Unsere Toten wollten den Krieg verhindern

Walter Bauer

Unsere Toten wollten den Krieg verhindern

Ansprache von Dr. Walter Bauer, Stiftung „Hilfswerk 20. Juli 1944“, am 20. Juli 1955 im Ehrenhof des Bendlerblocks in der Stauffenbergstraße, Berlin

Verehrte, zu ehrfurchtsvollem Gedenken Versammelte!

Zehn Jahre nach Kriegsende ist in dem Bewusstsein der Deutschen und der Weltöffentlichkeit immer noch nicht genügend klar, wofür die Toten der deutschen Widerstandsbewegung, insbesondere die am 20. Juli 1944, gekämpft haben, gelitten haben, gestorben sind. Zwei vielfach gehörte Deutungen sind wegen ihrer Verallgemeinerung falsch, auch wenn sie einen richtigen Kern enthalten: Die eine, die da besagt, der Kampf der deutschen Widerstandsbewegung, der Kampf unserer Toten habe lediglich der Beendigung eines aussichtslos gewordenen Krieges gedient. Gewiss, das wollten sie, das wollten wir auch. Aber wir wollten dies wahrlich nicht allein, nicht in erster Linie und vor allem nicht erst zu dem Zeitpunkt. Die zweite These interpretiert, unsere Toten hätten gegen das Naziregime losgeschlagen um des Zuschlagens willen, damit wenigstens etwas zur Rettung der Ehre geschehe. Auch dieses Motiv hat in der Tat mitgeschwungen. Bei der Schwere des Kampfes gegen ein totalitäres Regime mit all seinen Machtmitteln war auch das Scheitern mit einkalkuliert. Es sollte der Welt bewiesen werden, dass es das andere, das wahre Deutschland gebe.

Entscheidend und die Rettung der Ehre mitenthaltend, ja, sie realisierend, war der feste Wille unserer Toten, unser Land von einem Regime zu befreien, das Gottes Gebote missachtete, das Recht und Freiheit der Person, das Recht und Freiheit anderer Völker mit Füßen trat, das in seiner Maßlosigkeit, in seiner Hybris uns, unser Land und Volk, Europa, ja die Welt mit Sicherheit ins Verderben führen musste.

Unsere Toten wollten den Krieg verhindern, auf den das Hitlerregime zielbewusst hinsteuerte, und sie wollten dann, als verhängnisvoll widrige Umstände die beabsichtigte rechtzeitige Beseitigung von Hitler hatte misslingen lassen, den begonnenen Krieg so rasch wie möglich beenden, lange bevor er in seine Peripetie eingetreten war. Was wäre nach unserem menschlichen Begreifen unserem Land, den Nachbarvölkern, was wäre der Welt an Leid und Tod, an Zerstörung, Verbrechen und an Spaltung unseres Landes erspart geblieben, wenn unserer Toten Pläne gelungen wären!

Aber unserer Toten Tun, unser Tun ist gescheitert. Der Kampf gegen das totalitäre Regime mit seinen universellen Hilfsmitteln war von Anfang an maßlos schwer. Von draußen kam dazu viel Unvernunft und wenig Hilfe. In den entscheidenden Wochen und Monaten wurde dem inneren deutschen Widerstand von draußen keine Chance gewährt. Die Forderung von unconditional surrender war eine entsetzliche Hypothek. Lassen Sie mich freimütig bekennen, dass wir trotz allem, was gewagt, was getan, was gelitten worden ist, immer noch zu wenig gewagt, zu viel und zu lange gezögert haben. Ich für meinen Teil möchte hinzufügen: dass wir uns nicht adäquater Waffen bedient haben.

In formalem Sinne war unser Tun Hochverrat, aber es war Hochverrat gegenüber einer verräterischen Ordnung. Eine andere Möglichkeit, die politischen Verhältnisse in unserem Land von innen her zu ändern, gab es einfach nicht. Aber obgleich unser Tun unzulänglich war, obgleich es gescheitert ist: nach Motiven, nach Intentionen, nach moralischer Legitimation war es nicht falsch. Es war sittlich geboten: wo Gottes Gebote missachtet, wo Recht und Freiheit von Person und anderen Völkern verletzt werden, muss dem Bösen Einhalt geboten werden.

Unser Tun war aber auch politisch geboten: Deutschland, Europa, dem Abendland Bestand und Frieden zu retten, musste versucht werden. Unser Wollen und unser Tun hatte Sinn und Zweck. Und in einem höheren Sinn hat es doch gesiegt: Der 20. Juli 1944, die deutsche Widerstandsbewegung halfen nach dem grauenhaften Ende, das wir befürchtet hatten und das wir nicht verhindern konnten, das Misstrauen in der Welt gegen alles, was deutschen Namen trägt, was deutsche Zunge spricht, aufzutauen und zu beseitigen.

Der 20. Juli und die deutsche Widerstandsbewegung halfen, eine neue staatliche Ordnung in Deutschland zu schaffen. Ihre Motive und ihre Pläne, ihr Glaube und ihre Verantwortung sind konstitutive Elemente der Bundesrepublik Deutschland geworden. Sie müssen in einem sehr viel lebendigeren, in einem sehr viel tieferen und umfassenderen Sinn konstitutive Elemente des wiedervereinigten Deutschland werden.

Geben wir uns Rechenschaft! Zehn Jahre nach Kriegsende haben wir für einen erstaunlichen lebensmäßigen und wirtschaftlichen Wiederaufstieg in der Bundesrepublik und in West-Berlin zu danken; haben wir zu danken, dass wir in der Freiheit der Person, der Familie, des Glaubens, der Rede atmen und wirken dürfen; haben wir zu danken, dass wir im Kreise der Völker, wenn auch noch mit Vorbehalten, wieder geachtet werden, dass wir wieder Freunde haben in der Welt.

Aber: unser Land ist getrennt; noch ist kein Friede von Bestand; noch hat die Nation, noch hat Europa kein Bild vom 20. Juli und seinen Motiven; noch sind wichtige Vorstellungen und Absichten unserer Toten vom Zusammenleben unseres Volkes und der Völker untereinander nur sehr teilweise realisiert: Im Innern ermangelt es weithin wahrer und stabiler Einigkeit; der Friede zwischen den Konfessionen und die Wirkkraft unserer Kirchen haben gegenüber der Zeit der Bedrückung und der Not nachgelassen; Selbstverantwortung und Gerechtigkeit haben das Regime des Terrors nicht in dem Maße abgelöst, wie unsere Toten, wie wir es erhofft hatten. So bleibt denn als Vermächtnis: das rechte Bild unserer Toten im Bewusstsein der Nation zu schaffen, noch mehr: das im Sinne unserer Toten rechte Tun nach innen und außen zu realisieren: kein totalitäres Regime soll in unserem Lande Gewissen knechten, Freiheit rauben, ganze Gruppen rechtlos machen, Verträge brechen und fremde Völker unterjochen.

Das Recht der Person darf nicht herabgewürdigt und Hohes und Heiliges darf nicht um machtpolitischer Ziele willen mit Zynismus behandelt oder verneint werden.

Im Angesicht von Glaubensnot und Glaubenslosigkeit müssen wir Frieden unter den Konfessionen halten, müssen wir das Unsere beitragen, dass unsere Kirchen ihre Aufgaben kraftvoll und nachhaltig erfüllen, müssen wir das Unsere tun, dass echter Friede unter den Ständen herrsche und dass auch zwischen Regierung und Regierungskoalition einerseits und den in Opposition befindlichen Parteien andererseits das unumgängliche Maß von Verständnis und Einvernehmen in den grundsätzlichen, in den wahrhaft wichtigen Fragen zum Wohle des Ganzen herrsche.

Auch unter Opfern haben wir mit allem, was wir sind und können, für die Wiedervereinigung der getrennten Teile unseres Landes einzutreten. Im Wissen um die Grenzen von Staat und Nation und im Wissen darum, dass Europa zwischen den großen staatlichen Giganten, die aus dem letzten Krieg hervorgegangen sind, hoffnungslos verloren ist, wenn es nicht zu einer übernationalen Ordnung seines Lebens kommt, haben wir Schritt für Schritt zielbewusst Europa mitzuschaffen und unser Land als Teil dieses Europa zu verstehen und einzuordnen. Alles, was wir tun können, dass wir in Freiheit und Frieden und versöhnt mit den anderen Völkern leben, das haben wir zu tun.

Unsere Toten lehren uns, dass wahrer Patriotismus Verantwortung fürs Ganze, Bekenntnis, Courage, Bereitschaft zum Opfer ist. Dabei haben wir die Sorge für die Hinterbliebenen unserer Toten, insbesondere für diejenigen, für die nicht anderweitig gesorgt ist, nicht außer Acht zu lassen. Wir dürfen für viel Hilfe, die den Hinterbliebenen widerfahren ist, danken, aber wir haben auch klar und auf die Dauer Recht zu fordern für die anderweitig nicht versorgten Witwen, für die anderweitig nicht versorgten Kinder bis zur Beendigung ihrer Ausbildung, und zwar einer Ausbildung, wie wenn die Väter noch leben würden.

Während wir hier versammelt sind, wird auf Beschluss von Regierendem Bürgermeister, Senat und Abgeordnetenhaus der Stadt Berlin die Bendlerstraße umbenannt in Stauffenbergstraße. Wir danken der Stadt Berlin für diese Ehrung. Wir danken ihr zugleich für ihr seit Jahren bekundetes Bemühen, die Erinnerung an den deutschen Widerstand und seine Toten lebendig zu erhalten. Die Initiative dazu ist von dem verstorbenen Regierenden Bürgermeister dieser Stadt, von Ernst Reuter ausgegangen, der nicht nur für Berlin, der für Deutschland viel zu früh gestorben ist. Möge der Geist eines Ludwig Beck, eines Claus Stauffenberg und ihrer Kameraden im neu erstehenden deutschen Heer Leitbild, Richtschnur und verpflichtendes Erbe werden!

Wir danken unseren Toten für das, was sie gewagt, was sie gelitten haben und wie sie gestorben sind. Wir danken Gott, dass er ihnen und uns in schwerster Zeit den Weg gezeigt hat, dass er unserer Toten und unser Tun trotz seines Scheiterns nicht hat umsonst sein lassen und dass er unserem Land und Volk trotz aller Schuld, Vergehen und Verbrechen eine neue Chance gegeben hat. Wir bitten Gott um den ewigen Frieden für alle Toten des deutschen Widerstands, insbesondere für die, die im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944 ihr Leben lassen mussten.

Uns, den Hinterbliebenen und den Überlebenden aber, stehe er gnädig bei, das uns aufgetragene Los und Vermächtnis würdig zu tragen und zu erfüllen! Mit solchem Dank und solchem Gelöbnis lege ich namens des Hilfswerks 20. Juli 1944 als der Zusammenfassung von Hinterbliebenen und Überlebenden diesen Kranz nieder.






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