscher Diplomat im Dritten Reich nur tun konnte, um mit seinem Rat und Urteil den Zweifrontenkrieg, den Krieg mit Russland jedenfalls zu verhindern. Ihn, den Erfahrenen, der Russlands Tiefen und Asiens Menschenreservoir kannte, ihn konnten auch die Anfangserfolge im Russlandfeldzug nicht täuschen. Er wusste, dass in der Weite dieses Landes den deutschen Armeen, so kampferprobt sie waren, bittere Erfahrungen und schließlich blutige Niederlagen beschieden sein würden. Er, der bis zu Beginn des Russlandfeldzuges eine große Botschaft in Moskau geleitet hat, war kein geborenes Glied der Verschwörung gegen Hitler. Zwar war er von je Hitler und seinem System in den Tiefen seines Herzens abhold, aber als er die Berliner Bühne betrat, sah er nur den Zusammenbruch, der kommen musste, wenn es nicht gelang, den Zweifrontenkrieg bald zu beenden. Schulenburgs Leitgedanke war von Anfang an der Gedanke der Erhaltung des deutsch-russischen Gleichgewichts gewesen. Mit legalen und schließlich auch mit illegalen Mitteln blieb er diesem Gedanken treu. Er, der korrekte und loyale Diplomat, hat fast unmerklich die Grenze überschritten, auf der der Diplomat aufhört Diplomat zu sein und Politiker wird. Es war deshalb nur folgerichtig, wenn Graf von der Schulenburg sich mit dem Gedanken vertraut machte, Ribbentrop nach einem gewaltsamen Sturz Hitlers zu ersetzen, um damit die Außenpolitik des Reiches bestimmen zu können. Im Kreis der führenden Köpfe der deutschen Opposition gegen Hitler war Schulenburg deshalb nicht nur ein Mann neben anderen, sondern er war ein bestimmtes Programm deutscher Außenpolitik, zu dem man Ja oder Nein sagen musste. Die Debatte darüber ist nie ganz ausgetragen worden. Und mit dem Leitgedanken seines Programms ist Schulenburg schließlich wohl allein geblieben. So beharrlich sich der Westen dem anderen Deutschland auch versagte, so wenig konnten sich die Hitler auf Leben und Tod angreifenden Deutschen des 20. Juli dazu entschließen, mit der totalitären Diktatur im Osten wirklich Verbindung zu nehmen. Es ehrt den Botschafter Graf von der Schulenburg, dass er seiner Linie und ihrem Grundgedanken treu, jedes Risiko auf sich zu nehmen bereit war. Als er im Auswärtigen Amt mit seinen Vorstellungen nicht durchzudringen vermochte, stellte er sich dem anderen Deutschland zur Verfügung. Noch sehe ich ihn, den Zellennachbarn, mir gegenüber, wie er mit leiser Gebärde, unauffällig, höflich den diensttuenden Wachtmeister in Tegel darum bittet, zum Friseur geführt zu werden. Und noch sehe ich, wie der Wachtmeister verlegen dem in Ketten liegendem Botschafter zu bedeuten versuchte, dass man unter dem Galgen dergleichen nicht mehr bedürfe. Am Tag danach, am 10. November 1944, starb Graf von der Schulenburg an demselben Ort, an dem ein anderer Träger seines Namens, Fritz Dietlof Graf von der Schulenburg, der kühne Fritzi, Monate zuvor geendet hatte.

Vom Thomas-Gymnasium in Leipzig und vom Kadettenkorps war Eduard Brücklmeier gekommen. In Würzburg hat er sein juristisches Studium abgeschlossen. Dann war er in das Auswärtige Amt eingetreten. Auch er hat im Osten begonnen, in Bagdad und Teheran, bis er im Konsulat in Colombo Vizekonsul und schließlich in London Legationssekretär geworden war. Schon vor dem Krieg war er einmal verhaftet und dann in den Ruhestand versetzt worden, weil er sich höchst polemisch über Hitler und seine Partei ausgelassen hatte. Von seiner konsularischen Tätigkeit war ihm der Ruf- und Neckname Colombo geblieben. In dem Kreis der Helfer, die den führenden Männern des deutschen Widerstandes treu ergeben waren, nimmt Eduard Brücklmeier einen besonderen Platz ein. Wenn man ihn brauchte, wofür auch immer es galt, er war zur Stelle. Er, der junge, aus dem Dienst entlassene Legationsrat, war und blieb ein heiterer, liebenswürdiger Mensch. Einige Wochen nach dem 20. Juli 1944 begegneten wir uns in einem Gang des Gestapo-Gefängnisses in der Lehrter Straße in Berlin. Im hellen Sportanzug schritt er an mir vorüber, heiter, lächelnd wie immer, ein vom Tode Gezeichneter und bald danach ein zwischen seinen Freunden in Plötzensee Endender.

Der Gesandte Otto Kiep ist am 26. August 1944 ebenfalls in Plötzensee hingerichtet worden, obwohl er nicht unmittelbar zum 20. Juli gehörte. Am 1. Juli 1944 war er bereits zum Tode verurteilt worden. Er war das Opfer einer jener schmählichen Denunziationen, die viele das Leben gekostet haben. Im Dezember 1918 war er in das Auswärtige Amt gekommen. Im Haag, in Washington und in New York war er auf Posten gewesen. 1933 war er schon in Ungnade gefallen und in den Ruhestand versetzt, später aber erneut im Amt verwendet worden. Seiner vortrefflichen juristischen Schulung, seinem gesunden Urteil und seiner großen Leistungsfähigkeit hat er eine hervorragende Beurteilung seiner dienstlichen Tätigkeit zu verdanken. Aber auch dem geschulten Diplomaten war es nicht gegeben, Herz und Zunge in jedem Augenblick so in der Hand zu halten, dass er nicht von einem besonders gemeinen Lockspitzel hätte provoziert werden können. Als in der „Wolfsschanze“ bei Rastenburg in Ostpreußen die Hitler zugedachte Bombe explodierte, war Otto Kiep ein schon seit Wochen zum Tode Verurteilter. Er wäre gerettet gewesen und hätte dem neuen Deutschland ausgezeichnet gedient, wenn der Staatsstreich gelungen wäre. Als er starb, lag seine Frau noch als Gefangene im Konzentrationslager Ravensbrück.

Die meisten Gefängnisse und Konzentrationslager in Deutschland hatten sich bereits geleert, und der Geschützdonner des Zweiten Weltkrieges war schon am verstummen, als der Legationssekretär Herbert Mumm von Schwarzenstein hingerichtet wurde. Er war ein Mann, der, um die Jahrhundertwende geboren, nach dem Ersten Weltkrieg in das Auswärtige Amt eintrat, Legationssekretär in London und Tokio wurde, dort unter Botschafter Solf gedient hat, später in Oslo auf Posten gewesen ist und im Jahre 1935 als Gegner des Systems zum ersten Mal inhaftiert wurde. Als er aus der Haft entlassen wird, wirkt er mit seiner ganzen Kraft für die Beseitigung Hitlers. Zusammen mit seinem Freunde Nikolaus von Halem entwickelt er seine kühnen Pläne zur gewaltsamen Beseitigung Hitlers. Er stürzt über der Unzuverlässigkeit eines umstrittenen Mannes, der sich für ein Attentat bereit gefunden hatte. Seit 1942 liegt er im Kerker der Gestapo. Kurz vor dem Staatsstreich wird er vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt. Er wartet lange. Immer dramatischer wird der Wettlauf zwischen Freiheit und Tod. Die lange in der Schwebe hängende Schale senkt sich plötzlich. Am 20. April 1945 wird Herbert Mumm von Schwarzenstein als einer der Letzten an der Stätte vieler seiner Freunde und Kameraden hingerichtet.

Bald nach Otto Kiep wurde der Botschaftsrat Albrecht Graf von Bernstorff verhaftet. Er verlor die Freiheit als Freund und Gesinnungsgenosse Kieps. Schon Jahre zuvor hatte er sein Amt verloren. Einem Ausländer hatte er im April 1934 einmal gesagt: „Germany is going to the dogs.“ Der Mann hatte ihn angezeigt, und Bernstorff war es mit knapper Not gelungen, Freiheit und Leben noch einmal zu retten. In Oxford hatte er seine Studien abgeschlossen. Während des Ersten Weltkrieges war er in das Auswärtige Amt berufen worden. An der deutschen Botschaft in London war er zeitweise Geschäftsträger gewesen. Als er nach 1933 abberufen wurde, hat die „Times“ von ihm geschrieben: „Bernstorff hat mehr als irgendeine andere deutsche Persönlichkeit dazu getan, dass die englisch-deutschen Beziehungen sich ständig verbesserten.“ London verliere mit ihm „einen der besten Männer der Nachkriegspolitik“, hat der „Observer“ gesagt, „denn bei aller Sympathie für England habe es keinen deutscheren Deutschen und keinen Mann gegeben, der die Interessen der Wilhelm-Straße besser vertrat als der Botschaftsrat Graf Bernstorff“. Im November 1944 wird gegen ihn, Frau Solf und vier andere Anklage auf Hochverrat vor dem Volksgerichtshof erhoben. Die Verhandlung wird mehrmals verschoben und findet schließlich auch nicht mehr statt. Dennoch war ihm die Rückkehr in die Freiheit und in das Leben verwehrt. In der Nacht vom 23. auf den 24. April 1945 wird er von einem Sonderkommando der Gestapo in der Nähe des Lehrter Bahnhofs in Berlin durch Genickschuss ermordet. Seine Schwester, die Diakonisse Gräfin Bernstorff, hatte einige Wochen zuvor den während eines Luftangriffs tödlich verunglückten Blutrichter des Dritten Reiches, den Präsidenten des Volksgerichtshofes, Freisler, bis zu seinem Tode gepflegt.

Mit Graf Bernstorff zusammen starb der ehemalige Vortragende Legationsrat im Auswärtigen Amt Richard Kuenzer. Auch er gehörte zu dem Kreis um Frau Solf. 1875 geboren, wird er nach der Jahrhundertwende dem Konsulat Paris zugeteilt. Er arbeitet in Kapstadt und Johannesburg, ist Konsul in Sansibar und Lugano und wird nach dem Ersten Weltkrieg Vortragender Legationsrat im Auswärtigen Amt. 1933 wird er als ein Opfer des Gesetzes zur sogenannten „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ in den Ruhestand versetzt. Wegen Beteiligung an den Vorgängen des 20. Juli 1944 ist - wie der amtliche Vermerk in den Personalpapieren besagt - am 14. November 1944 Anklage gegen ihn erhoben worden. Die erwartete Verurteilung durch den Volksgerichtshof findet nach dem Tode Freislers nicht mehr statt. Aber auch ihm ist die Rückkehr in die Freiheit und das Leben nicht bestimmt. Zusammen mit Graf Bernstorff fällt Geheimrat Kuenzer in der Nacht vom 23. zum 24. April 1945 durch den Genickschuss der Gestapo.

In einer Geschichte des deutschen Widerstandes wird von ihm gesagt: „Dieser edle und zurückhaltende Mensch war durch seine leidenschaftliche Bejahung des Menschenrechts und der Freiheit, der höchsten Werte der Moral und des Christentums zu einem wahrhaft revolutionären Kämpfer geworden.“

Zum Schluss muss hier noch eines Mannes gedacht werden, über den sich in den Akten des Auswärtigen Amtes nur wenige knappe Aufzeichnungen befinden. Hans Litter gehörte noch nicht zu den Beamten des Amtes. 1913 geboren, war der junge Dr. jur. 1940 als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter in das Auswärtige Amt eingetreten. Zwei Jahre später wird er an die Front geschickt. Im Sommer 1943 kehrt der Oberleutnant zu einem kurzen Arbeitsurlaub in die Politische Abteilung zurück. Im Herbst ist er wieder bei der Wehrmacht. Am 5. Oktober 1943 wird er vom Feldgericht der Wehrmachtskommandantur Berlin „wegen Zersetzung der Wehrkraft“ zum Tode verurteilt. Das Wenige, was wir von ihm wissen, lässt darauf schließen, dass Hans Litter nicht zuletzt aufgrund seiner im Auswärtigen Amt gewonnenen Eindrücke seinen lauten Zweifel am Endsieg des Führers geäußert hat. Er hatte gedacht und er hatte argumentiert und er war darüber mit der brutalen Gewalt, mit dem Terror des totalen Staates zusammengestoßen. Am 21. Januar 1944 wurde das Urteil der Schergen Hitlers an Hans Litter in Tegel vollstreckt.

Die amerikanische Zeitschrift „Human Events“ hat 1946 einen Bericht des Amerikaners E. A. Bayne veröffentlicht. Er hatte während des Krieges in Afrika, China und Europa gedient. In diesem Bericht über das deutsche Auswärtige Amt heißt es, dass der deutsche diplomatische Dienst seit der Übernahme des Auswärtigen Amtes durch Ribbentrop mit Leuten durchsetzt gewesen sei, „von denen viele eine teuflische und schändliche Rolle gespielt haben“. Um so mehr Grund sei vorhanden, „jenen mutigen Berufsdiplomaten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die zu ihrer Überzeugung und zu ihren Grundsätzen gestanden haben“. Wenn es schon wahr ist, dass die Mehrheit des deutschen Volkes auch heute noch wenig weiß von dem anderen, von dem geheimen Deutschland, das die Tat des 20. Juli getragen und verantwortet hat, so weiß sie noch viel weniger von dem Beitrag, den der auswärtige Dienst des Deutschen Reiches im Kampf jenes anderen Deutschland geleistet hat. Es ist an der Zeit, jener besonderen Verdammung mit Nachdruck zu begegnen, die im Inland wie im Ausland das Auswärtige Amt getroffen hat. Dem Auswärtigen Amt war zweifellos eine besonders große Verantwortung zugefallen. Schon seine Gleichstellung durch Ribbentrop war deshalb eine Katastrophe. Man mag darüber klagen, dass der Widerstand dagegen aus dem Amt selbst heraus nicht breiter, härter und konsequenter erfolgte. Aber heute, nach zehn Jahren, ist erwiesen, dass innerhalb der Ministerien und amtlichen Organisationen des Deutschen Reiches es außer in der Armee nur noch im Auswärtigen Amt eine relativ dicht gefügte, aktive Gemeinschaft von Männern gab, die jahrelang planmäßig am Sturz Hitlers gearbeitet hat. Diejenigen, die auf den Richtstätten geendet haben, sind dem Zwielicht entrückt, in das jeder geriet, der unter Ribbentrop gehorchen musste. Andere, die jener Gemeinschaft angehörten, aber dem Galgen entrannen, sind auch heute noch zuweilen dem Verdacht und der Anklage ausgesetzt, dass sie zu den Paladinen des Dritten Reiches gehörten. Schon trauen sich allerdings wieder jene vor das deutsche Volk, die darin keinen Tadel sondern ein Lob erblicken. Sie raunen und reden von Landesverrat, von Unterwühlung, von Dolchstoß.

Dagegen darf nicht verteidigt, hier muss angegriffen werden! Angesichts der Tiefe des dem deutschen Volk zuteil gewordenen Schicksals, der Lauterkeit der Opfer, die auch vom auswärtigen Dienst des Deutschen Reiches gebracht wurden, und des nur noch von Bösewichten zu bestreitenden, monumental in der Geschichte stehenden Schuld- und Schicksalszusammenhangs bedarf es keiner Verteidigung. Es gibt keinen Ort im Lebensbereich der deutschen Nation, von dem aus der aktive deutsche Widerstand gegen Hitler mit Fug und Recht angegriffen werden könnte. Man mag die militärische Durchführung des Staatsstreichs kritisieren. Man mag über die politischen Meinungsverschiedenheiten des anderen Deutschlands, über seine organisatorische Schwäche, über seine versäumten Gelegenheiten klagen. Ja, man mag das schließlich allein noch bleibende Mittel des Attentats verwerfen und das schweigende Erdulden preisen. Das alles kann hingenommen werden. Aber nicht hingenommen werden kann die Berufung auf Eid und Treuepflicht gegenüber dem zum ruchlosen Mörder gewordenen obersten Kriegsherrn und denen, die ihm, wie ein Ribbentrop, dabei blindlings Vorschub geleistet haben. Die Auflösung des Rechtsstaates, die Zerstörung aller Fundamente, auf denen der Beamten- wie der Fahneneid für den Eidnehmer wie für den Eidgeber steht, war im Reiche Adolf Hitlers schließlich so sinnfällig geworden, dass es keiner langen Reflexion bedürfte, um das Recht, ja die Pflicht zum Widerstand zu erkennen.

Schon die ersten planmäßigen Schritte und Versuche der im auswärtigen Dienst gegen Hitler verschworenen Männer wurden deshalb mit dem Ziel getan, Hitler zu stürzen und dem Dritten Reich ein Ende zu machen. Keiner von denen, die daran teilnahmen, ob sie leben oder tot sind, war des Glaubens, dass er sich dem entziehen dürfe, ohne das Vaterland zu verraten.

Die auswärtige Politik der deutschen Opposition gegen Hitler war von ihren Anfängen bis zu ihrem Ende in der Nacht nach dem 20. Juli 1944 in allen ihren Wandlungen von dem gleichen Thema bestimmt. Es hieß von 1936 bis 1939: Verhinderung des Krieges durch den Sturz Hitlers. Es hieß vom Kriegsbeginn an durch jede Phase des Krieges bis zum Beginn des Russlandfeldzuges: Eingrenzung des Krieges und Friedensschluss durch die Beseitigung Hitlers. Und es hieß von Stalingrad bis zum 20. Juli 1944: Bewahrung von Millionen Menschen vor der physischen Vernichtung, Rettung Deutschlands durch den Staatsstreich gegen Hitler.

Es ist heute erwiesen, dass Männer des Auswärtigen Amtes die englische Regierung während der Sudetenkrise völlig unmissverständlich davor gewarnt haben, Hitler entgegenzukommen. Es ist erwiesen, dass der damalige Staatssekretär im Auswärtigen Amt Freiherr von Weizsäcker im Einvernehmen mit dem damaligen Chef des Generalstabs, dem Generalobersten Beck, den britischen Außenminister Lord Halifax auffordern ließ, eine unmissverständliche, klare Erklärung der englischen Regierung gegen Hitlers Kriegspolitik abzugeben. Und es ist erwiesen, dass Herr von Weizsäcker gleichzeitig durch den heutigen deutschen Botschafter in Athen Theo Kordt sagen ließ: „Wenn die erbetene Erklärung gegeben wird, so sind die Führer der Armee bereit, gegen Hitlers Politik mit Waffengewalt aufzutreten.“ Nach menschlichem Ermessen haben die damaligen Ministerpräsidenten Englands und Frankreichs, Chamberlain und Daladier, mit ihrer Münchener Reise im Herbst 1938 Hitler gerettet und die Aktion so lange vertagt, bis sie am 20. Juli 1944 zu einem unerhörten Risiko geworden war. Kurz nach München schrieb Goerdeler, der Motor des frühen zivilen Widerstandes, an einen amerikanischen Freund: „Die Welt war rechtzeitig gewarnt und unterrichtet worden. Wenn man die Warnung beachtet und danach gehandelt hätte, würde Deutschland schon heute frei von seinem Diktator sein und ... wir können damit beginnen, einen dauerhaften Weltfrieden zu gestalten, der auf Gerechtigkeit, Vernunft und Anstand beruht.“

Hier sind die Grundmotive angesprochen, die in den Jahren danach immer stärker wiederkehren. Aus dem Herbst 1939 stammt eine Denkschrift, deren Hauptteil erhalten ist. Sie fordert aus zwingenden politischen, militärischen und moralischen Überlegungen den Sturz Hitlers noch vor dem beabsichtigten Einfall in Belgien. Verfasser der Denkschrift war der damalige Vertreter des Auswärtigen Amtes beim Oberkommando der Wehrmacht, der heutige Gesandte von Etzdorf. - Zusammen mit den Tagebüchern des Botschafters Ulrich von Hassell ist uns ein von ihm entworfenes Programm aus dem Jahre 1940 erhalten geblieben. In diesen Dokumenten von bleibendem geschichtlichem Wert heißt es, dass die nationalsozialistischen Machthaber eine Politik betrieben, „welche die Seele des deutschen Volkes zu töten geeignet“ sei. Dem Volke wurde weisgemacht, dass die Missachtung aller Grundsätze und Bindungen „Realpolitik“ sei.

Vor dem drohenden Russlandfeldzug arbeiteten die Diplomaten des Kreises um Graf Moltke, „die Kreisauer“ genannt, eine Denkschrift aus, die über Genf an die englische Regierung ging. In ihr wurde dargelegt, dass das Ende vom Lied ein „weißes“ und ein „rotes“ Deutschland sein würden. Dass auf den Trümmern im Herzen Deutschlands die rote Fahne wehen werde und die freie Welt des Westens dadurch am Ende des Krieges auf unabsehbare Zeit gefährdet und geschwächt sein werde. Es sei deshalb von großer Bedeutung, eine politische Basis zu finden, die den Sturz Hitlers durch die deutsche Armee ermögliche. Das andere Deutschland blieb ohne Antwort.

An Pfingsten 1942 wurde der Bischof von Chichester, der sich auf einer Reise durch Schweden befand, durch zwei deutsche kirchliche Persönlichkeiten, den Direktor der Studienabteilung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf Hans Schönfeld und Pfarrer Dietrich Bonhoeffer um Vermittlung bei seiner Regierung gebeten. Schönfeld übergab ein Memorandum, das von Haeften, Trott, Moltke und andern Mitgliedern des Kreisauer Kreises bearbeitet war. In diesem Schriftstück wurde die Existenz des geheimen Deutschlands mit genauen Personal- und Sachangaben beglaubigt. In dem Programm, das nach der Beseitigung Hitlers die Politik Deutschlands bestimmen sollte, heißt es - übrigens in Übereinstimmung mit gleichlautenden Äußerungen Karl Goerdelers -, dass eine europäische Föderation freier Staaten und Nationen angestrebt werde. Sie sollte eine gemeinsam Exekutive haben, unter deren Herrschaft eine europäische Armee für die dauernde Wahrung der europäischen Sicherheit sorgen solle. Der englische Außenminister Mr. Eden hat seinem Lordbischof am 17. Juli 1942 mitgeteilt, dass die englische Regierung beschlossen habe, auch daraufhin „nichts zu unternehmen“. Aber es bleibt ein Ehrentitel und ein großes Vermächtnis des Widerstandes gegen Hitler im auswärtigen Dienst des deutschen Reiches, dass er das Leitbild klärte und programmatisch umschrieb, das heute das politische Denken und Handeln im freien Deutschland und in den freien Völkern des europäischen Kontinents bestimmt.

Im Januar 1943 haben die westlichen Alliierten in Casablanca „die bedingungslose Kapitulation Deutschlands“ als Kriegsziel proklamiert. Von Stund an wurden die außenpolitischen Bemühungen der deutschen Opposition gegen Hitler verzweifelt schwierig, ja aussichtslos. Denn diese Bemühungen waren und blieben seit Weizsäckers Botschaft an Lord Halifax darauf gerichtet, den deutschen Soldaten, die bereit waren, die Waffe gegen Hitler zu kehren, die Gewissheit zu geben, dass sie damit für und nicht gegen Deutschland handelten. „Bedingungslose Kapitulation“ - das hieß nicht nur Hitler und die Seinen sondern auch „das andere Deutschland“ auf Gnade und Ungnade in die Hand des Gegners geben. Dennoch gingen die Bemühungen weiter, Zusicherungen zu erlangen, die den Sturz Hitlers von innen ermöglichen sollten. Hassell, Goerdeler, Moltke, Trott und andere fuhren fort, bis einer um den anderen infolge des Polizeidrucks ausfiel. Trott war der Letzte. - Diese Hinweise sind keineswegs erschöpfend. Sie schweigen von dem , was andere Männer des auswärtigen Dienstes für das gleiche Ziel in gleicher Gesinnung getan haben. Diese kurze Darstellung beschränkt sich auf das, was dokumentarisch belegt und unbezweifelbar geworden ist, und auf Einiges, wofür ich Zeuge bin.

Es wird ohne Anklage gesagt, aber es ist wahr und darf nicht verschwiegen werden: Die freie Welt, die schließlich gegen Hitler zu den Waffen griff und ihn vernichtet hat, diese freie Welt hat die faire Bundesgenossenschaft des anderen Deutschlands ausgeschlagen. In der schweigenden Ablehnung auch des gegen Hitler kämpfenden Deutschland drückt sich die tragische geschichtliche Situation aus, in die Deutschland nicht allein durch Hitler, aber vor allem durch ihn gebracht wurde. Es stellt sich darin der Teufelskreis dar, in den wir alle - das eine wie das andere Deutschland - geschlagen waren. Nach dem, was im Namen Deutschlands geschehen, nach dem, was an Vertrauen vernichtet war, hätte es erst des glaubhaften Ereignisses bedurft, einer sich selber beglaubigenden, offen vollzogenen Entscheidung für die Freiheit, um als Bundesgenosse der freien Welt annehmbar zu sein. Um diese Entscheidung geschichtlich sichtbar zu machen, um den Sturz Hitlers mit Aussicht auf Erfolg betreiben zu können, war aber - so wie die Dinge lagen - die Anerkennung des anderen Deutschlands und die Zusammenarbeit mit ihm durch die freie Welt notwendig. Jeder Versuch einer Kooperation zur Förderung des Landesverrats war von vornherein zweck- und aussichtslos, denn den Männern des 20. Juli war es eben nicht um die Preisgabe, sondern um die Rettung Deutschlands zu tun.

Das gilt uneingeschränkt auch von allen Überlegungen über das Verhältnis Deutschlands zum sowjetischen Osten. Sie mussten von den führenden Köpfen der deutschen Opposition gegen Hitler angesichts der westlichen Ablehnung schließlich angestellt werden. Nicht nur Schulenburg sondern auch Hassell, Trott und Haeften mussten - und darin liegt auch noch heute und in Zukunft eine unüberhörbare Warnung - mit ihrem Freundeskreis von Moltke bis Stauffenberg durchdenken, was Deutschland aufgegeben wäre, wenn es der freie Westen gewaltsam preis gäbe. Dem „anderen Deutschland“ gegenüber hatte sich dieser Westen in sieben Jahren bitteren Kampfes und Erleidens so verhalten, dass wie Trott sagte, zu befürchten sei, „die Demokratien trotz ihres Sieges den Frieden verlieren werden und dass die gegenwärtige Diktatur in Mitteleuropa nur für eine andere eingetauscht werden wird“.

Es steht uns, wie gesagt, dennoch nicht zu, Klage und Schuld auf andere zurückzuwerfen. Allein auf sich gestellt musste das andere Deutschland sich vor sich selbst und vor der Welt bewähren und verantworten. Den Sturz des Reiches zu verhindern, war ihm nicht gegeben. Der Dämon Hitlers riss es hinab.

Ein anderes aber hat sich ereignet. In dem äußerlich erfolglosen, jahrelangen, bitteren Ringen des anderen Deutschlands mit Hitler, seinen Genossen und seinen Ideen hat sich eine tiefe Wandlung unseres nationalen Bewusstseins vollzogen. Stellvertretend für die ganze Nation haben sich ihr die gegen die Tyrannei Verschworenen dargeboten. Sie haben bewusst durchlebt, erlitten, erfahren und mit Willen bejaht, was Millionen Deutsche gleichzeitig oder danach als Wahrheit erahnten und erfühlten. Sie haben die dämonische Gewalt des im totalitären Staat Adolf Hitlers entfesselten militanten Nationalismus erkannt. Sie sind seiner Tafel der Werte entgegengetreten mit einem an den Geboten Gottes geschärften Gewissen. Sie sind in den Kampf und viele von ihnen in den Tod gegangen in der Überzeugung, dass es keinem Volk und keinem Staat erlaubt sei, die Wahrheit zu hindern und die Freiheit zu schänden im Namen der Nation. Sie waren damit nicht des Glaubens, dass die subjektive Einsicht das Maß aller Dinge und der Gehorsam an sich fragwürdig sei. Sie waren jedoch des Glaubens, dass im modernen Massenstaat der Nationalismus von einem Augenblick zum anderen eine tödliche Gefahr werde, wenn das nationale Gefühl des Volkes nicht geläutert und in Zucht gehalten werde von Gottes Gebot und Ordnung.

Den Diplomaten des Deutschen Reiches, derer wir heute gedenken, ist mit vielen anderen in Treue und Gehorsam bewährten Dienern des Staates darüber eine neue Erfahrung, eine Urerfahrung des Rechtes zuteil geworden. Sie erkannten, dass auch der Mensch unserer Zeit über Nacht in Grenzsituationen gestellt sein kann, in denen das positive Recht mitsamt seiner formal kompetenten Staatsgewalt aufhört, wahres, gerechtes - vor dem Gebot und den Ordnungen vertretbares Recht zu sein. Die Wandlung des nationalen Bewusstseins der Deutschen im Anblick der sich auf die Legitimation durch die Nation berufenen Tyrannei ist vielschichtig und nicht mit wenigen Worten deutbar. Dass diese Wandlung sich aber im Gewissen ungezählter Deutscher ereignet hat, das beweist jene Urerfahrung des Rechtes. Sie ist ein entscheidendes Erlebnis unserer Generation und ein Grundmotiv der neuen deutschen Staatsgestaltung geworden. Die Wandlung des nationalen Bewusstseins der Deutschen hat in einem Zweiten, Entscheidenden ihren Ausdruck gefunden. Ihr entstammt das Leitbild, das die deutsche Politik, die deutsche Außenpolitik bestimmt, seitdem es wieder eine eigenständige deutsche Politik gibt. Der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland hat das Erbe des weiland geheimen Deutschlands in behutsame, aber feste Hände genommen, als er den Gedanken der europäischen Föderation, der bundesstaatlichen Einigung Europas zum Leitmotiv der deutschen Politik, zur Basis der Rückkehr Deutschlands in die Gemeinschaft der freien Völker gemacht hat. Wer der Meinung sein sollte, dass das Ja Deutschlands zur Einigung Europas nur ein taktisches Mittel zur rascheren Wiedererlangung alter deutscher Positionen in einem schließlich doch unverändert nationalstaatlich souverän geordneten Europa sei, der hat keine Ahnung davon, aus welcher Tiefe der gewissensmäßigen Erfahrung, aus welchem Feld des Leidens und der Wandlung diese Frucht stammt. Ob Deutschland das Feuer zweier Weltkriege und die Jahre verruchter Tyrannei vergeblich oder mit bleibendem Gewinn erlitten hat, ob seine Edelsten umsonst oder zum Segen seiner Zukunft den Tod durch Henkershand erlitten haben - das entscheidet sich menschlich gesprochen daran, ob dieses Leitbild neuer deutscher europäischer Politik Wirklichkeit wird oder als unerreichbares Ideal gestaltlos versinkt.

Der Wiederkehr der Dämonen und dem Abfall zu den alten Göttern nationalstaatlichen Souveränitätsdenkens zu widerstehen - das ist das Vermächtnis und die Verheißung des weiland geheimen an das Deutschland von heute. Dieses Vermächtnis treu zu verwalten, ist eine Ehre, ein würdiger Dank des neuen deutschen Auswärtigen Amtes an die auch unter Versagen und menschlicher Unzulänglichkeit niemals erstickte große Tradition des deutschen auswärtigen Dienstes. Dass wir das heute - zehn Jahre danach - in Ehrerbietung und Demut sagen dürfen, danken wir vor allem Jenen, die ihr Leben dafür gaben. Mögen sie für immer Vorbilder des Amtes bleiben. Und mögen ihre Witwen, ihre Söhne und Töchter, ihre Gefährten und Freunde im Gedenken an sie der Verheißung inne sein, die in einem prophetischen Buch des Alten Testaments auch ihrem Tun und Opfer zuerkannt wird: „Die so viele zur Gerechtigkeit weisen, werden leuchten wie die Sterne, immer und ewiglich.“







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21.07.1954
Dr. h.c. Konrad Adenauer
Dr. h.c. Konrad Adenauer