Predigt Plötzensee

Predigt


Ökumenischer Gottesdienst am 20. Juli 2024 um 8 Uhr in der Gedenkstätte Plötzensee anlässlich des 80. Jahrestages des 20. Juli 1944


- Superintendent Carsten Bolz -


Lesungstext: Jes 43,1-4


Aber jetzt, so spricht der HERR,
der dich geschaffen, und der dich gebildet hat:
Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst!
Ich habe dich bei deinem Namen gerufen,
du bist mein.
Wenn du durchs Wasser gehst,
ich bin bei dir,
und durch Ströme,
sie werden dich nicht überfluten.
Wenn du durchs Feuer gehst,
wirst du nicht versengt werden,
und die Flamme wird dich nicht verbrennen.
Denn ich bin der HERR, dein Gott, dein Retter.
Weil Du teuer bist in meinen Augen und wertvoll. 


Gnade sei mit uns und Friede von Gott und von Jesus Christus. Amen.


Fürchte dich nicht! Jesaja erinnert sein Volk an Gottes unverbrüchliche Nähe.


Jesaja erinnert auch uns, liebe Gemeinde, an Gottes unverbrüchliche Nähe – hier bei den Galgen von Plötzensee –


hier, trotz der Galgen von Plötzensee. Auch 80 Jahre danach noch: Fürchte dich nicht!


Als Erinnerungszeichen haben wir uns zum Jubiläum einen König mitgebracht. Ralf Knoblauch hat ihn geschaffen, Ralf Knoblauch: Tischler, Diplomtheologe, Diakon und Bildhauer aus Bonn. Die unantastbare Würde des Menschen ist seit vielen Jahren sein Lebensthema. Es findet Ausdruck in solchen Königsskulpturen aus altem Eichenholz. Sie entstehen in einem spirituellen Prozess in seiner Werkstatt und sind dann weltweit dort präsent, wo die Würde des Menschen angefragt oder bedroht ist. Sie halten das Thema der Menschenwürde im Kontext von Religion, Kultur, Wirtschaft und Politik wach. Mit anderen gemeinsam engagiert er sich unter der Leitidee „Würde – unantastbar“ für ein achtsames und wertschätzendes Miteinander in unserer Zivilgesellschaft.


Hölzerne Königinnen und Könige – Erinnerungszeichen der unantastbaren Würde jedes Menschen – JEDES Menschen! Für mich damit Erinnerungszeichen für Gottes „Fürchte dich nicht! Denn du bist in meinen Augen teuer und wertvoll.“


Als in diesem Frühjahr 20 dieser Königinnen und Könige in der Gedenkkirche Maria Regina Martyrum zu Gast waren, da war mir klar: wenigstens einer von ihnen gehört hier her – hier an diesen Ort, an dem die Würde so vieler mit Füßen getreten wurde, wo die Würde der Menschen ganz offenbar keine Rolle spielte, wo Menschen würdelos hingemordet wurden. Wenigstens einer von ihnen gehört hier her, um sie zu würdigen, ihrer unantastbaren Würde ein Zeichen zu setzen – und das nicht nur im 75. Jahr unseres Grundgesetzes. Zu allen Zeiten gilt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar!


Schon die Psalmbeter im alten Israel wussten das und sangen davon – im achten Psalm zum Beispiel:


Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst, [Gott,]
das Menschenkind, dass du dich seiner annimmst?
Kaum geringer als Gott – so hast du den Menschen geschaffen. Du schmückst ihn mit einer Krone – so schenkst du ihm Herrlichkeit und Würde. (Ps 8,5-6, Basisbibel)
[Würde] so dichtet Kerstin Müllers


Die Krone
ziert Dein Haupt
und Deinen Menschen


Sie erinnert Dich,
dass Du Deine Würde niemals
auf den Scheiterhaufen wirfst


Lebendig,
wie das Holz
muss sie immer wieder erinnert und bewahrt werden


Unantastbar
ist Deine Würde,
denn es darf niemals infrage stehen,
dass Du Königin und König bist


Lebendig
schaukelt die Krone auf Deinem Kopf
und ist niemals wegzudenken


Schaukelt
und erinnert auch mich
an meinen Wert


Aufrecht
schaut Gott Dir in die Augen und mir
auf Augenhöhe richtet Ruach immer wieder auf


Würde unantastbar
ist eine unabdingbare Haltung
in jeder Lebenssekunde
für jedes Leben                                             


© Kerstin Müllers


Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.


Damit geht es los. Mit Gottes Namensruf beginnt jedes Leben. Damit legt Gott den Grund der Würde jedes Menschen.


Kaum geringer als Gott – so hast du den Menschen geschaffen. Du schmückst ihn mit einer Krone – so schenkst du ihm Herrlichkeit und Würde. (Ps 8,6 BB)


Mit Gottes Namensruf ging es los – auch für die Frauen und Männer des Widerstands des 20. Juli. Mit Gottes Namensruf ging es los: Helmuth, Alfred, Claus, Wilhelm, Freya, Liane, Lilo, Rüdiger, Erika ...  und wie sie alle heißen. Sie kennen ihre Namen. Gott hat sie mit Namen gerufen. Deshalb ist es so wichtig, diese Namen immer wieder zu erinnern. Gute jüdische Tradition übrigens. Solange wir die Namen kennen und sie nennen, sind sie nicht tot, bleiben sie lebendig unter uns. „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du gehörst zu mir!“


Jesaja erinnert daran, dass jeder Mensch in Gottes Augen wertvoll und unantastbar ist, dass unsere Würde nicht von äußeren Umständen oder menschlichen Urteilen abhängt:
Sie ist Geschenk Gottes, das niemand nehmen kann.


Diese Grundhaltung widerspricht auch heute allen Bestrebungen, Menschen klein zu machen, widerspricht jeglicher Willkür und Unterdrückung, widerspricht dem Schüren von Angst – dem Versuch jeder Ent-Würdigung eben. So wie Gott uns Menschen bei unserem Namen ruft, so erkennt Gott unsere Einzigartigkeit und unseren unermesslichen Wert an. Dies gilt für alle Menschen, unabhängig von Status, Herkunft oder Lebenssituation. „Wenn du durch Wasser gehst – wenn du durch Feuer gehst“ – ist Gott bei dir.


Das ist für mich eine der kraftvollsten Erinnerungen an meine Verantwortung, an unsere Verantwortung, die Würde jedes Menschen zu achten und zu schützen. Schon die Menschen, derer wir hier heute gedenken, sahen sich offenbar in dieser Verantwortung. Von Claus Schenk von Stauffenberg habe ich gelesen: ‚Ein Mann muss für seine Überzeugungen kämpfen, und es ist unzweifelhaft, dass diejenigen, die diesen Kampf aufnehmen, die Würde des Menschen verteidigen.‘  Und Wilhelm Canaris hat gesagt: 'Ein Mensch kann vernichtet werden, aber niemals seine Würde.'  [leider unbelegte Zitate]


Auch im Manifest der Angehörigen zu diesem Jahrestag „Warum der 20. Juli uns alle angeht“ findet das Widerhall, wenn Sie schreiben: „Unter den Bedingungen der Diktatur fanden sie [die Männer und Frauen des Widerstands] über die Grenzen ihrer Milieus, ihrer politischen Lager und ihrer Überzeugungen zusammen und handelten gemeinsam: für die Wiederherstellung von Recht, Würde und Menschlichkeit, und um Deutschland eine freiheitlich-demokratische Zukunft in einem friedlichen Europa zu ermöglichen.“


für die Wiederherstellung von Würde – Das Handeln Ihrer Angehörigen war ganz offenbar gegründet in der Anerkennung der unantastbaren Würde jedes Einzelnen, die auch in den dunkelsten Zeiten nicht verlorengehen darf. Ihnen war das bewusst – den Mördern und den für die Morde Verantwortlichen offenbar nicht. Nichts sollte übrig bleiben: keine Widerstandskämpfer, keine ihrer Gedanken, nicht einmal ihre Leichen: verhöhnt, ermordet, verbrannt und auf den Rieselfeldern verstreut – äußerstes Maß an Würde-losigkeit.


Jesaja erinnert mich, dass das bei Gott anders ist. Wenn Gott durch Wasser und durch Feuer mitgeht, dann ist Gott auch an diesen Fleischhaken, in den Krematorien und auf den Rieselfeldern dabei. Kein Mensch geht verloren. Auch dort nicht. Wir kennen ihre Namen bis heute und wir nennen ihre Namen bis heute. Denn sie sind teuer in Gottes Augen und wertvoll. Sie handelten aus einem tiefen moralischen und oft auch christlichen Verständnis heraus, dass das Böse bekämpft werden muss, selbst wenn es das eigene Leben kostet. Sie hatten offenbar die Kraft, auf diese unverbrüchliche Zusage Gottes zu vertrauen. Sie gingen durchs Feuer der Verfolgung und standen im Wasser der Gefahr – doch sie hofften, ja sie wussten, dass ihre Taten nicht vergeblich sein würden. 'Ein Mensch kann vernichtet werden, aber niemals seine Würde.' Dafür würdigen wir sie: heute – und gewiss auch in den Jahren, die kommen!


Ihr Opfer fordert mich aber auch heraus, für die Würde der Menschen heute zu streiten – und das nicht nur im Jahr 75 unseres Grundgesetzes. Das ist doch ein Vermächtnis der Männer und Frauen des 20. Juli  1944:


Streitet für die Menschenwürde, die unantastbare!
Legt euch für die ins Zeug, deren Würde heute Tag für Tag mit Füßen getreten wird:
für Jüdinnen und Juden, in beispielloser Weise wieder neu angefeindet – verbal und sogar körperlich bedroht;
für Flüchtende, an Grenzen zurückgeschoben und der Willkür von Behörden und Polizei preisgegeben;
für Frauen, von Männern ausgenutzt und im Männlichkeitswahn sogar umgebracht;
für alle, deren Menschenwürde angetastet, verneint, zerstört, entwürdigt wird. Gott würdigt sie – wir würdigen sie!
Für sie, wie für die hier Ermordeten, stehen wir in der Verantwortung. Für sie, wie für die hier Ermordeten, steht dieser König. Er mahnt anhaltend: 


Einander achten.
Einander nicht beschämen.
Einander in Ehrfurcht begegnen.
Uns verbeugen vor uns selbst,
vor dem anderen
und vor Gott, dem wir alle das Leben und die Würde verdanken.


© Armin Beuscher Köln


So segne Gott die Würde aller Menschen, und helfe uns, für sie zu streiten. Da brechen wir uns wahrlich keine Zacken aus der Krone. Amen. Das werde wahr mit uns.


Und der Friede Gottes, der höher ist, als alles, was wir begreifen können, bewahre uns mit Herz und Sinn in Christus Jesus, unserem Bruder und Herrn.


Amen.