Menschlichkeit, Freiheit und Recht

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Gerhard Schröder

Menschlichkeit, Freiheit und Recht

Gedenkansprache des Bundesministers des Innern Dr. Gerhard Schröder am 19. Juli 1958 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Hochansehnliche Versammlung! Ich soll Ihnen allen und ganz Berlin die herzlichsten Grüße des Herrn Bundeskanzlers überbringen. Der Herr Bundeskanzler bedauert schmerzlich, heute in dieser Stunde nicht hier sein zu können und genötigt worden zu sein, seine Berliner Reise, die seit langem intensiv geplant war, zu verschieben. Die Gründe, aus denen er seine Reise verschieben musste und aus denen er an der heutigen Stunde nicht teilnehmen kann, sind ein Hinweis darauf, dass wir in einer sehr ernsten Zeit leben. Es ist eine Mahnung an uns alle, an eine Gefährdung unser aller in einer unbefriedeten Welt, in einer Welt voller Spannungen und Gegensätze. Ich glaube, wir sollten heute eines erkennen: Im Rückblick auf unsere jüngste Vergangenheit sind wir noch keineswegs zu endgültiger Klarheit, Ruhe und innerer Festigung gekommen. Ich glaube auch, es hieße zuviel von den Deutschen insgesamt verlangen, wenn sie schon jetzt eine historisch richtige Einschätzung ihrer jüngsten Vergangenheit haben sollten.

Warum ist das so? Ich glaube, dass der Jammer der Zerreißung unseres Vaterlandes ein schweres Hemmnis darstellt, das uns hindert, als ein wieder hergestelltes, als ein wieder heil gewordenes Volk und als ein heiler Volkskörper eine neue, bessere Entwicklung mit voller Kraft und voller Hingabe betreiben zu können. Ein geteiltes Vaterland bedeutet einen gewaltigen Kräfteverzehr auf seelischem und moralischem Gebiet. Dies ist in Wirklichkeit die schwerste Hypothek, die auf aller deutscher Politik lastet.

Diese Stunde dient nicht der Klage und Anklage sondern ich glaube, wir alle meinen, dass sie eine Stunde der Mahnung und Besinnung ist. Der zwölfjährige Weg des nationalsozialistischen Regimes ist von ungezählten Opfern gesäumt. Und wenn wir heute auf diese Zeit zurücksehen, 25 Jahre nach ihrem Beginn und nun schon 13 Jahre seit ihrem Ende, was ergreift uns letztlich im Rückblick auf diese kurze Epoche deutscher Geschichte?

Ergreift uns am tiefsten die Tatsache, dass eine politische Führung verblendet war, ihre Fehler, ihre Misserfolge, ihre Zerstörungen, die Zahl ihrer Opfer? Nein, ich glaube, das ist es nicht, was uns am tiefsten ergreift sondern am tiefsten ergreift uns das immer neue Erschrecken vor diesem tiefsten Verstoß gegen die Menschlichkeit, gegen die Gesinnung und gegen das Recht. Die Tatsache einer im tiefsten glaubenslosen und daher verantwortungslosen Staatsführung, das ist es, wie ich glaube, was uns mit tiefstem Erschrecken immer aufs Neue ergreift und ergreifen soll. Für das Verderbnis im totalitären Staat sind nicht die Millionenmassen verantwortlich zu machen sondern allein die Inhaber der Macht.

Lassen Sie uns bei allem Leid den Blick nach vorn richten. Ich glaube, dass ein Volk, das wie das deutsche durch ein Schicksal in diesen 25 Jahren gegangen ist, eines notwendig braucht: es braucht den Anruf der Versöhnung. Es braucht den Blick auf die Zukunft, es braucht den Blick auf eine bessere Zukunft, denn nur durch eine bessere Zukunft kann es die Vergangenheit geläutert überwinden. Das ist unsere Hoffnung, das ist unsere Verheißung und das ist der Blick, den wir nach vorne wagen sollten.

Aber dazu gehört eines, dass dieses Volk zu einer Übereinstimmung kommt über seine höchsten Werte. Und dabei muss es wissen, dass es ohne Menschlichkeit und ohne Freiheit kein Recht gibt, und dass es ohne Recht keine friedliche Gesellschaft gegeben hat und geben wird. Und deswegen meine ich, dass wir in dieser Stunde unserem Volk drei Dinge wünschen sollten: Menschlichkeit, Freiheit und Recht. Das sind die besten und tiefsten Wünsche für ein unvergängliches Vaterland.






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