Unsere Geschichte ist arm an Höhepunkten.

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Gerd Löffler

Unsere Geschichte ist arm an Höhepunkten.

Gedenkrede des Berliner Senators für Schulwesen Gerd Löffler am 7. Juli 1971 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Meine lieben jungen Bürger aus den Berliner Schulen, ich möchte meine Betrachtung zur heutigen Zusammenkunft an dieser ehrwürdigen Stätte damit beginnen, dass ich sage: Unsere Geschichte ist arm an Höhepunkten, von denen Faszination ausstrahlt und die für jede Generation aufs Neue eine politische Wirkung ausüben, so dass eine bestimmte Tradition auch das politische Handeln bestimmen könnte.

Unsere Geschichte ist arm an Höhepunkten, und doch bedarf jede Generation eines Geschichtsbewusstseins, denn ohne ein Geschichtsbewusstsein, das uns alle verbindet, ist es nicht möglich, die öffentlichen Dinge jeweils besser zu ordnen, als wir sie vorfinden. Ich spreche hier nicht davon, falsche Traditionen zu bewahren. Von Traditionen zu reden, heißt, politisch zu werden und sich zu bestimmten Ereignissen der eigenen Geschichte zu bekennen. Dass unsere Geschichte arm an Höhepunkten ist, macht es der politisch engagierten jungen Generation schwer, sich in der Gegenwart zu orientieren. Die Revolution von 1848 ist seltsam blass geblieben, obwohl die Träger jener Bewegung aus der Tradition der großen französischen Revolution handelten und den Deutschen eine freiheitliche Verfassung geben wollten. Der 11. August 1919, der Tag an dem sich die Erste Deutsche Republik ihre freiheitliche Grundordnung gab, ist schon damals nicht als Höhepunkt unserer Geschichte empfunden worden. Die Deutsche Nation war zerrissen, viele ihrer Bürger erkannten diese Republik nicht als ihren Staat an. Die Erste Deutsche Republik ist auch an innerer Auszehrung, an mangelnder Unterstützung vieler ihrer Bürger zu Grunde gegangen. Auch der 17. Juni 1953, der Tag an dem die Arbeiter im anderen Teil Deutschlands sich gegen Bevormundung und Unterdrückung der Kommunisten erhoben, ist heute als Höhepunkt nationaler Deutscher Geschichte umstritten. Je deutlicher uns wird, dass eine nationalstaatliche Vereinigung der beiden Teile Deutschlands nicht erreichbar ist. Je mehr wir erkennen, dass nur in einer umfassenden europäischen Lösung die Spaltung Deutschlands überwunden werden kann, desto geringer wird gleichzeitig, zu Unrecht, wie ich meine, die Symbolkraft des 17. Juni.

Die 12 Jahre nationalsozialistischer Herrschaft über Deutschland und Europa gehören zu den schmerzlichsten Epochen der Menschheitsgeschichte überhaupt, weil Unmenschlichkeit und Barbarei über alle Werte und Ideale unserer Zivilisation triumphierten. Und doch ragt aus dieser Zeit, aus dieser düsteren Zeit unserer Geschichte der 20. Juli 1944 hervor, ein Tag, der einen Höhepunkt unserer Geschichte symbolisieren müsste.

Ziel und Opfergang des deutschen Widerstandes gegen Hitler gehören zu den edelsten und zu den größten Ereignissen, die in der Menschheitsgeschichte überhaupt je sichtbar geworden sind. In dieser Weise hatte sich zwei Jahre nach dem 20. Juli 1944 Winston Churchill geäußert, der selbst als Premier Großbritanniens während der Kriegszeit die Bedeutung des deutschen Widerstandes gegen Hitler nicht zu erkennen vermochte.

Woran liegt es nun, dass Teile unserer politisch engagierten Bürger, namentlich der jüngeren Bürger kein rechtes Verhältnis zu dem deutschen Widerstand gegen Hitler gefunden haben? Woran liegt es nun, dass viele der jungen Bürger, wenn man mit ihnen spricht, Che Guevara eher nennen, ehe sie Stauffenberg nennen. Woran liegt es, dass gerade diese jungen Bürger, denen es darum geht, mehr Freiheit in dieser Gesellschaft zu erringen, die Verhältnisse zu verbessern, dass sie nicht fußen auf den Geist der Freiheit, den der deutsche Widerstand gegen Hitler darstellt. Woran liegt es, dass sie Vorbilder in anderen Bereichen suchen; woran liegt es, dass immer wieder in den Gesprächen mit ihnen, den jungen Bürgern, die jetzt an den Universitäten sind, Auffassungen von Mao im Vordergrund stehen, und nicht das, was sittliches Bemühen um mehr Freiheit und Wiederherstellung der Freiheit der Widerstandskämpfer gegen Hitler war.

Liegt es vielleicht daran, dass der deutsche Widerstand gegen Hitler kein in sich geschlossenes Konzept zur Erneuerung des Staates und der Gesellschaft hatte? Dass die Männer des Widerstandes über vorläufige Regelungen und Ordnung zur Wiederherstellung des Rechtsstaates im wesentlichen nicht hinausgekommen waren. Dass vor allen Dingen die großen gesellschaftlichen Probleme und die Fragen der Selbstbestimmung und Mitbestimmung des Bürgers in einer demokratischen Ordnung von den Männern des Widerstandes im allgemeinen nicht konzipiert worden waren. Die Fragen sind schwer zu beantworten.

Eine andere Frage kann noch angefügt werden: Liegt es vielleicht daran, dass im Ganzen gesehen der Widerstand gegen Hitler keinen Erfolg hatte? Dass das deutsche Volk und Europa den Kelch bis an die Neige trinken musste, dass das Verhängnis voll seinen Lauf nahm. Hier muss ich erinnern, dass die größten Verluste an Menschenwerten, an kulturellen Werten im letzten Kriegsjahr nach dem 20. Juli in Europa eintraten? Und auch die größte Vernichtung von Menschenleben in den Konzentrationslagern nach dem 20. Juli erfolgte.

Aber kann wirklich der 20. Juli 1944 der jungen Generation heute nicht viel sagen? Ich meine, es ist das Vorrecht der Jüngeren, aus Idealismus, auch aus Ungeduld die noch nicht befriedigend gelösten Probleme unseres Staates und unserer Gesellschaft aufzubereiten, auf Verbesserung zu drängen, auf Veränderung. Es ist ihr Recht und auch ihre Pflicht, Unrecht, Unterdrückung, Unmenschlichkeit, wo immer sie auftreten, anzuprangern. Dabei erscheinen manchen dieser engagierten jungen Bürgern die Möglichkeiten unseres Staates zu gering, mehr Freiheit, mehr Selbstbestimmung zu erreichen. Und in diesem Maße, wie ihnen diese Möglichkeiten zu gering erscheinen, wenden sie sich geschlossenen gedanklichen Systemen, Ideologien zu, von denen sie mehr Chance auf Lösung der Probleme erhoffen. Wir Älteren dürfen die Jüngeren in diesem schwierigen Prozess nicht im Stich lassen. Wir dürfen ihnen vor allen Dingen ihren Glauben nicht bestreiten, dass vieles besser gemacht werden könnte, als es heute gemacht wird. Aber wir Älteren müssen auch immer wieder den Jüngeren sagen, dass niemand aus der Geschichte heraustreten kann, dass all unser politisches Handeln verwoben ist mit unserer Vergangenheit. Und dass wir Älteren Grund zur Skepsis haben, wenn Heilslehren und Ideologien verkündet werden zur Verbesserung dieser Welt. Der Nationalsozialismus, der gegen Ende der Epoche der Weimarer Republik an Einfluss und Geltung gewann, weil Bürger in freier Abstimmung den Nationalsozialisten ihre Stimmen gaben. Der Nationalsozialismus selbst in seiner Geschichte lehrt uns diese Skepsis, denn dieses System war ein Versuch, geschlossene Lösungen extrem anzubieten. Völkische Lösung, Gesamtlösung für die Ordnung aller Probleme in Staat und Gesellschaft. Es gibt keine geschlossene Lösung. Es gibt nicht die Chance, dass eine Gruppe des politischen Lebens in der Gesellschaft ein geschlossenes Konzept für die Regelung aller noch zu regelnder Fragen hätte.

Nur aus der Konkurrenz, der freien Konkurrenz mehrerer Politischer Gruppen und ihrer Konzepte ergibt sich die Chance zur Verbesserung der Wirklichkeit dieser Welt. Nur aus dem Geist der Freiheit, für den die Opfer des 20. Juli Zeugnis abgelegt haben, kann eine Verbesserung unserer Welt heraus erfolgen. Freiheit kann jedoch nur bewahrt werden, wenn die Macht des Staates kontrolliert wird. Wenn dem Staat verwehrt ist, in den Freiheitsraum der Bürger einzugreifen. Wenn die Grundrechte eines jeden Bürgers vor staatlichem Zugriff geschützt sind.

Die Lösung aller noch unbefriedigt geregelten Fragen und Probleme unseres öffentlichen Lebens, die Verbesserung der Verhältnisse in unserer Gesellschaft sind nur möglich, wenn die Konflikte in rechtstaatlichen Formen fair und unter Wahrung des Toleranzgebotes ausgetragen werden.

Es gehört zu dem Wesen von geschlossenen Konzepten, von Heilslehren, von Ideologien, die jeweils Antwort auf alle Fragen anbieten, es gehört zu diesem Wesen, im Grunde untolerant zu sein und auf totalitäre Herrschaft zu drängen. Wer nicht erkennt, dass Freiheit immer die Freiheit des Andersdenkenden ist, wie Rosa Luxemburg sagte, wird nicht fähig sein, über sein politisches Engagement mehr Freiheit für alle Bürger zu erstreiten. Dass im deutschen Widerstand gegen Hitler Konservative und Liberale, Atheisten und Christen, Sozialdemokraten und auch Kommunisten ihr Leben opferten, ist ein unmittelbarer und nicht widerlegbarer Beweis dafür, dass die Freiheit unteilbar ist, aber auch vor allem, dass sich Bürger von unterschiedlichen Anschauungen her und Einstellungen her um mehr Freiheit bemühen können, oder um die Wiederherstellung der Freiheit. Man kann Freiheit auch von konservativer Anschauung her anstreben. Das würde nicht eine Freiheit in jedem Punkt sein, die meinen persönlichen Anschauungen etwa als Sozialdemokrat entspräche. Aber ich muss ganz klar betonen, auch die Gestaltung der öffentlichen Dinge aus konservativem Denken heraus ist legitim und unterliegt dem Schutz des Staates. Soweit die Freiheit unteilbar ist, muss auch die Toleranz unteilbar sein. Es darf nicht sein, dass Einzelne oder Gruppen oder der Staat selbst, um Freiheit zu wahren, oder wahren zu wollen, das Gebot der Toleranz missachtet. Denn diese Toleranz gebietet, dass man nur in den Formen, die das Grundgesetz vorschreibt, politische Konflikte lösen kann.

Wer dies übersieht, oder glaubt, sich darüber hinwegsetzen zu können, verlässt den Weg demokratischer Gestaltung der öffentlichen Dinge. Manche Kritiker unter den jüngeren engagiert politisch denkenden Bürgern meinen, unsere Demokratie wäre nur eine formale Demokratie. Ich kann das nicht als Vorwurf werten, denn demokratische Selbstbestimmung kann sich nur entfalten, sofern und so lange die von der Verfassung vorgeschriebenen Verfassungsvorschriften strikt eingehalten werden. Der dramatische Konflikt, der sich in den letzten Tagen in den Vereinigten Staaten vollzog, dass das höchste Gericht des Staates die Unabhängigkeit und das Informationsrecht der Presse gegen die mächtige Regierung verteidigte, dieser Vorgang kann sich nur in einem Staate vollziehen, in dem die Gewalten getrennt sind, und in dem die Unantastbarkeit juristischer Wertung gesichert und unverbrüchlich ist. Würde das in den Vereinigten Staaten nicht eingetreten sein, dann wäre tendenziell die Entwicklung in diesem, für unseren Bereich entscheidenden Lande ein Weg weg von Demokratie und Freiheit getan.

Aber diejenigen, die meinen, dass wegen der privatkapitalistischen Grundordnung, die nicht unter dem Grundrechtsschutz steht, weil auch unser Grundgesetz gemischtwirtschaftliche und gemeinwirtschaftliche Verhältnisse der Wirtschaft zulässt, diejenigen Kritiker, die meinen, dass Staaten, die privatkapitalistisch verfasst sind, können gar nicht im Endergebnis Freiheit bewahren, und freiheitliche Ordnung garantieren, müssten nachdenklich werden, mindestens skeptisch angesichts dieser Tatsache, die sich in den letzten Tagen in den Vereinigten Staaten abgespielt hat.

Wer meint, dass die Unantastbarkeit des formalen Ablaufs demokratischer Konflikte nicht zu einem Wesensbestandteil unserer Demokratie gehört, verkennt die Probleme. Die Form ist die Schwester der Freiheit und Freiheit kann sich nur in klaren Formen staatlichen Lebens entfalten. Manches, was sich in den letzten Wochen etwa in den Auseinandersetzungen in den Universitäten, wo Konflikte ausgetragen werden, vollzog, kann bei Zugrundelegung dieses Maßstabes nicht kritiklos hingenommen werden. Es darf nicht zu dem Bild unser öffentlichen Auseinandersetzung gehören, dass Andersdenkende von einzelnen oder Gruppen, und da gibt es Wechselwirkungen, eben weil sie Probleme anders lösen wollen, unter Anwendung von Gewalt bedroht oder angegriffen werden. Mich bedrückt auch, wie in manchen Teilen der engagierten, politisch engagierten jungen Generation die Diskussion um das Problem der Gewalt im Staate geführt wird. Sofern und so lange die Verfassung des Staates und nicht nur die geschriebene, sondern die Wirklichkeit, die Durchsetzung politischer Auffassung im Rahmen der Grundordnung garantiert, und das ist für unseren Staat gesichert, ist Gewaltanwendung in der politischen Auseinandersetzung nicht nur von Übel, sondern birgt in sich den Keim des Niederganges der Demokratie selbst. Über diese Zusammenhänge muss nachgedacht werden. Wir Älteren haben aus bitterer leidvoller Erfahrung Antworten. Wir müssen um Verständnis werben, dass diese Antworten nur ein Teil unseres Geschichtsbewusstseins sind und dass wir die Jüngeren bitten, diese unsere Antworten kritisch zu prüfen und zu versuchen anzuerkennen, ob es nicht richtige Antworten sind.

Ich meine, dass zum Vermächtnis aller Toten des 20. Juli, des Widerstandes davor und danach gegen Totalitarismus, gegen Barbarei, gegen Unmenschlichkeit gehört, zu sehen, dass Freiheit nicht teilbar ist, und dass der Widerstand bis hin zu dem, wozu Stauffenberg bereit war, zum Tyrannen wird, dass der Widerstand mit Anwendung von Gewalt gegen staatliche Instanzen in einem totalitären Regime legitim ist.

Auch das ist in unserem Grundgesetz geschrieben. Aber so lange eine Grundordnung dem Bürger Entfaltungsmöglichkeiten bietet, sein Denken, sein Handeln schützt, in den Grenzen, die die Grundordnung festlegt, so lange ist die Anwendung von Gewalt von politischen Gruppen illegitim und bedeutet eine Bedrohung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Unsere Geschichte ist arm an Höhepunkten war der Grundgedanke, von dem ich ausging.

Das Vermächtnis des Widerstandes gegen Hitler zu bewahren, ist ein Appell an alle. Den Weg zu suchen, ob nicht in größerem und stärkerem Maße als bisher der Geist der Freiheit zu dem Vermächtnis dieses Widerstandes gehört, uns gebietet, mehr Toleranz gegenüber dem Anderen in den politischen Konflikten zu wahren. Zu dem Vermächtnis dieser Toten gehört aber auch, sich um Frieden zu bemühen. Um Erhaltung der Freiheit und um Ausbau dieser Freiheit. Unser Gedenken an sie, die uns dieses Vermächtnis übergeben haben, hat nur dann einen Sinn, wenn wir uns über unser politisches Tun und unser Handeln in den Konflikten Rechenschaft ablegen. Und wenn wir uns jeweils fragen, die Jüngeren, die Älteren, ob wir durch unser politisches Tun, durch unser Verhalten die Freiheit zu bewahren helfen, ob wir in unserem Staate dem Frieden dienen, dem Frieden im Ganzen und dem inneren Frieden der politischen Gruppen, die um Macht, um Einfluss ringen. Das Engagement unserer jüngeren Bürger ist es wert, sich diesen Zielen zuzuwenden, sich diesen Zielen verpflichtet zu sehen. Das Vermächtnis der Toten jedoch gebietet uns, aller Gewaltherrschaft, aller Gewaltanwendung im politischen Kampf Absage zu leisten.

In diesem Sinne bitte ich weiterhin die Berliner junge Generation, Schüler und Studenten um politisches Engagement, um ein Streiten für ihre Rechte, um mehr Mitbestimmung und Mitwirkung, aber ich bitte gleichzeitig darum, dieses Engagement in den Formen rechtstaatlicher, von der Grundordnung her bestimmten Weise ablaufen zu lassen, weil auch ein richtiges Ziel einer politisch engagierten jungen Generation diskriminiert werden kann durch die Formen und durch die Art und Weise, wie dieses Ziel erreicht werden soll. Es kann nur erreicht werden, und das ist der Kern unserer Erfahrung, der Erfahrung der Älteren, wenn wir jeweils dem Anderen zubilligen und zugestehen, dass er aus seinem Verständnis von Demokratie und Freiheit auch das Beste und die Verbesserung der bestehenden Verhältnisse sucht und will. Wer das bestreitet und damit den Pfad der Toleranz verlässt, wird sein Ziel nicht erreichen und wird in Widerstreit treten zu den Zielen und Auffassung der Männer und Frauen, die an dieser Gedenkstätte ein Symbol für ihr tapferes Verhalten und ihren Opfergang gefunden haben.