Spannung zwischen Dogmatik und Ethik in der Widerstandszeit. Die Beziehung zwischen Karl Friedrich Bonhoeffer, dem areligiösen Physikochemiker, und seinem Bruder Dietrich, dem Theologen

Eberhard Bethge

Spannung zwischen Dogmatik und Ethik in der Widerstandszeit.

Die Beziehung zwischen Karl Friedrich Bonhoeffer, dem areligiösen

Physikochemiker, und seinem Bruder Dietrich, dem Theologen

Festvortrag von Prof. Dr. Eberhard Bethge DD am 19. Juli 1995 im Otto-Braun-Saal der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin

Anlässlich des fünfzigsten Jahrestages der Ermordung Dietrich Bonhoeffers am 9. April 1945 ist seiner in bisher nicht erlebter Breite, aber auch Intensität gedacht worden: Von der „Washington Post“ bis zur „Neuen Züricher“, von Rom bis Trient, von Coventry bis Adelaide, von Flossenbürg bis Berlin. Die Ganzheit seiner Person kam zur Sprache: der Pastor und der Pazifist, der Prophet und der „Pietist“, der Putschist und der Patriot.

Jürgen Schmude, ehemaliger Justizminister, Mitglied des Bundestages, jetzt Präses der EKD-Synode, erinnerte in einer eindrücklichen Gedenkrede am 9. April auch daran, dass es bis heute keine offizielle Distanzierung von den „Blutrichtern“ und ihrem Urteil gibt, bisher auch vom gegenwärtigen Bundestag nicht; jetzt setzen sich aber Gruppen in der BRD dafür ein, es möchte doch zu einer entsprechenden Erklärung kommen.

Das ist kaum die Sache, um die sich die Nächsten sorgen. Nicht nur, weil keine Erklärung unsere Männer zum Leben bringt und die Richter-Mörder steinalt oder tot sind, sondern vor allem, weil die Widerständler solche Ehrenrettung wirklich nicht brauchen. Für die Bundesrepublik Deutschland mag es freilich nicht gleichgültig sein, ob seit 1956 das Flossenbürger Urteil immer noch rechtens sein soll.

Uns kümmert viel mehr, ob und wie wir imstande sind, Martyrium und Werk der Ermordeten einer neuen Generation weiterzugeben. Dafür ist jetzt viel Ermutigendes geschehen: durch Theologen, Kirchenmänner und Historiker, Medien und Publizisten, und eben noch durch den Kirchentag. Dabei zeigte sich, dass u.a. Bonhoeffers Tegeler Briefe (Widerstand und Ergebung) nichts von ihrer Frische und Faszination eingebüßt haben. Eher im Gegenteil!

I.

Freilich, gerade im Blick auf diese glaubten Kritiker feststellen zu müssen, dass die dortigen Analysen einer „religionslos und mündig gewordenen Welt“, welche in den Sechzigern auf dem ganzen Globus von sich reden gemacht hatten, für jeden Statistiker einen Irrtum darstellen und man deshalb Bonhoeffer getrost vergessen dürfe. Wenn man das tut, beraubt man sich aber eines einzigartigen Theologen dieses Jahrhunderts.

Dieser hat mitten in der Verwicklung in den konspirativen Widerstand und ihre Folgen 1944 Briefe aus seiner Tegeler Zelle geschmuggelt, in denen er meditiert, wie und warum seine Zugehörigkeit zu Jesus von Nazareth Quelle seiner Konspirations-Ethik ist.

Am Beginn dieser Meditationen steht im Brief vom 30. April 44 seine Grundfrage: „Wer ist Jesus Christus für uns heute eigentlich?“ (WEN 305). Der Ton liegt auf dem „für uns heute“. Wer sind diese „Wir“? Allgemein gemeint sind die Erben der Aufklärung. Speziell und konkret aber die eigene Familie, Eltern und Geschwister, welche unumkehrbar jetzt in den Putsch verwickelt sind.

Die Grundfrage erhält dann eine Antwort, eine denkbar einfache: Jesus Christus, das ist „der Mensch für andere“ (WEN 414).

Diese in jener Situation von 1944 formulierte Interpretation seines „Credo in Christo“, also: „Ich glaube an Christus als den Menschen für andere“ und darum auch an seinen „Leib“, die Kirche als die Gemeinschaft der Menschen für andere – das ist das Fundament seines Widerstandes. Es begründet die 1944 realisierte und durchlittene Konspirations-Ethik. Wenn das aber so ist, dann liegt auch der umgekehrte Schluss nahe: nämlich eine korrekt erscheinende Dogmatik, die sich der Ethik politischen Widerstandes für andere versagt, degradiert sich zu bloßem Verbalismus.

Wir befinden uns hier mit Bonhoeffer auf einem Weg, auf dem er nach der christologischen Dogmatik sucht, welche seine Konspirations-Ethik trägt. Und er findet sie in jener eben erwähnten Definition von Christus als dem Menschen für andere (heute möchten etliche Theologen die Formel weiterentwickeln, indem sie statt „für andere“ sagen „mit anderen“ um statt eines patriarchalischen den reziproken Charakter der Christusbeziehung auszusagen).

Ich halte es also für keinen Zufall oder für ein Denkspiel, wenn Bonhoeffer im Nazigefängnis vom Sommer 1944 auf diese Aussagen kommt, in denen Dogmatik und Ethik ihren Ort und ihre Funktion erhalten, und diese Entwürfe – natürlich viel eingehender und fachgerechter als das hier eben geschehen kann – dem theologischen Freund vorschlägt.

II.

Diese Zusammenhänge brachten mich kürzlich darauf, dass genau diese Spannung zwischen Dogmatik und Ethik ein höchst anschauliches Beispiel hat im Verhältnis zwischen ältestem und jüngerem Bruder des großen Geschwisterkreises: Karl Friedrich, dem bedeutenden Physikochemiker, geb. 1. März 1899 (gest.: 1957) und Dietrich, dem Pastor und Theologen, geb. 4. Februar 06. Letzterer hatte nicht gerade zur Begeisterung der Familie Kirche und Theologie zum Berufsfeld gewählt. Brüche hat es allerdings im Familienkreis nie gegeben. Es herrschte im Gegenteil, speziell in der NS-Zeit, Offenheit, Interesse aneinander, und selbstverständliche, uneingeschränkte Beratung in allen jeweiligen Entscheidungen, die im großen Geschwisterkreis anfielen.

Zwischen Karl Friedrich und Dietrich gab es nun immer wieder Korrespondenz, da ersterer entfernter wohnte (Frankfurt, Leipzig, USA). Interessant ist da die ziemlich regelmäßige Reihe von Geburtstagsbriefen, die Dietrich an Karl Friedrich zu richten pflegte und die ich vorstellen möchte. Sie sind zur Zeit nur mühsam in den verschiedensten Bonhoeffer-Ausgaben zusammenzusuchen. Übrigens werden demnächst in einem neuen „Widerstand und Ergebung“ die ziemlich häufigen Briefe von Karl Friedrich an Dietrich ins Gefängnis hinein zu lesen sein (Band 8 von „Dietrich Bonhoeffer-Werke“, im nächsten Jahr).

Wenn man nun Dietrichs Geburtstagsbriefe an Karl Friedrich liest, nimmt man wahr, wie der Jüngere offensichtlich dem Älteren Rechenschaft geben möchte, wie es jeweils mit seinem Beruf steht, auf welcher Ebene theologischer Überlegungen er sich gerade befindet und welche Entscheidungen oder Existenzveränderungen sich im Kirchenkampf anbahnen. Davon bald mehr!

Wichtig erscheint mir für Dietrichs Augen, dass und wie ein Glied dieser humanistisch erzogenen Familie, hier nun jener agnostische Naturwissenschaftler, sich unter den NS-Bedingungen ethisch richtig verhält, also z.B. jüdischen Mitarbeitern in seinem Institut Schutz und Unterschlupf bietet – und dies bis 1944. Dass und wie aber zur gleichen Zeit seine „Bekennende Kirche“ – zwar ein Stück weit der Gleichschaltung mit dem Nationalsozialismus widersteht und auch etliche spektakuläre Erneuerungen erfährt, aber in der Judenverfolgung durch den NS-Staat von anhaltender fataler Blindheit geschlagen ist. An diesem Punkte fühlt sich Dietrich Bonhoeffer nicht akzeptiert, wenn er Synoden der Bekennenden Kirche kritisiert, und hier weiß sich Dietrich Bonhoeffer auch nicht von den Bruderräten etwa getragen, wenn er den Weg der Konspiration einschlägt; wenn also der Widerstand aus der Ebene von Gleichschaltungsverweigerungen in den Widerstand als Regimebeseitigung zu verändern ist. Wo dann tatsächlich eine Spannung zwischen Dogmatik und Ethik schwer erträglich geworden war. Dieser Spannung sich aber zu stellen, das steht hinter den theologischen Experimenten von „Widerstand und Ergebung“, hinter der Tegeler Theologie. Und hinter diesen Experimenten ist die ständige Präsenz dieser Familie und eben auch des Bruders Karl Friedrich wahrscheinlich motivierender und wichtiger als viele theologische Kollegen, wie etwa Brunner und Gogarten und sogar Karl Barth. Schon vor Jahren wies Renate Bethge, geb. Schleicher, Bonhoeffers Nichte, auf die enge Beziehung zwischen seiner Theologie und den familiären Wurzeln hin. Siehe „Bonhoeffers Familie und ihre Bedeutung für seine Theologie“ in „Beiträgen zum Widerstand 1933-1945“ Nr. 30(1987) 2. Auflage 1995.

III.

Wer war Karl Friedrich Bonhoeffer?

Hier mangelt mir, dem Theologen, die Kompetenz, um zu belegen, dass und wie er einer der großen, international anerkannten Physikochemiker dieses Jahrhunderts gewesen ist. Allerdings kenne auch ich Urteile, wie sie z.B. von der Mutter weitergegeben wurden: „Wenn er die Reihe meiner Kinder nicht angeführt hätte, wäre nichts Rechtes aus den anderen geworden“. Oder Mitteilungen von anderen: Er hat zunächst die Unterschrift unter eine Treue- und Gehorsamserklärung für Hitler verweigert und sich das wegen seines internationalen Rufes leisten können.

Oder die bereits gefährlich tief ins Fachliche greifende Aussage, er habe als Spezialist auf dem Gebiet des „Schweren Wassers“ die Weiterarbeit mit diesem Material unterbrochen, als deren Bedeutung für die Herstellung der Atombombe bekannt wurde. Aber das ist ein kompliziertes Feld. Tatsächlich hat Karl Friedrich seine internationale Reputation mit seinen Arbeiten über Wasserstoff begründet und dann bei Kriegsanfang sein Arbeitsfeld auf die Elektrochemie verlagert. Er erhielt Berufungen auf die bedeutendsten physikalischen Lehrstühle Deutschlands: 1930 nach Frankfurt, 1934 nach Leipzig. Dort beschäftigte er sich mit der „Passivität von Metallen“ und der Kinetik von Elektroprozessen und leitete dann über zu Fragen der Nervenleitung und der periodischen chemischen Reaktionen im lebenden Organismus. Das beschäftigte ihn bis zu seinem Lebensende.

Nach dem Kriege kehrte er 1947 an die Stätte des Beginns zurück, zunächst an die Universität Berlin, übernahm zusätzlich die Leitung des Dahlemer Kaiser-Wilhelm-Instituts, dann Max – Planck – Institut, und baute schließlich das neue – jetzt nach ihm benannte – Göttinger Max – Planck – Institut für Biophysikalische Chemie auf. Mit der Leitung dieses Institutes ermöglichte er, der ja politisch unbelastet dastand, eine neue Blüte und internationale Anerkennung seines Faches (H. Staude, Sächsische Akademie).

Die Bunsengesellschaft verlieh ihm 1955 die Bundesgedenkmünze „in Würdigung seiner Verdienste um die Kinetik der Reaktionen von Gasen und an Elektrooberflächen sowie um den Zusammenhang der Passivitätserscheinungen mit dem physiologischen Problem der Nervenleitung“ (a.a.0. 345). Zum Tod 1957 schrieb die Max-Planck-Gesellschaft: „Der große Gelehrte war ein charaktervoller Mensch“ und W. Jaenicke fügte hinzu: „Seine wissenschaftlichen Leistungen haben ihn bekannt gemacht – aber hervorragende Wissenschaftler gibt es manche, Charaktere wie ihn zu wenig“ (Physik. Blätter 13, 57, 37, 8).

Dieser W. Jaenicke gehörte übrigens bis zum Kriegsende zu jenen erfolgreich beschützten „Nichtariern“. Er bemerkte überdies: „Die gleiche Vaterlandsliebe, mit der Karl Friedrich Bonhoeffer 1917 als Freiwilliger ins Feld gezogen war, musste ihn im 2. Weltkrieg die Niederlage Deutschlands wünschen lassen.“ (Phys. Blätter 13, 1957, 369f.)

Einen Eindruck von Karl Friedrichs Persönlichkeit vermittelt ein Blick auf seine Verbundenheit mit dem bedeutenden Fritz Haber, der 1933 emigrieren musste und 1934 in der Schweiz starb. Karl Friedrich Bonhoeffer schrieb den Kindern:

„Lieber Herr und liebe Frau Haber!

Aus der Zeitung erfahre ich soeben, daß ihr verehrter Herr Vater verstorben ist. Ich bin dadurch so erschüttert, daß es mir schwer fällt, Worte zu finden. Daß er gerade in dieser Zeit sterben mußte! Alles Gute und Schöne, das ich ihm verdanke, kommt mir in diesem Augenblick wieder zum Bewußtsein und ich kann das Gefühl der Bitterkeit über unsere Ohnmacht, ihm in den letzten Jahren nicht beistehen zu können, nicht loswerden. Seine Weisheit und Güte werden mir immer vor Augen bleiben und, so lange ich lebe, werde ich tun, was in meinen Kräften steht, um im Bereich unseres Faches die Erinnerung an ihn zu pflegen und lebendig zu erhalten. Ich bin dem Schicksal dankbar, welches mich viele Jahre in unmittelbarer Nähe eines so ungewöhnlichen Mannes, wie es Ihr Vater war, gebracht hat, und ich hoffe, daß mir Gelegenheit gegeben werden wird, auch öffentlich zu bekennen, was Deutschland Ihrem Vater verdankt, und auch, was ich für ihn fühle. Da ich nicht weiß, wo das Grab ist, will ich einen Kranz an der Haber-Linde zum Zeichen meiner Dankbarkeit niederlegen lassen.

Mit tiefer Anteilnahme stets Ihr Karl Friedrich Bonhoeffer.“

Tatsächlich half er 1935, eine Gedenkfeier für Fritz Haber mit der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin zu veranstalten und schrieb dafür eine Rede. Das führte freilich zu heftigen Konflikten zwischen der Gesellschaft und dem NS-Kultusministerium.

In einem Nachruf heißt es über dieses groteske Ereignis:

„Mutig hat er ... bei einer inoffiziellen Trauerfeier in Dahlem die Gedenkrede gehalten. Bei der offiziellen, die von Max von Laue und Otto Hahn veranstaltet wurde, war den Ordinarien der Zutritt ministeriell verboten. Hier stand Bonhoeffer an der Türe des überfüllten Saales, als Hahn die Worte Bonhoeffers vorlas.“ (John Eggert, Nachruf, S.194)

Man kann nachvollziehen, wie der jüngere Bruder diesen Älteren zugleich liebt und fürchtet: Diesen konsequenten Erben der Aufklärung und ihrer naturwissenschaftlichen Früchte, diesen logischen Kritiker eines verkrusteten und ins Abseits geratenen Theismus der Kirchen und ihrer Diener. Dabei lässt er den Bruder stets spüren, dass er das Recht zu kritischen Vorbehalten nur zu gut versteht, ja billigt, seit die theologischen Blindheiten mit 1933 fatalste Folgen möglich machen – bis hin zu einer Rechtfertigung des Arierparagraphen. Dietrich ist klar, dass er weder den Vater noch die Geschwister missionarisch in Anspruch nehmen kann. Tatsächlich tut er das nie. Und er freut sich, wenn er nun die Familie interessiert an dem Aufbruch der Bekennenden Kirche teilnehmen sieht. Er käme nicht auf den Gedanken, den erhöhten Kirchgang in Niemöllers Dahlemer Kirche als „nur aus politischen Motiven“ abzuwerten. Er weiß genau, dass sich dieser Familienkreis in Lebensfragen nicht mehr durch kirchliche und theologische Bevormundung steuern lassen wird – zumal nun in Zeiten, in denen die Mehrheit der Theologen mit ihrem Credo ethisch schmerzlich versagt und versäumt, bedrohte Juden zu schützen.

IV.

1.) Ehe wir uns nun etliche der Geburtstagsbriefe von Dietrich an Karl Friedrich ansehen, noch ein Briefstück aus dem Anfang 1931. Beide Brüder befinden sich 1930/31 ein Jahr in den USA. Noch nichts von Antisemitismus in Deutschland kommt vor – umso mehr vom Antirassismus im Gastland. Dietrich ist fasziniert von Erfahrungen mit Schwarzen in Harlem und Washington. Auf sie habe er in seinem Stipendienjahr am Union Theological Seminary „mehr Zeit verwendet“ als auf irgendetwas sonst. Karl Friedrich seinerseits hatte gerade eine Berufung nach Harvard abgelehnt. Der Grund: Er kann sich ein Leben für seine Kinder unter den USA-Segregations-Praktiken nicht vorstellen – und meint noch, dergleichen könne es in Deutschland nicht geben. Sodann stellt sich Dietrich auf die philosophischen Interessen des Bruders ein und lässt ihn teilnehmen an der Lektüre seines UTS-Studienprogramms, vornehmlich an William James, dem amerikanischen Empiriker, der Religion gelten lässt je nach ihrer ethischen Nützlichkeit: „Amerikanische Philosophie habe ich ziemlich gründlich kennen gelernt und dabei oft an Dich gedacht, Karl Friedrich“. Dennoch, der Graben zwischen dieser utilitaristischen Philosophie und seiner, damals Karl Barth verhafteten, Theologie ist klar: „Obwohl ich der Sache im Ganzen nicht sehr viel gläubiger gegenüberstehe als vorher, habe ich doch eine ganze Menge davon gelernt, besonders James ist wirklich interessant zu lesen“ (Dietrich Bonhoeffer-Werke 10,250).

Vergessen hat Dietrich Bonhoeffer jedenfalls diese Denkwelt des Empirismus nicht wieder. Und sie blieb ihm in der Präsenz des ältesten Bruders eine immer wieder erneuerte Herausforderung. Ihr hatte er sich eines Tages zu stellen. Das geschah 1944 in Tegel und das macht jene Tegeler Briefe auch heute so anziehend.

Tatsächlich wird man jene 50 Seiten Theologie in „Widerstand und Ergebung“, geschrieben im fortgesetzten Kampf um den Erfolg einer verantwortlichen Konspiration gegen Hitler, viel bewusster im Wissen um die Präsenz dieses naturwissenschaftlichen und ethisch vorbildlichen Bruders Karl Friedrich zu lesen haben und dann auch im Wissen um die moderne Denkwelt eines William James. Eben hat Dr. Ralf K. Wüstenberg an der Humboldt-Universität darüber eine neue Arbeit vorgelegt.

2.) Der nächste erhaltene Brief geht im Januar 1934 aus London nach Frankfurt. Nun hat sich alles verändert. Enttäuscht von der weichen Reaktion seiner Kirche auf die Nazifizierung der Synoden, der Leitungsgremien und auch der Fakultäten, hat Dietrich Bonhoeffer im Oktober 1933 ein deutsches Auslandspfarramt in London angetreten. Nun ist es ganz selbstverständlich für beide Brüder, dass sie für emigrierte Juden zusammenarbeiten. Im Geburtstagsbrief schreibt Dietrich:

„Eigentlich ist ja England jetzt ein ungünstiger Platz, man ist zu nah, um nicht an allem teilnehmen zu wollen und zu weit, um wirklich aktiv mitzumachen. Und das ist mir in den letzten Wochen sehr schwer gefallen. Eben lese ich in der Times von Barths Entlassung (Times 13. Januar 34). Noch glaube ich es kaum. Sollte es aber stimmen, so müßte ich vielleicht doch wieder zurück, damit wenigstens noch einer auf den Universitäten solche Dinge sagt SYMBOL 91 \f "Symbol" Sommer 33, Karl Barth-Schrift „Theologische Existenz heute“ SYMBOL 93 \f "Symbol" . Irgendwie empfinde ich diesen Aufenthalt in England – obwohl mir die Arbeit viel Freude macht in ihrem sehr beschränkten Ausmaß – doch mehr als Intermezzo. Nur dachte ich eigentlich, daß mich der nächste Schritt doch endlich nach Indien SYMBOL 91 \f "Symbol" zwei Versuche vorher: 1928/29 von Barcelona aus, 2. Versuch 1931 von New York aus SYMBOL 93 \f "Symbol" und in den Osten führt. Der scheint einem von hier aus auch viel näher. Und da ich täglich mehr der Überzeugung werde, daß es im Westen mit dem Christentum sein Ende nimmt – jedenfalls in seiner bisherigen Gestalt und seiner bisherigen Interpretation – möchte ich, bevor ich nach Deutschland zurückgehe, gern noch mal in den Osten.“ (Dietrich Bonhoeffer-Werke 13, 75) Welche Offenheit für ein anderes Kirchen- oder Christentum.

„Außer meiner Gemeindearbeit habe ich mit den englischen Kirchenleuten, auch einigen sehr interessanten Politikern, Gespräche und allerlei Pläne (Lord Lothian, später Botschafter in Washington, der über Bell eine Analyse des Kirchenkampfes für „The Round Table“ von Dietrich Bonhoeffer sich wünschte, Biogr. S. 420), außerdem eine Unzahl von Besuchen von Deutschen, meist Juden, die mich irgend woher kennen und irgend etwas wollen. Daß ein Dr. Steiner von Dir bei mir war, schrieb ich Dir ja wohl schon. Sonst ist Hildebrandt bei mir ... ferner ein Berliner Student. So vereinsame ich nicht. Das würden auch die zahlreichen Telefongespräche verhindern, die von hier nach Berlin und von Berlin nach hierher kommen.“

3.) Ein Jahr später entsteht – immer noch von London, jetzt aber nach Leipzig – der eindrücklichste der Geburtstagsbriefe. Nun hat der Kirchenkampf bisher ungewohnte Formen angenommen. Entscheidungszwänge sind entstanden. Die der Nazifizierung und Gleichschaltung widerstehende Gruppe der „Bekennenden Kirche“ hat zwei folgenreiche Schritte getan: Zunächst erklärte sie mit der „Barmer Erklärung“ von Ende Mai 1934 die offizielle Kirche der „Häresie“ für schuldig, wenn sie weiterhin die Botschaft des Evangeliums mit teutonischer Rassen- und Führer-Ideologie vermischt. Sodann fordert sie mit der Dahlemer Synode im Oktober 1934 dazu auf, den nun entstehenden Notorganen der Bekenntnissynoden und „Bruderräten“ statt den „Häretikern“ („Reibi“) Gehorsam und Beiträge zu leisten. Das bedeutete für die Pfarrer, vor allem für die jungen, noch nicht installierten Theologen, eine bisher unbekannte Bereitschaft zu existenzverändernder Illegalität, auf der Seite der Gemeinden ungewohnte Selbstverpflichtungen zu Bekenntnis und zu Opfern für das neue Notregiment (Rote, bez. Grüne Karten). Und diese Selbstverpflichtungen spielten eine gewisse Rolle in der großen Bonhoefferfamilie. Einige der Frauen (Paula und Susanne) unterschrieben zu dieser Zeit in Dahlem die „Rote Karte“. Für andere Glieder behielt jene Selbstverpflichtung zum bekenntnismäßigen, dogmatischen Gebäude dieser Bekennenden Kirche eine gewisse Problematik. Welches Maß an Identifizierung konnte hier erwartet werden?

Wichtig zum Verständnis dieses Briefes ist das Faktum, dass es kurz vor diesem Geburtstagsbrief ein Familientreffen bei den Eltern in der Wangenheimstraße gegeben hat, bei dem Dietrich auch Karl Friedrich getroffen hatte. Und dieser befand sich gerade damals mitten in den heißen Auseinandersetzungen um die Gedenkfeier für Fritz Haber.

So heißt es in dieser Situation im Brief vom 14. Januar 1935:

„Wir haben uns eigentlich in den letzten Jahren furchtbar wenig gesehen. So waren die Tage neulich für mich sehr schön. Es mag ja sein, daß ich in manchen Dingen Dir etwas fanatisch und verrückt erscheine. Und ich habe selbst manchmal etwas Angst davor. Aber ich weiß, wenn ich vernünftiger würde, so müßte ich am nächsten Tag ehrlicherweise meine ganze Theologie an den Nagel hängen. Als ich anfing mit der Theologie habe ich mir etwas anderes darunter vorgestellt – doch vielleicht eine mehr akademische Angelegenheit. Es ist nun etwas ganz anderes draus geworden. Aber ich glaube nun endlich zu wissen, wenigstens einmal auf die richtige Spur gekommen zu sein – zum ersten Mal in meinem Leben. Und das macht mich oft sehr glücklich. Ich habe nur immer Angst davor, daß ich aus lauter Furcht vor der Meinung anderer Menschen nicht weiter gehe, sondern stecken bleibe. Ich glaube zu wissen, daß ich eigentlich erst innerlich klar und wirklich aufrichtig sein würde, wenn ich mit der Bergpredigt wirklich anfinge Ernst zu machen. Hier sitzt die einzige Kraftquelle, die den ganzen Zauber und Spuk einmal in die Luft sprengen kann, bis von dem Feuerwerk nur ein paar ausgebrannte Reste übrig bleiben. Die Restauration der Kirche kommt gewiß aus einer Art neuen Mönchtums, das mit dem alten nur die Kompromißlosigkeit eines Lebens nach der Bergpredigt in der Nachfolge Christi gemeinsam hat. Ich glaube, es ist an der Zeit, hierfür die Menschen zu sammeln. – Entschuldige diese etwas persönlichen Auslassungen, aber sie sind mir so in die Feder geflossen, als ich an unser neuliches Zusammensein dachte. Und man interessiert sich ja schließlich auch so für einander. Ich kann mir immer noch gar nicht recht denken, daß Du wirklich diese Gedanken alle für so gänzlich irrsinnig hältst. Es gibt doch nun einmal Dinge, für die es sich lohnt, kompromißlos einzustehen. Und mir scheint der Friede und soziale Gerechtigkeit, oder eigentlich Christus, sei so etwas ...

Neulich fiel mir zufällig das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern in die Hände; das ist ja wirklich sehr zeitgemäß. Es fehlt heute nur das Kind am Ende. Man müßte es wirklich mal aufführen. – Hoffentlich höre ich bald mal wieder von Dir. Jedenfalls kommt ja bald mein Geburtstag ...“

Ungewöhnlich sind in der Tat in diesem Brief die – wie Dietrich selbst schreibt – die „etwas persönlichen Auslassungen“, für die er sich sogar entschuldigen zu müssen glaubt. Dietrich macht erregende Andeutungen über neue Denk- und Tatwege. Es handelt sich um die Wochen, in denen erste Pläne und auch Notizen zur „Nachfolge“ entstehen, dem Werk, von dem später einmal der rheinische Präses Beckmann gesagt hat, es sei das bedeutendste theologische Buch dieses Jahrhunderts und außerdem noch die tiefste Interpretation der knappen Barmer Erklärung von 1934.

In Deutschland geschieht damals gerade eine Verhöhnung der reformatorischen Botschaft, indem die Rassentheorie Eingang in die kirchliche Lehre und Praxis, ja in die kirchliche Gesetzgebung findet. Dem ist nun nicht mehr mit Worten allein beizukommen. Erneuerungen und veränderte Lebensstile müssen kommen. Und so wird das entstehende Buch auch keinen üblichen theologischen Titel tragen – wie etwa „Heiligung“ oder „Rechtfertigungslehre“ oder „Glaube und Werke“, sondern den Titel von der Gabe von Bezügen: „Nachfolge“, geschehene Bezüge zwischen Gott und Mensch und zwischen Mensch und Gott und zwischen Menschen und Menschen.

Noch einmal zurück zu dem dem Brief vorausgegangenen Besuch in Berlin. Die Gespräche dort haben kaum allein um die Eskalation der NS-Politik gekreist – 1935 wurde zum Jahr der Nürnberger Gesetze – und wohl auch nicht nur um die Fritz Haber-Gedenkfeiern. Sie berührten sicher auch jene Probleme, die für manche in der Familie mit der neuen Bindung an die Sprachwelt der Barmer Erklärung von 1934 entstanden waren, also mit der, eventuell nun auch unterschriftlichen, Rückbindung an ererbte Kirchendogmen in der Bekennenden Kirche.

Wenige Monate später belegt auch ein Brief Dietrichs an den Schwager Rüdiger Schleicher, einen liberalen schwäbischen Juristen, welche Schwierigkeiten mit einer neuen Orthodoxie in der Bekennenden Kirche entstanden sind. (April 1936, Gesammelte Schriften III, 26ff) Auch hier beschreibt Dietrich nicht nur ausführlich, sondern auch auffallend persönlich sein Verhalten und sein Verhältnis zu dem, was er da engagiert „Heilige Schrift“, „Wort Gottes“ nennt. An Rüdiger Schleicher schließt er: „Ob wir ein Recht haben, so zu reden, wie ich jetzt zu Dir geredet habe, wird sich erst bei der Probe aufs Exempel zeigen. Und ich glaube, daß wir die noch hier werden ablegen müssen.“ (Gesammelte Schriften III, 31)

Hier im Brief an Karl Friedrich von 1935 erscheint mir nun aber das Aufregendste, wie er jetzt leidenschaftlich Ethik und Dogmatik in einen einzigen Satz zusammenbindet: „Friede und soziale Gerechtigkeit ... oder eigentlich Christus.“ Er zwingt es geradezu zusammen. Diese drei Grundfakten sind untrennbar. Und so sind für ihn auch Karl Friedrich und er selbst untrennbar. Wenn die Grunderkenntnis seiner Dissertation Sanctorum Communio von 1927, nämlich „Christus als Gemeinde existierend“, etwa nichts zu tun hat mit pax und justitia, ist dieser Christus bereits verleugnet. Die Tegeler Theologie von 1944 hat dann mit der Frage am 30. April 1944 begonnen: „Wer ist Jesus Christus für uns heute.“ („Widerstand und Ergebung“ 305) Dieses „für uns heute“, dieses „wir“: das sind einerseits dieser moderne Physikochemiker (bzw. jener liberale Juristen-Schwager und für wen diese beiden in Dietrichs Nähe noch stehen) – und das ist andererseits dieser jetzt 1944 konspirationsverwickelte Nachfolge-Theologe.

Aber in diesem Geburtstagsbrief von 1935 zwingt er schon in einen einzigen Satz zusammen den agnostischen, geliebten, selbstverständlich ethisch vorbildlichen Bruder und seinen eigenen Christusglauben, nun im Begriff, diesen als „Nachfolge“ neu zu formulieren und in Frömmigkeit zu realisieren. In diesem 1935 - Brief steckt und schlummert also bereits die Wurzel, aus der die Theologie von 1944 später wächst, die von „Widerstand und Ergebung“.

4.) Wenn jener Brief aus London von 1935 eingeht auf Schwierigkeiten im Geschwisterkreis wegen neuer Ideen und Lebensstiländerungen des jüngsten Bruders, so verwahrt sich der nächste resolut gegen Versuche der Familie, ihn vom Weg der Illegalität abzubringen. Es ist kein Geburtstagsbrief; er stammt aus dem November 1937 in einer für Dietrich gefährlich veränderten Situation der Kirchenkampfteilnahme. Als er 1935 Finkenwalde aufzubauen begann, handelte es sich bei der „Illegalität“ streng genommen noch um Ungehorsam gegen den häretischen Reichsbischof und seine Behörden. Jetzt aber ging es deutlich um Ungehorsamsakte gegen die Regierung, Ministerverordnungen und Polizeiverbote. Zweieinhalb Jahre war Finkenwalde mit den Kandidaten gelaufen, war „Nachfolge“ vorgetragen, ein diszipliniertes „mönchisches“ Leben geführt und ab Herbst 1935 das „Bruderhaus“ eingerichtet worden, eine Einrichtung zur spirituellen Sicherung der Kontinuität des Lebens jener alle halbe Jahre wechselnden Besatzung des Seminars, d.h. fünf Kandidaten verblieben über ihren Kursus hinaus in Finkenwalde. Nun war im September 1937 aufgrund von Himmler- und Kerrl-Erlassen dieses Haus polizeilich geschlossen worden. Wir waren überzeugt, dass die Ausbildungsarbeit der Bekennenden Kirche unter allen Umständen fortgesetzt werden müsste und suchten zwei Monate lang in Berlin nach neuen Tarnformen. Wir fanden sie in den sogenannten Sammelvikariaten im hintersten Pommern. Zwei tapfere Superintendenten (Schlawe, Block und Köslin, Onnasch) nahmen Kandidaten als Vikare, bzw. uns, die Leiter, als Hilfsprediger in ihren Kirchenkreisen auf, was noch als legal gelten konnte, und zogen sie die Woche über in Pfarrhäusern zusammen zum Unterricht. Das funktionierte tatsächlich bis zum März 1940, bis dann die Polizei zum letzten Mal, nun in einem völlig von Eis umschlossenen Vorwerkhaus (Siegurdshof), auftauchte und es endgültig versiegelte. Wir waren damals gerade in die Ferien verschwunden. Tatsächlich war klar, dass diese fortgesetzte Illegalität nun Befehle der „Obrigkeit“ (Kirchenminister, Innenminister, Polizei) missachtete. Die Listen von Verhafteten schwollen 1937 an wie nie zuvor.

Karl Friedrich sorgte sich nun um die Gesundheit seiner alten Mutter, zumal jetzt auch das Schicksal der Familie der mit einem sogenannten Nichtarier verheirateten Tochter (Leibholz) immer bedrohlicher wurde und eine eventuelle Emigration immer nötiger erschien. So fragte Karl Friedrich, ob denn Dietrich wirklich wieder anfangen wolle, auch bei der offensichtlich verschlechterten Lage. So entstand folgende Antwort:

29. November 37 (Berlin)

„Lieber Karl Friedrich!

Vielen Dank für Deinen Brief. Es tut mir immer leid, wenn Mama so beunruhigt ist und andere noch in diese Unruhe mit hinein zieht. Es liegt aber tatsächlich gar kein Grund dafür vor. Daß es mir durch den Erlaß von Himmler einmal ebenso gehen kann wie es bereits Hunderten ergangen ist, darf uns wirklich nicht mehr beunruhigen. Die Sache der Kirche können wir nicht durchhalten ohne Opfer. Ihr habt ja im Krieg wesentlich mehr eingesetzt. Warum sollten wir es für die Kirche nicht auch tun? Und warum will man uns davon abbringen? Es reißt sich bestimmt keiner von uns ums Gefängnis. Aber wenn es kommt, dann ist es doch – hoffentlich jedenfalls – eine Freude, weil die Sache sich lohnt. – Anfang nächster Woche fangen wir wieder an. – Wie geht es der Kleinen und Grete? Habt Ihr das kleine Buch bekommen?

Es grüßt Euch alle Euer Dietrich.“

Zum Schluss fragt Dietrich noch, ob seine Familie denn „das kleine Buch bekommen habe“. Das ist die „Nachfolge“, welche zu Weihnachten 1937 erschienen war.

5.) Die vier weiteren kurzen Briefe von Dietrich an Karl Friedrich Bonhoeffer spiegeln jeweils Stationen des nun angefangenen Weges. Karl Friedrich, der jetzt in Leipzig lehrt, ist häufig in Berlin bei den Eltern und je gut informiert von Dietrichs Schritten und Entscheidungen.

Der verspätete Geburtstagsbrief im Januar 1939, noch aus dem Sammelvikariat Groß Schlönwitz im Kreise Schlawe, kommt noch aus akuten Gefährdungen für die illegalen Kandidaten und lautet:

„Ich wünsche Dir und Euch allen ein gutes Jahr und jedenfalls nicht mehr Unruhe als im vergangenen. Daß ich nicht rechtzeitig schrieb, lag daran, daß bei uns zur Zeit wieder viel los ist. Es ist teilweise recht deprimierend in den letzten Wochen gewesen, wenn man sehen mußte, wie viele mit allerlei Vorwänden und Gründen unter allen Umständen die Ruhe und die Sicherheit suchen. In solchen Zeiten, die immer mal wieder kommen, ist auch immer sehr viel zu tun mit Besuchen, Vorträgen etc. Es ist mir ganz gewiß, daß für die Kirche alles daran liegt, ob wir jetzt durchhalten, selbst unter großen Opfern. Die größten Opfer sind jetzt gering gegen das, was wir durch ein solches Nachgeben verlieren würden. Ich wüßte auch wirklich nicht, wofür sich heute ein voller Einsatz lohnt, wenn nicht für diese Sache. Es kommt auch sicher nicht darauf an, wieviele es sind, sondern daß nur noch einige da sind. Natürlich ist manches für die verheirateten Leute schwerer, aber ich denke manchmal, daß vieles auch leichter ist. Ich bewundere sehr oft die Tapferkeit von Pfarrfrauen, die eher alles auf sich nehmen, als daß sie ihren Mann zum Nachgeben rieten. Auch sind oft die Gemeindeglieder viel klarer und entschlossener als ihre Pfarrer. Es werden gerade in diesen Tagen bei uns sehr wichtige Entscheidungen fallen. – Mir geht es gut. Ich möchte gern im März Sabine besuchen, wenn es noch geht.“

Nun kündigt er schon einen Besuch bei der inzwischen emigrierten Familie Leibholz, der Zwillingsschwester, in England an. Er möchte sich dabei auch mit dem Freund George Bell, dem großen Ökumeniker, Bischof von Chichester, beraten über Möglichkeiten einer sinnvollen Existenz außerhalb Nazideutschlands. Diese Überlegungen führten dann zu einer Reise im Sommer 1939 nach New York – während wiederum, wie acht Jahre zuvor, auch Karl Friedrich zu Vorträgen in den Staaten weilte.

6.) Die Briefkarte, welche Dietrich seinem Bruder innerhalb der USA schreibt, liegt dann bereits hinter der schwer erkämpften Entscheidung zur Rückkehr und bespricht tatsächliche Heimkehrprobleme. Heimkehr zu den Kandidaten und Heimkehr zu den bereits konspirierenden Seinen, welche einen gänzlich veränderten Widerstandsstil einschließen, nämlich Beteiligung an absolut zu tarnenden Putschvorbereitungen, d.h. keine gewagten öffentlichen Kanzelworte mehr erlauben.

Aus der Briefkarte an Karl Friedrich am 26. Juni 1939 aus New York:

„Hier sind die Dinge so: ich habe die Sache, die man mir angeboten hat, abgelehnt, aus vielen Gründen. Damit bin ich nun völlig Herr meiner Zeit; ich kann bleiben oder zurückfahren, wie ich will. Nun hätte ich unter normalen Umständen hier Summer-School noch mitgemacht, die bis zum August dauert, auf der man auch meine Mitarbeit erwartet. Ich finde aber die politischen Nachrichten aus Europa derartig schauderhaft, daß ich mir ernstlich überlege, ob ich nicht schon früher fahren soll. Ich möchte für den Kriegsfall doch nicht hier drüben sein, sondern nach Deutschland zurück. Das habe ich mir in diesen Wochen hier überlegt, besonders da mich ja nun keine feste Arbeit hier bindet. Also meine Überlegung ist, ob ich nicht am 8. Juli mit Dir bis England mitfahre, von wo ich ja viel leichter nach Hause komme.“

7.) Januar 1940.

Die nächsten erhaltenen Zeilen schreibt Dietrich während der nach der Rückkehr aus New York wieder aufgenommenen Lehrtätigkeit unter den illegalen Kandidaten der Bekennenden Kirche. Die Briefkarte kommt aus den vereisten Wäldern südlich von Schlawe. Er berichtet dem Bruder über die Lektüre eines Buches, mit dem er die Berufs- und Denksphäre des Physikerbruders zu berühren meint. Die Sätze auf dem kurzen Gruß lauten:

Aus der Briefkarte an Karl Friedrich vom 15. Januar 40 aus Sigurdshof:

„Übrigens muß ich Dir doch erzählen, daß ich gegenwärtig mit wirklicher Begeisterung wie einen Roman das Buch: ‚Wissenschaft bricht Monopole’ lese. Wenn einem das doch auf der Schule oder später irgendwo gesagt worden wäre! Für mich verändert es geradezu das Weltbild; jedenfalls macht es mir großen Eindruck und sehr viel Freude.“

Dietrich Bonhoeffer liest also fasziniert Anton Zischka „Wissenschaft bricht Monopole“. Das war eindeutig ein nazigefördertes Buch, ein Lobpreis deutscher Autonomieverwirklichungen. Dietrich Bonhoeffer lässt sich dadurch nicht in seinem Bestreben stören, Informationen über Machtzuwächse durch überlegen genutzte Naturwissenschaft zu bekommen. Leider wissen wir nichts davon, ob und wie Karl Friedrich auf diesen Satz seines allzeit wissensdurstigen jüngeren Bruders reagiert hat.

Wir erinnern uns aber daran, dass und wie Dietrich später in Tegel (mit den für ihn langsam entstandenen Lesemöglichkeiten aus der Gefängnisbibliothek) sich weiter in jener Richtung zu bilden versuchte, indem er im Mai 1944 C .F .v .Weizsäckers „Zum Weltbild der Physik“ las. Aus der Zelle darf Dietrich zur Zeit neben den (zensurierten) Briefen an die Eltern und an die Braut keine Briefe, also auch an Karl Friedrich nicht schreiben. Briefe an Geschwister zu schmuggeln, wie er das seit November 1943 reichlich an den Freund im Feld tat, das wäre wegen möglicher Familienpostüberwachung zu gefährlich gewesen. Aber in einem jener geschmuggelten Briefe steht dann: „Ich lese mit größtem Interesse das Weizsäckersche Buch und hoffe auch für meine Arbeit viel daraus zu lernen“ (Widerstand und Ergebung, Neue Auflage 337), nämlich, daß man Gott nicht als Lückenbüßer unserer unvollkommenen Erkenntnis figurieren lassen darf ... In dem, was wir erkennen ... Das gilt für das Verhältnis von Gott und wissenschaftlicher Erkenntnis.“ (a.a.O. 341) Ist es nicht mit Händen zu greifen, wie der Bruder Karl Friedrich tatsächlich eine der wichtigsten Motivationsgestalten hinter Bonhoeffers Tegeler Theologie ist?

8.) Januar 1941.

Der letzte uns erhaltene Geburtstagsgruß Dietrichs an seinen älteren Bruder ist der relativ pünktliche Kartengruß vom 17.1.41 und der stammt nun schon von einer der konspirativen Reisen, die Dietrich in Bayern unternahm. Diese Reise führte zu dem ebenfalls für die Abwehr UK-gestellten Abt des Benediktinerklosters in Metten, dem Abt Hofmeister. Der Gruß lautet: An Karl Friedrich.

Ansichtskartenstempel: Landshut 17. Januar 41

„Lieber Karl Friedrich!

Zu Deinem Geburtstag etwas verspätet herzliche Grüße und viele guten Wünsche für Euch im neuen Jahr. Ich bin gerade auf der Reise in das Benediktinerkloster Metten, wo ich allerlei zu besprechen habe in der mich jetzt beschäftigenden Frage. Nächste Woche werde ich voraussichtlich für einige Wochen in die Schweiz fahren. Anschließend werde ich wohl wieder einmal kurz nach Berlin kommen. Alles Gute Euch allen! Dein Dietrich.“

Hier kündigt Dietrich Bonhoeffer nun bereits die erste seiner drei größeren Reisen in die Schweiz an, die ihm die Abwehr ermöglichte und bei denen es im Grunde immer um eventuelle Kontakte nach England ging. Am meisten aber beschäftigte ihn, bzw. freute er sich auf Begegnungen mit Karl Barth und William Visser t'Hooft in Basel bzw. Genf. Und dabei interessierte sich Barth ja nicht nur für Bonhoeffers neueste Versuche mit einer Ethik, sondern ebenso dafür, vom neuesten Stand des Widerstandes in Deutschland Authentisches zu hören.

V.

Damit enden die erhaltenen Briefe von Dietrich an Karl Friedrich. Die Fühlungnahme und das lebhafte, intensive Interesse aneinander nimmt damit jedoch keineswegs ein Ende. Für Dietrich hatte sich 1940 mit der polizeilichen Versiegelung des Seminarhäuschens in Hinterpommern das persönliche Entscheidungszentrum seit 1940 wieder ganz in das Berliner Elternhaus verlagert. Dort kam im Krieg der Geschwisterkreis intensiver zusammen als je zuvor. Auch Karl Friedrich reiste nun häufiger von Leipzig nach Berlin; dienstlich mit einer neuen Beratertätigkeit bei Osram, kehrte aber immer in der Marienburger Allee ein. Das hieß, dass er ziemlich genau im Bilde war über Dietrichs wachsende Einbindung und Planung in der militärischen Abwehr am Tirpitzufer und über seine Tätigkeiten in der Konspirationsgruppe um Hans Oster und Hans von Dohnanyi.

Als Karl Friedrich im Juni 1945 nach der Katastrophe für die Familie (zwei Brüder und zwei Schwäger noch kurz vor dem Ende ermordet) zum ersten Mal wieder aus Leipzig nach Berlin hindurch drang, schrieb er an seine Kinder, was er dort angetroffen hat. Das kann man jetzt in WEN 422ff nachlesen unter der Überschrift „Epilog“. Er erwähnt, er habe gehört, Dietrich sei aus Regensburg in Flossenbürg angekommen. Von der Ermordung weiß er noch nichts. Der Epilog schließt mit der bangen Frage: „Warum ist er noch nicht da?“

In Karl Friedrichs Briefen an Dietrich in Tegel steht nichts von Theologie. Aber Dietrich ist intensiv damit befasst und experimentiert mit dogmatisch-christologischen Entwürfen. Geschmuggelt gehen sie während des Sommers 1944 an einen theologischen Freund im Feld. Sie beziehen sich auf Kirche und Theologie. Dennoch stammt ein hoher Anteil des Motivationsdruckes für diese Seiten von Karl Friedrich, von dessen dogmatischen Vorbehalten und seinen in der ganzen Familie selbstverständlichen ethischen Überzeugungen und Handlungen. Die werden jetzt in Dietrichs Kopf fruchtbar und schöpferisch.

Dabei ist dieser Autor in diesen grausamen Tagen – sogar auch noch nach dem gescheiterten 20. Juli und der endgültigen Verdüsterung jedes Horizontes für die Konspirateure und für die Ihren – erstaunlich frei und souverän bei seinem Thema. Eine angefangene Arbeit zum Thema nimmt er im Oktober sogar noch mit in die Keller der Prinz-Albrecht-Straße und setzt sich immer wieder daran. Zu der gefährlichen Ethik der Konspiration muss die stimmige Dogmatik formuliert werden, nämlich eine Antwort auf die Grundfrage: „Wer ist Jesus Christus für uns heute?“ Diese ist er den Nächsten schuldig. So entstehen mitten in Zeiten schwerster Bombenangriffe, unter den Nachrichten vom gescheiterten Putsch, ja, noch während der Kellerexistenz der Prinz-Albrecht-Straße (seit dem 8. Oktober) viele Seiten neu erdachter Analysen des christlichen Glaubens „für uns heute“. Bis zur Ermordung!

Hoppenkothen, der für Bonhoeffer und Dohnanyi zuständige Reichssicherheitshauptamt-Mann, hat dann dieses Stück Nachlass von Bonhoeffer am 9. April 45 in Flossenbürg zu Asche gemacht. Für ihn ging es nur um Auslöschung nach Hitlers Befehl. Erreicht hat er das Gegenteil.

Bonhoeffer hat uns so aber keinen Abschluss und keine Endgestalt seiner krönenden Meditationen hinterlassen. Wir besitzen Anstöße in vorläufiger Briefform. Sie laden uns ein, mit, gegen und für Bonhoeffer weiterzudenken.

In einer Zeit des Umbruches von einer theozentrisch geprägten zu einer wissenschaftlich, ja materialistisch orientierten Welt, zusammen mit ihren menschenverachtenden Begleiterscheinungen, ist Dietrich Bonhoeffer – und dies auch mitbedingt durch die Präsenz des naturwissenschaftlichen Bruders – zum Theologen der Konspiration geworden. Sein Anliegen ist nach 50 Jahren nicht erledigt oder abgetan. Seine Sache steht wahrscheinlich gar erst an ihrem Anfang. Sie wirkt weiter, ja gewinnt mannigfaltige Aktualität.

Wie dieser Vergangene ein Stück Zukunft aufzuschließen vermag, dafür noch ein Beispiel ganz aus unserer Nähe:

Helmut Reihlen, Professor und Ingenieur, z.Zt. Präses der Berlin-Brandenburger Synode – außerdem höchst effektiver Organisator bei der Errichtung eines Bonhoeffer-Lehrstuhls am UTS in New York, was die deutsche Beteiligung betrifft, und deshalb soeben Empfänger der „Union medal“ (dem Äquivalent zum Ehrendoktor dort) sagte jetzt am 2. Februar 95 bei einer Vorlesungsreihe von amerikanischen und deutschen Lehrern an der Humboldt-Universität: Bonhoeffer ist derjenige „der mir als Erwachsenem dazu verhalf, in Glaubensfragen sprachfähig zu werden, beides mit gleichem Selbstbewußtsein zu sein, Ingenieur und Glied meiner Kirche ...

Es ist seine Bereitschaft, sich auf die Welt einzulassen, wie sie ist ... daß er seine Persönlichkeit nicht spalten lässt ... Naturwissenschaftler, Ingenieure beobachten die Natur, um ihre Gesetzmäßigkeiten zu erkennen ... und ihre Kräfte dienstbar zu machen. Und viele Naturwissenschaftler – die ‚Bauleute’ in der Bibel – wurden in unsrer Kirche heimatlos ... Da ist es wie eine Befreiung, wenn Bonhoeffer, aus seiner Gefängniszelle heraus nach der Lektüre von Carl-Friedrich von Weizsäckers ‚Weltbild der Physik’ sich dagegen wehrt, Gott als Lückenbüßer unserer unvollkommenen Erkenntnis einzusetzen.“ (Ansprache 2. Februar 95 Berlin, S. 2f.)