Vermächtnis als Auftrag

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Gerhart Rudolf Baum

Vermächtnis als Auftrag

Ansprache des Bundesminister des Innern Gerhart Rudolf Baum am 20. Juli 1982 in der Stadthalle Bonn-Bad Godesberg

Im nächsten Jahr jährt sich zum 50. Mal der Tag, an dem Hitler die Macht ergriff. Der 30. Januar 1933 steht seitdem als Tag der Machtergreifung symbolhaft für den rassistischen, intoleranten, totalitären Staat, der 1945 in einem Chaos von Zerstörung und Unmenschlichkeit unterging, nachdem er einen Krieg begonnen hatte, der Millionen Menschen ins Unglück gestürzt hat und dessen Folgen heute noch nachwirken.

Heute vor 38 Jahren hat eine Gruppe von Menschen, die aus allernächster Nähe die Untaten des Regimes verfolgen konnte, versucht, dieses Unrechtregime mit Gewalt zu beseitigen. Was wäre den Völkern einschließlich dem deutschen Volk erspart geblieben, hätte der Unrechtsstaat nicht erst am 8. Mai 1945, sondern bereits im Juli 1944 sein Ende gefunden.

Der 20. Juli 1944 ist ein Symbol gegen den 30. Januar 1933.

5 000 Menschen, so wird geschätzt, haben in unmittelbarem Zusammenhang mit dem gescheiterten Attentat auf Hitler ihr Leben verloren. Die Zahl der Opfer des Widerstandes gegen das Naziregime ist ungleich größer. Es waren Menschen aller Schichten, Richtungen und Berufe: Studenten, Lehrer, Schriftsteller, Wissenschaftler, Geistliche, Soldaten und Arbeiter und es waren nicht nur Deutsche.

Der 20. Juli ist zum Sinnbild dieses Widerstandes gegen das nationalsozialistische Unrechtsregime geworden. Es waren Menschen, die sich bei allen Unterschieden einig waren, dass Unterdrückung der Menschenrechte und der Meinungsfreiheit, politische Verfolgung und Krieg auch dann nicht tatenlos hingenommen werden durften, wenn dadurch das eigene Leben gefährdet war.

Sie haben ihr Ziel nicht erreicht. Und doch war ihr Opfer nicht vergebens. Denn ihre Haltung und ihre Tat gehören zum Fundament unseres neuen Staates.

Sie haben es uns erleichtert, wieder gleichberechtigt in den Kreis der Völker einzutreten. Natürlich müssen wir uns bewusst bleiben: die Freiheit ist uns letztlich von außen gebracht worden. Und nur ein Teil der Deutschen lebt in einem freien Staat. Der andere Teil und die Völker Osteuropas vermissen diese Freiheit bis heute. Sie verloren sie durch unsere Schuld.

Carl Friedrich Goerdeler, der am 2. Februar 1945 hingerichtet wurde, hat in die für das Gelingen des Aufstandes geplante Regierungserklärung hineingeschrieben:

„Die Reichsregierung beginnt ihr Werk damit, dass sie die Staatsgewalt unter das Gesetz der Moral und des Rechtes stellt. Sie achtet die Persönlichkeit, die Familie, die religiösen Erkenntnisse, die Berufsverbände, die örtlichen Selbstverwaltungen und die freien Gewerkschaften, verlangt aber, dass sich alle dem Gemeinwohl verpflichtet fühlen.“

Im Grundgesetz und in der Gestaltung der Bundesrepublik hat sich dieses Vermächtnis der Opfer des 20. Juli niedergeschlagen bis hin zum Widerstandsrecht in Artikel 20 Abs. 4 unserer Verfassung:

„Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutsche das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“

Dieses Recht ist – und das sage ich, gerichtet an die Adresse derjenigen, die meinen, diese freiheitliche Grundordnung mit einem selbst definierten Widerstandsrecht bekämpfen zu müssen – ein Recht zur Verteidigung unserer freiheitlichen Rechtsordnung.

Es ist kein Recht, gegen diesen freiheitlichen Staat Gewalt anzuwenden. Nur wer seinen Widerstand gegen eine Störung dieser freiheitlichen Ordnung richtet, um sie selbst zu verteidigen oder wiederherzustellen, darf für diesen Widerstand selbst Legitimität in Anspruch nehmen.

In den 30er Jahren haben wir gesehen, wohin es führt, wenn Gruppen versuchen, mit Gewalt ihre Vorstellungen durchzusetzen. Dies darf sich nicht wiederholen. Gewalt ist kein Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele.

Dieser Staat ist offen für neue Entwicklungen, auch wenn er manchen zu unbeweglich erscheint. Aber immer wieder haben auch Minderheiten eine realistische Chance, Einfluss auf das politische Geschehen auf demokratischem Wege zu nehmen. Denjenigen, die Reformen oder Neues wollen, sei gesagt: Wir müssen unsere Verfassung nicht ändern oder abschaffen, sondern wir müssen sie immer wieder mit Leben erfüllen.

Für diejenigen, die in der Bundesrepublik nach dem Kriege aufgewachsen sind – und das sind inzwischen mehr als 50 Prozent der Bevölkerung –, bedeuten demokratische Rechte und Freiheiten eine Selbstverständlichkeit. Sie müssen aber auch wissen, was sie verlieren, wenn das Grundgesetz sie nicht mehr schützt.

Der Krieg ist für die nachgewachsene Generation nicht der Zweite Weltkrieg, sondern der Vietnamkrieg und die Kriege danach bis hin zum Krieg im Libanon, dessen schreckliche Bilder uns das Fernsehen allabendlich übermittelt. Vor allem dieser neuen Generation müssen wir verdeutlichen, dass es sich lohnt, sich für diesen Staat einzusetzen und ihn vor den Gefahren des politischen Extremismus zu schützen.

Frieden und Freiheit müssen immer wieder von neuem errungen werden. Sie sind nicht selbstverständlich. Auch eine freiheitliche Rechtsordnung ist nicht gefeit gegen Übergriffe und Rechtsverstöße.

In einem Lande, in dem 12 Jahre lang im Namen des Volkes gemordet worden ist, ist mir die rechtsstaatliche Sensibilität vor allem der jungen Generation viel wichtiger als die satte Selbstzufriedenheit derjenigen, die immer und zu allen Zeiten ihre Ruhe haben wollen. Ruhe ist nicht die erste Bürgerpflicht. Sondern Wachsamkeit gegenüber allen Gefahren für unsere rechtsstaatliche Substanz.

Die Bundesrepublik ist ein toleranter Staat, der bewusst die politische Auseinandersetzung über den Einsatz staatlicher Machtmittel stellt. Die Bundesrepublik ist auf Grund der Erfahrungen der Weimarer Republik eine wehrhafte Demokratie. Sie setzt sich mit den Minderheiten des rechten und linken Extremismus auseinander, die diese freiheitliche Ordnung bekämpfen.

Die Erinnerung an den 20. Juli 1944 macht es notwendig, auf die Gefahren eines wiederaufkeimenden Nazismus und die Möglichkeit seiner Überwindung einzugehen.

Dass der unverändert fortbestehenden Gefahr des Linksextremismus dieselbe intensive Aufmerksamkeit gilt, sage ich vorab denen, die mich in dieser Frage gern missverstehen. So hat die undogmatische linksextremistische Szene, die im Wesentlichen von Anhängern anarchistischer, so genannter autonomer Strömungen gebildet wird, in den letzten Jahren stetig an Militanz zugenommen. Die Zahl linksextremistisch orientierter Terroranschläge ist in den letzten drei Jahren besorgniserregend angestiegen.

Wenn – wie bei den massiven Ausschreitungen gegen den Bau der Startbahn West – gewalttätiger Protest als legitime Gegengewalt ausgegeben wird, ist der Sinn des in der Verfassung verankerten Widerstandsrechts in sein Gegenteil verkehrt. Wer sich auf ein Widerstandsrecht beruft, weil ihm eine bestimmte politische Entscheidung nicht passt, der missbraucht es.

Man muss sich aber besonders fragen, wie es möglich war und ist, dass nach den schrecklichen Erfahrungen der Nazizeit rechtsextreme Bestrebungen nach dem Kriege immer wieder sichtbar geworden sind.

Die Sozialistische Reichspartei zielte auf die Wiedererrichtung eines der NS-Diktatur vergleichbaren Systems ab und wurde daraufhin 1952 vom Bundesverfassungsgericht aufgelöst. Ende der 60er Jahre gelang es der aus der Deutschen Reichspartei entstandenen NPD bei Landtags- und Kommunalwahlen, Erfolge zu erzielen, nicht zuletzt auf Grund der schon damals gegen Gastarbeiter gerichteten Überfremdungspropaganda. Diese Erfolgsperiode war freilich nur von kurzer Dauer.

Im vergangenen Jahrzehnt hat der etablierte Rechtsextremismus mehr als die Hälfte aller Mitglieder verloren. Erst seit zwei Jahren ist die Zahl seiner Anhänger wieder leicht gestiegen und liegt bei derzeit 20 000.

Aber nicht nur die organisierten Rechtsextremisten bereiten Sorge. Die Auflage der rechtsextremistischen „Deutschen Nationalzeitung“ beträgt weit über 100 000 Exemplare, also gibt es viel mehr als 100 000 Leser dieser beschämenden Publikation.

Die im Auftrag des Bundeskanzleramtes erstellte „Sinus-Studie“ kommt zu dem Ergebnis, dass 13 Prozent der wahlberechtigten Bürger ein ideologisch geschlossenes rechtsextremes Weltbild haben. Trotz aller Vorbehalte gegen die Methodik der Studie zeigt die Untersuchung, dass eine Reihe von Ansichten, die durchaus in ein solches Weltbild passen, von einer ganzen Reihe von Bürgern vertreten werden, die mit dem organisierten Rechtsextremismus nichts zu tun haben wollen.

Die Gefahr ist, dass sie sich eines Tages für rechtsextremistische Ziele aktivieren lassen könnten. Die Aussagekraft der Studie wird auch nicht dadurch geschmälert, dass ähnliche Verhaltensweisen und Einstellungen auch in anderen Ländern feststellbar sind.

Der Rechtsextremismus bildet ebenso wie der Linksextremismus gegenwärtig keine ernsthafte Bedrohung für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung: Er birgt jedoch infolge seiner Irrationalität und Unberechenbarkeit, seines Fanatismus und Fremdenhasses ein gefährliches Gewaltpotential in sich. Seine Militanz hat in den letzten Jahren zugenommen bis hin zu terroristischen Anschlägen, die teils aus neonazistischen Gruppen heraus, teils von Einzeltätern in ihrem Dunstkreis begangen wurden.

Schreckliche Höhepunkte sind das auf dem Münchner Oktoberfest 1980 angerichtete Blutbad, die vor allem gegen Ausländer gerichteten Mordanschläge der so genannten Deutschen Aktionsgruppe um Manfred Roeder und die Taten des Helmut Oxner vor wenigen Wochen in Nürnberg, der drei Ausländer getötet und drei andere schwer verletzt hat. Claus Heinrich Meyer hat Helmut Oxner in der „Süddeutschen Zeitung“ wohl zu Recht als das Opfer einer fremdenfeindlichen rassistischen Propaganda bezeichnet, die in der Nachfolge nationalsozialistischer Rassenpolitik steht.

Besorgniserregend ist für mich vor allem, dass sich nicht nur „Ewiggestrige“, sondern insbesondere junge Menschen von neonazistischen Ideen und Gruppen angezogen fühlen. In Klassenzimmern und Schulhöfen tauchen Hakenkreuze und SS-Runen, Parolen wie „Hitler lebt“ und „Deutschland erwache“ auf.

Nicht immer sind solche Schmierschriften Ausdruck politisch-programmatischer Identifikation mit rechtsextremistischen Strömungen. Oft handelt es sich – wie eine interessante Studie der Freien Universität Berlin aufzeigt – um ungezieltes Provokationsverhalten, das sich der NS-Symbolik bedient. Gleichwohl ist es erschreckend, wie so etwas unbedacht geschehen kann.

Besonders gefährlich ist die Verknüpfung des Rechtsextremismus mit gezielter Ausländerfeindlichkeit. Sie bereitet mir große Sorgen. Unsere Vergangenheit verpflichtet uns hier zu besonderer Wachsamkeit. Noch nicht jede Art von kritischer Haltung gegenüber Ausländern ist als Ausländerfeindlichkeit zu charakterisieren. Von ihr kann nicht gesprochen werden, wenn kritische Auffassungen zur Ausländerproblematik rein argumentativ formuliert werden.

Ausländerfeindlichkeit müssen wir vor allem annehmen, wenn

- rassistische oder nationalistische Motive erkennbar sind,

- oder argumentative Verhaltensweisen durch agitatorische oder gar gewaltbefürwortende Aktivitäten ersetzt werden.

Ausländerfeindlichkeit beginnt bei geschmacklosen und diffamierenden Witzen zu Lasten der Ausländer und endet schließlich bei Anschlägen auf Menschenleben.

In der Agitation neonazistischer Hetzschriften und in der Propaganda der rechtsextremistischen Organisationen werden die Überfremdungsangst und die Angst um die Existenz vorsätzlich geschürt. Man versucht den Bürgern vorzugaukeln, die Ausländer seien schuld am Anstieg der Arbeitslosigkeit und der Wohnungsknappheit. Das soziale Netz soll durch die Ausländer gefährdet sein. Es wird sogar behauptet, die Ausländer hätten sich nicht an der Entwicklung des Wohlstands der Bundesrepublik Deutschland und der Knüpfung des sozialen Netzes beteiligt. Sie seien hierher gekommen, um die Vorteile des Sozialstaates zu genießen.

Wir alle wissen, dass dies nicht so ist – und wir müssen den Mut haben, es offen auszusprechen. Ohne Ausländer würde unsere Wirtschaft nicht funktionieren. Kein deutsches Auto würde ohne Mithilfe unserer ausländischen Mitbürger vom Band laufen.

Es ist eine Illusion zu glauben, die Arbeitslosigkeit könnte man beseitigen, wenn man die Ausländer wieder in ihre Heimatländer schicken würde. Ausländer arbeiten auf solchen Arbeitsplätzen, um die sich Deutsche gerade nicht bewerben.

Die rechtsextremistische Ideologie beruht auf den Fundamenten Rassismus und Nationalismus. Ein bornierter, stupid-primitiver Hass auf alles Andersartige und Fremde ist das Ziel. Der Hass auf Ausländer wird von den Rechtsextremisten nicht zuletzt geschürt, um nach den vernichtenden Wahlniederlagen der letzten Jahre erneut Fuß zu fassen.

Es gibt eine Vielzahl von Beispielen, in denen scheinheilig und pseudowissenschaftlich vor Überfremdung unserer Sprache, unserer Kultur und unseres Brauchtums gewarnt wird. Wo ist denn die „Überfremdung unserer Sprache und unserer Kultur und unseres Volkstums“, wo sind denn „die ethnischen Katastrophen multikultureller Gesellschaften in diesem Lande“, von denen das so genannte „Heidelberger Manifest“ spricht – ein Manifest, das auf völkischem und rassistischem Gedankengut beruht.

Wir kennen diese Sprache und lehnen sie ab. Die Ausländer, und hier sind vor allem die Türken betroffen, dürfen nicht als Sündenböcke für strukturelle Schwierigkeiten der wirtschaftlichen Entwicklung abgestempelt werden wie seinerzeit die Juden. Die Ausländerfeindlichkeit darf keine eigene Automatik entwickeln.

Es darf nicht dazu kommen, dass die Integrationsprobleme mit den Ausländern angesichts negativer Wirtschaftserwartungen in Ausländerhass umschlagen. Wir müssen hier aus unseren historischen Erfahrungen empfindlicher sein als andere Völker.

Mit polizeilichen Mitteln, administrativen Maßnahmen und Entscheidungen der Gerichte können wir die kriminellen Auswirkungen des Extremismus bekämpfen. Täter können gefasst und abgeurteilt werden, Waffenlager ausgehoben und Organisationen verboten, im günstigsten Fall Anschläge verhindert werden. Dadurch konnten wir auch erhebliche Erfolge erzielen. So wurden seit 1975 weit über 600 Straftäter rechtskräftig verurteilt. Gegen über 100 Personen sind Gerichts- und Ermittlungsverfahren anhängig.

Unser Staat wehrt sich also, auch wenn es mir unverständlich ist, dass die Mitglieder der Roedergruppe zu lebenslanger Haft verurteilt worden sind, während der geistige Vater dieses neonazistischen Zirkels mit einer zeitigen Freiheitsstrafe davongekommen ist. Auch sind mir manche allzu milden Urteile gegen Nazi-Verbrecher nicht recht verständlich.

Dies verhindert aber nicht – ebenso wenig wie das von mir Anfang 1980 verfügte Verbot der Wehrsportgruppe Hoffmann –, dass neue Extremisten nachwachsen. Hier kann nur eine geistig-politische Auseinandersetzung mit den Ursachen des Rechtsextremismus helfen, rechtsextreme Einstellungen zu überwinden.

Ich habe mich bei jeder Gelegenheit für eine derartige energische Auseinandersetzung mit dem Extremismus eingesetzt. Die Kultusminister und meine Kollegen in den Ländern sind derselben Überzeugung und handeln danach. Wir haben in dieser Richtung in der politischen Bildung vielfältige Anstrengungen unternommen und werden diese konsequent fortsetzen, gerade auch im Hinblick auf eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Neonazismus.

Der vor wenigen Wochen verstorbene Alexander Mitscherlich hat geklagt, dass statt der erhofften Wende nach Ende des Naziregimes ein kollektiver Verdrängungsprozess stattgefunden habe, eine Flucht in eine hektische Aufbauleistung. Diese Kritik deckt sich in wesentlichen Punkten mit den Ergebnissen einer Studie von Prof. Hennig, die ich über neonazistische Militanz und Gewalt unter Jugendlichen in Auftrag gegeben habe.

Die Studie versucht, auf Grund von Interviews den Weg dieser Jugendlichen nachzuzeichnen. Sie kommt zu folgenden für uns wichtigen Ergebnissen:

- Unser politisches soziales System wird als dekadent, unfähig und korrupt erfahren und abgelehnt.

- Die Wertmuster sind sozial-darwinistisch geprägt.

- Diskrepanzen zwischen dem von der Schule geschilderten Bild der NS-Zeit und dem von den Großeltern oder Altnazis übermittelten Alltagsbild der NS-Zeit sind vielfach auslösende Schlüsselerlebnisse.

- Werte wie Vaterland, Ehre, Treue und Kameradschaft werden besonders hoch geschätzt und Geborgenheit in den Gruppen gesucht.

Damit haben wir mehrere Ansatzpunkte, die uns helfen können, rechtsextreme Einstellungen zu überwinden.

Erstens: Wir müssen die Erinnerung an die dunkelste Zeit der deutschen Geschichte ständig als mahnende Verpflichtung wach halten und uns immer wieder mit dem Unrechtsgeschehen der NS-Zeit auseinandersetzen. Natürlich ist dies nur ein Teil der deutschen Geschichte. Es gibt viele andere Perioden, die uns Mut machen können. Es ist aber der dunkelste Abschnitt deutscher Geschichte. Ihn zu verleugnen und zu verdrängen, hieße eben auch, „unfähig sein, zu trauern“. Darum ging es Mitscherlich.

Ohne diese Trauer auch der Generationen nach 1945 kann deutsche Identität nicht gewahrt und gelebt werden. Es geht nicht um Kollektivschuld. Es geht um die Überwindung der Unmenschlichkeit dieses schrecklichen Kapitels, aber auch der Inhumanität überall, heute und morgen durch die wirklich vorbehaltlose Verarbeitung dieses Geschehens. Um das Lernen, dass Menschlichkeit, Frieden und Freiheit immer und zu allen Zeiten das volle Engagement fordern.

Dies wird einem deutlich, wenn man, wie ich in diesem Frühjahr, Weimar besucht hat. Unten das kultivierte Haus des Weltbürgers Goethe, der für viele in der Welt die deutsche Kultur schlechthin verkörpert. Oben über der Stadt die düsteren Reste des ehemaligen KZ Buchenwald.

Diese persönliche Betroffenheit, die die unmittelbare Konfrontation mit diesen Zeugnissen der NS-Zeit auslösen kann, kann mehr erreichen als die Übermittlung schulischen Faktenwissens. Dies hat vor allem auch die amerikanische Fernsehserie Holocaust gezeigt, die wie kein anderes Aufklärungsmaterial Diskussionen in unseren Wohnstuben ausgelöst hat. Ich begrüße es daher, dass diese Serie im November nochmals gesendet wird.

Zweitens: Die emotionalen Bedürfnisse, die dem Wunsch nach Treue und Kameradschaft und der Sehnsucht nach Gruppengeborgenheit zugrunde liegen, müssen eine Befriedigung außerhalb von rechtsextremen Männerbündnissen und Wehrsportgruppen finden können.

Auch wenn wir heute noch nach den richtigen Antworten suchen und tasten, müssen wir begreifen, dass der Kommunikationsabbruch zu den sich aus dieser Gesellschaft zurückziehenden Teilen der Jugend Teil der Störung unserer Gesellschaft im Ganzen ist; um diese Störung zu überwinden und die „Ausgestiegenen“ zurückzugewinnen, müssen wir ihnen das bieten, was sie außerhalb der Gesellschaft suchen: Sensibilität, Kommunikation und Konzentration auf menschliche Fragen.

Dass dieser Staat die Kraft hierzu hat, ist meine Überzeugung. Es sind seine Liberalität, seine Toleranz und seine Humanität, die ihm die notwendige moralische Kraft geben. Seine liberale Verfassung ist immer noch das stärkste Angebot zum Engagement, zum Mitmachen.

Für die Praxis bedeutet dies, dass wir der Jugend Freiräume geben müssen, unbürokratischer und anpassungsbereiter, als es bisher geschehen ist. Die positiven Anreize von Selbsthilfegruppen, die sich im sozialen Bereich und vor allem auch bei der Ausländerintegration engagieren, gilt es zu unterstützen und zu fördern. Der Zwischenbericht der Enquetekommission „Jugendprotest“ des Deutschen Bundestages weist hier die Richtung. Er hat eine erfreuliche Resonanz gefunden und berechtigt zu der Hoffnung, dass in der Jugendarbeit praktische Konsequenzen gezogen werden.

Drittens: Dem mangelnden Vertrauen in unser politisch-soziales System können wir nur begegnen, wenn wir uns berechtigter Kritik öffnen und auch offen Fehler eingestehen.

Dies gilt für die Fehler in der Wohnungsbaupolitik, wo erst gewaltsame Hausbesetzer die breite Öffentlichkeit auf soziale Ungerechtigkeiten bei der Altbausanierung hingewiesen haben.

Dies gilt für die Umweltpolitik, wo es unendlich mühsam ist, vom Reparaturbetrieb für eingetretene Schäden weg zu einer vorausschauenden Umweltplanung zu gelangen.

Dies gilt auch für Versäumnisse in der Ausländerpolitik, wo wir in den Jahren des Arbeitskräftemangels Gastarbeiter in unser Land geholt und nicht bedacht haben, dass Menschen gekommen sind, die hier auch mit ihren Familien zusammenleben wollen.

Auf der anderen Seite geht es nicht nur darum, dass wir, das heißt Staat und Gesellschaft, fragen, welche Verantwortung wir für die junge Generation zu übernehmen haben. Vielmehr müssen wir auch der jüngeren Generation deutlich machen, dass sie Verantwortung übernehmen muss.

Ich habe den Eindruck, dass wir die jungen Menschen auf diesem Felde in den letzten Jahren viel zu wenig gefordert haben, allerdings ihnen oft auch kein Beispiel waren. Wir müssen die tatsächlich bestehenden persönlichen sozialen und politischen Spielräume unseres politischen und wirtschaftlichen Systems der jungen Generation verdeutlichen und uns ernsthaft mit den Anlässen und Gründen auseinandersetzen, die diese als beängstigend, bedrohend und einschnürend empfindet.

Entscheidend sind hierbei nicht allein die Inhalte, sondern auch die Art und Weise des Umgangs miteinander, das „Vorleben“ im Sinne eines glaubwürdigen Einbringens der „Person“ in politisches Handeln. Es geht um die „Wiederbelebung verschütteter Ausdrucks- und Kommunikationsmöglichkeiten“ wie es Habermas genannt hat.

Die Wurzeln des Terrors von rechts liegen tief in unserem Land. Wir dürfen nicht zulassen, dass junge Menschen wieder politisch verführt werden können. Der Glaube an natürliche Ordnungen, an einfache Lösungen, die Neigung, dem anderen die Schuld für die eigenen Probleme zu geben, die bornierte Intoleranz, die Unfähigkeit zum Interessenausgleich – alles dies war eine Ursache für die größte Katastrophe der deutschen Geschichte.

Die deutschen Widerstandskämpfer und die Verfolgten des Naziregimes haben uns ein Beispiel gegeben für das andere Deutschland, dessen Kraft die Nazis nicht verschütten oder ausrotten konnten. Die Männer und Frauen des deutschen Widerstandes haben uns Mut gemacht. Wir erinnern uns ihrer mit tiefem Respekt und Dankbarkeit.







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