„Sippenhaft“ in Bad Sachsa

Wilhelm Graf von Schwerin von Schwanenfeld

„Sippenhaft“ in Bad Sachsa

Grußwort von Wilhelm Graf von Schwerin von Schwanenfeld zur Eröffnung der Ausstellung „Unsere wahre Identität sollte vernichtet werden“ am 22. November 2016 im Kursaal der Stadt Bad Sachsa

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

vor etwas mehr als 72 Jahren, ich war damals 15 Jahre alt und bin damit heute 87, kam ich spät abends mit der Bahn in Bad Sachsa in Begleitung an. Aber davon später etwas mehr.

Ich ging zu der Zeit in Nordhausen auf das humanistische Gymnasium, nachdem ich das Internat Klosterschule Roßleben, auch in Thüringen, wegen politischer Aktivitäten hatte verlassen müssen. Der Oberstudiendirektor Kurt Sachse am Nordhäuser Gymnasium war 1921 Geschichts- und Lateinlehrer meines Vaters in Roßleben gewesen und bei der Umwandlung von Roßleben zur SS-Heimschule dort politisch nicht mehr tragbar. Daher mein „Unterkommen“ in Nordhausen.

Ich bin verheiratet, habe eine Tochter und zwei Söhne, alle drei sind, gottlob, in Arbeit und Brot und elf Enkelkinder. Meine Frau und ich leben seit 1994, nach meiner Pensionierung bei John Deere in Mannheim, wo ich mich 34 Jahre lang im Konzern mit Landmaschinen beschäftigt habe, nun wieder auf meinem väterlichen Betrieb im Osten Mecklenburgs, ca. 150 km nördlich von Berlin und erfreuen uns täglich an der wunderschönen Landschaft, dem meist guten Wetter und der von mir sehr geschätzten Mischung aus Ackerland, Wald und großen Seen. Back to the roots! Es lebt sich gut in Norddeutschland, einen Steinwurf von Berlin entfernt und wieder zu Hause auf eigenem Grund und Boden.

Die Tatsache, nach genau 50 Jahren wieder zu Hause zu sein, ist überwältigend und deckt die Schwierigkeiten des Neuanfangs mit einem Mantel größter Dankbarkeit zu.

Mein Elternhaus war sehr politisch ausgerichtet. Mein Vater engagierte sich unter anderem für das Deutschtum im damaligen Westpreußen (auch Korridor genannt, weil zwischen dem Reichsgebiet und Ostpreußen gelegen und 1918 an Polen gefallen).

Die Familie hatte dort neben dem mecklenburgischen Betrieb auch noch einen Waldbesitz direkt am Weichselufer südlich von Danzig, der nach dem Ersten Weltkrieg von den Polen enteignet werden sollte. Durch das Verhandlungsgeschick meines Vaters, bis zum Völkerbund in Genf, konnte er erhalten werden, wenn auch in der Größe reduziert.

Meine Jugend auf dem Lande und später in verschiedenen Internaten, deren Wechsel sich aus den Ausbombungen ergaben, wurde bis zum Juli 1944 durch zahlreiche politische Eckpunkte bestimmt. Beginnend mit dem Einmarsch in Österreich am 13. März 1938. Die Begeisterung für uns Jungen kannte keine Grenzen. Anfang September 1938 mussten wir aus Westpreußen nach Mecklenburg (ins Reich!) zurückkommen, da mein Vater kriegerische Verwicklungen hinsichtlich des Sudetenlandes befürchtete. Es folgte am 30. September 1938 die Münchener Konferenz, auch Münchener Abkommen genannt, mit Hitler, Mussolini, Chamberlain und Daladier. Sie wurde von Chamberlain als Erfolg für den Frieden gefeiert, fand aber mit der schnell folgenden Besetzung des Sudetenlandes ihren augenblicklichen Abschluss.

Auf unserem Betrieb in Göhren, Mecklenburg, hatten sich damals Herren der deutschen Generalität (Witzleben, Beck und andere) versammelt, um das Ergebnis der Münchener Konferenz abzuwarten. Witzlebens Kommando über den Wehrkreis Berlin hätte die Möglichkeit geboten, dies war die Planung, die Reichsregierung im Falle eines Scheiterns der Münchener Konferenz zu verhaften. Nachdem die Konferenz aber einen für die Reichsregierung positiven Verlauf genommen hatte, war an einen Staatsstreich nicht zu denken.

Nach dem Einmarsch in Österreich und das Sudetenland 1938 erfolgte im März 1939 die Besetzung des Memelgebietes und schließlich der Beginn des Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939. Mein Vater wurde am 25. August 1939 als Reserveoffizier eingezogen und marschierte mit seinem Bataillon von Pommern aus in den Korridor ein.

Die Nationalsozialisten fühlten sich auf dem Höhepunkt ihrer Macht und ließen dies die Menschen in den besetzten Gebieten in vielfältiger Weise spüren.

Nach dem Ende der militärischen Aktivitäten in Polen war mein Vater Ende 1939 im Urlaub auf seinem Betrieb in Westpreußen und wäre fast Zeuge von Ermordungen von über 1.000 geistig Kranken aus einem in unserer Kreisstadt gelegenen Hospital in einer Kiesgrube in seinem Wald geworden. In dieser Kiesgrube sind bis Kriegsende an die 10.000 Menschen ermordet und verscharrt worden.

Seinem testamentarischen Wunsch, in der Kiesgrube ein Kreuz zu errichten mit einer Tafel und folgendem Text: „Hier ruhen 1000-1500 Christen und Juden. Gott sei ihrer Seele und ihren Mördern gnädig“, konnten wir nur teilweise nachkommen, da es in der Kiesgrube bei unserem ersten Besuch 1976 bereits ein großes steinernes Kreuz – von den Polen errichtet – gab. Die Tafel haben wir an der Kapelle in unserem dortigen Heimatort anbringen können.

Mit diesem Hintergrund versuchte ich mich in der obligatorischen Hitlerjugend bzw. dem Jungvolk zu arrangieren. Opposition war nicht erwünscht, Widerreden wurden meist mit Strafen und Nachexerzieren geahndet.

Für mich war der 20. Juli 1944 quasi der Neuanfang meines Lebens. Kein Stein stand mehr auf dem anderen.

Alles wurde abrupt beendet, als am 7. August 1944 die Gestapo, zwei Männer und eine Frau, vor der Tür standen, um meine Mutter, meine beiden Brüder – elf Jahre und neun Wochen alt – und mich zu verhaften.

Himmler hatte auf einer Gauleitertagung am 3. August 1944 in Posen gesagt: „Dann werden wir die absolute Sippenhaft einführen. Wir sind danach schon vorgegangen und haben danach gehandelt. Die Familie Graf Stauffenberg wird ausgelöscht werden bis ins letzte Glied.“

Himmler hat dann wohl seine Meinung geändert, da man der deutschen Bevölkerung nicht jeden Tag die Hinrichtung von Menschen mit in Deutschland bekannten Namen bekannt geben konnte. Außer den Morden in Plötzensee wurden alle anderen Maßnahmen auf Gefängnis-, Lager- und KZ-Strafen geändert.

Ich kam am 7. August morgens von der Jagd zurück, in der einen Hand ein erlegtes Kaninchen, das ich in den Eiskeller (Kühltruhen gab es noch nicht) brachte, und stellte das Gewehr nach der Reinigung in den Gewehrschrank, bevor ich mich unserem Besuch zuwendete und nach ihrem Begehren fragte.

Ihre Verblüffung ob dieser Frage war so groß, dass der Vorgesetzte etwas von Verreisen sagte. Ich packte also ein Köfferchen mit etwas Wäsche und dem Waschzeug. Die Kinderschwester, die meinen jüngsten Bruder versorgte, erklärte, dass, wenn sie das Baby mitnehmen würden, sie auch mitkäme. Das wurde ihr großzügig gestattet. Da die Gestapotruppe zu dritt war, war in einem kleinen DKW nicht genug Platz für meine Mutter, Kinderschwester, Baby, meinen jüngeren Bruder und mich. Es wurde also beschlossen, dass meine Mutter mit Baby und Kinderschwester mitfahren, die Gestapo-„Tante“ sich einen eigenen Transport besorgen müsste und mein Bruder und ich nachkommen sollten. Wir wurden dann zu unserem nächstgelegenen Bahnhof gebracht, kauften unsere Fahrkarten und fuhren ins Gefängnis. Man beachte bitte, mit selbst gekauften Fahrkarten!

Die erste Nacht brachten wir in einem Kinderheim zu. Ich wurde am nächsten Morgen nach Güstrow ins Gefängnis verlegt, wo meine Mutter am Tag zuvor schon eingewiesen und einem Verhör unterzogen worden war. Ich bin niemals verhört worden, wurde aber nach der Ankunft in Güstrow von meiner Mutter instruiert, wie welche Fragen zu beantworten seien.

Das Gefängnis war im Güstrower Schloss untergebracht. Meine und die Zelle meiner Mutter lagen an einem Flur, waren unverschlossen, der Gang am Ende war allerdings verriegelt. Das Mobiliar bestand aus Bett und Stuhl. Die Sanitäreinrichtungen waren angepasst.

Die Zellen hatten ein in kleine Scheiben unterteiltes Fenster, von denen man die mittlere öffnen konnte. Mein Kopf passte gerade so hindurch. Auf der einen Seite sah ich auf eine Wiese außerhalb des Schlosskomplexes, auf der anderen auf den Schlosshof. Am Sonnabend konnte ich immer das Zusammenstellen von Sonderkommandos von Häftlingen auf dem Schlosshof beobachten. Sie marschierten dann über die Schlossbrücke und wurden draußen auf wartende LKW verladen und ins KZ gebracht.

Ich wurde zur Arbeit einer Gärtnerei zugewiesen. Der Gärtner holte mich morgens um 6.30 Uhr ab und brachte mich abends um 18.00 Uhr wieder zurück in die Zelle. Der Vorteil dieser Arbeitsstelle war, dass es, da alles Obst reif war, eine erfreuliche Ergänzung zum Knast-Fraß gab.

Da er während der Frühstückspause den „Völkischen Beobachter“ las und mir die Zeitung, wenn er fertig war, übergab, war ich immer über die Außenwelt informiert. Daher wusste ich auch, dass der Name unserer Familie nicht in deutschen Medien veröffentlicht worden war, was mir später bei einer Diskussion mit einem Gestapo- Beamten im Gespräch über unseren neuen Namen (Seifert) behilflich war.

Am 22. und 23. August 1944 wurde unter dem Code-Namen „Gitter“ (Gewitter) in Deutschland eine große Verhaftungswelle durchgeführt, bei der die Funktionsträger des politischen Lebens der Weimarer Republik inhaftiert wurden. Drei dieser Inhaftierten wurden auch der Gärtnerei zugeteilt. Es waren natürlich für mich ältere Herren, die plötzlich in Häftlingskleidung mit Holzpantoffeln herumlaufen mussten. Einer von ihnen hatte bei der nächtlichen Verhaftung vor Aufregung seine Zahnprothese vergessen, was aber am folgenden Tag repariert wurde.

Diese Herren saßen mit mir zusammen in den Pausen vor der Gärtnerbude, so dass wir uns selbstverständlich auch unterhielten, schließlich kamen wir ja aus demselben „Haus“. Nach zwei Tagen wurde mit mitgeteilt, dass ich mich mit den Herren nicht unterhalten dürfe. Ich hörte nach meiner Entlassung, dass Kaltenbrunner, Chef des Reichssicherheitshauptamtes, schon den Befehl gegeben hatte, mich nach Dachau zu verlegen, dies aber von einem Onkel von mir, dem Reichsfinanzminister, verhindert wurde. Es ist kaum vorzustellen, wie besorgt man sich um einen 15-jährigen Schuljungen kümmerte.

Am 13. September wurden mein Bruder und ich mit der Begründung aus Güstrow abgeholt, dass die Sommerferien beendet seien und wir auf eine Schule gebracht würden. Dies konnte eigentlich, meiner Ansicht nach, nur ein Internat sein. Als ich dann herausbekam, dass wir am nächsten Morgen nach Bad Sachsa fahren, nahm ich an, dass wir dort auf das mir bekannte Internat kommen würden.

Beim Abendessen in der Schweriner Gestapo-Zentrale – große Schüsseln mit Gulasch und Salzkartoffeln – haben wir offensichtlich so viel gegessen, dass ein Gestapo-Mann sich zu der Bemerkung hinreißen ließ, dass wir wohl besonders hungrig wären. Die Antwort bzw. Frage meines Bruders, ob er schon mal bei sich im Gefängnis gegessen hätte?!

Wir fuhren also am nächsten Morgen mit dem Zug über Nordhausen nach Bad Sachsa – 1. Klasse im ersten Waggon hinter der Lokomotive, der wegen der Tieffliegerangriffe, die ja meist der Lokomotive galten, nicht mit Passagieren besetzt wurde. Beim Umsteigen in Nordhausen traf ich Klassenkameraden (Fahrschüler) von mir – eiligst wurden wir in einen separaten Raum gebracht!

Wir verließen den Zug in Bad Sachsa und ich schlug die Richtung zum Internat ein. Mir wurde aber bedeutet, dass wir die Nacht in einem Heim verbringen würden. So kamen wir zu Fuß im Borntal an, wurden kurz mit „Heil Hitler“ von Fräulein Köhler, einer Walküre mit dem Parteiabzeichen mitten auf der Brust, begrüßt und in das Haus 1 (für Jungen ab 10 Jahren) weitergeleitet.

Wir hatten ein Doppelzimmer und ich muss ehrlich zugeben, dass ich mich freute, wieder einmal in einem bezogenen Bett auf einer Matratze schlafen zu können, im Gefängnis war es ein Strohsack mit altem Stroh.

Am nächsten Morgen musste ich mit Fräulein Köhler und ihrem großen Schäferhund, den ich an der Leine führen durfte, außerhalb des Heimgeländes einen kurzen Spaziergang machen, bei dem sie mir das Ehrenwort abnahm, dass ich nicht weglaufen würde. Meine Frage: Wohin denn?

Das Leben im Heim war zwar ein Eingesperrt-Sein, aber erträglich, da wir kaum Vorschriften oder Verhaltensanweisungen erhielten. Wir hatten versprechen müssen, dass wir unsere richtigen Namen nicht bekannt geben würden.

Als ich von meinem Rundgang mit Hund und Fräulein Köhler zurück ins Haus kam, erzählte mir mein Bruder, wie all die Kinder mit richtigem Namen heißen würden. Er trug eine von mir ausgewachsene Lederhose, die aus meiner Internatszeit innen an der Klappe mit Namen gezeichnet war. Er ist also an dem Morgen im Haus herumgegangen und hat jedem gesagt, dass er ihm ja nicht sagen dürfe, wie er hieße, sie könnten aber in seiner Hose seinen Namen lesen und dazu die Klappe aufknöpfte.

Unsere uns zugewiesene Kindergärtnerin, Hilde Waßmann, war entsetzt, konnte aber nichts mehr machen und hat letztendlich das Spiel mitgemacht. Sie war eine liebevolle Persönlichkeit, die uns pfleglich behandelte.

Wir waren ja nun alle schon eine längere Zeit „unterwegs“. Unsere Haarpracht sah entsprechend aus, so dass ich mich entschloss, den Friseur zu spielen. Dazu brauchten wir einen Raum, vor allem bei schlechtem Wetter. Ich hatte schnell eine gewisse Fertigkeit erzielt, obgleich ich noch nie etwas über Fasson- oder Rundschnitt gehört hatte, war das Bild trotzdem recht uniform.

Anfang Oktober wurden mein Bruder und ich entlassen und von denselben zwei Gestapo-Beamten, die uns auf dem Hinweg begleitet hatten, wieder abgeholt und nach Schwerin gebracht, wo uns ein Onkel in Empfang nahm. Wir lebten dann bei Verwandten in der Nachbarschaft von unserem alten Zuhause, das ja für die ganze Familie „off limits“ und wie der ganze übrige Besitz und das Vermögen meines Vaters enteignet war. Ich bin dann sehr schnell wieder auf die Schule nach Nordhausen zurückgekehrt und dort bis Ostern 1945, nach dem die Stadt total zerstörenden Fliegerangriff, geblieben.

Im November 1944 fuhr ich von Nordhausen aus noch einmal nach Bad Sachsa in das Heim. Fräulein Köhler war nicht beglückt, mich wiederzusehen, erlaubte mir aber, einige der immer noch nicht entlassenen Kinder zu treffen.

Meine Mutter war in der Zwischenzeit aus der Uckermark in die Gegend von Salzwedel geflohen, wo ich sie dann auch traf.

Ich bedanke mich bei Ihnen, Herr Bürgermeister Dr. Hartmann, dass wir diese Zusammenkunft in ihrer Stadt haben können. 1944 war die Verbindung zur Stadt nur dadurch gegeben, dass uns erzählt wurde, dass die Lebensmittel für unser Essen aus Bad Sachsa kämen. Sie haben uns also am Leben erhalten, wofür wir der Stadt dankbar sind.






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