Verständigung und Frieden

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Gerhard Jahn

Verständigung und Frieden

Ansprache des Bundesministers der Justiz Gerhard Jahn am 20. Juli 1970 in der Bonner Beethovenhalle

Zur Wiederkehr dieses in unserer Geschichte leuchtenden Tages vor 26 Jahren überbringe ich Ihnen die Grüße der Bundesregierung. Sie weiß sich dem Vermächtnis des deutschen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus verbunden. Bezüge, die zu geschichtlichen Ereignissen hergestellt werden, entgehen nicht immer der Gefahr, opportunistisch eingefärbt zu werden. Der 20. Juli 1944 ist einer jener geschichtlichen Tage, die das nicht erlauben. Er ist voll einbezogen in das Wort, dass niemand aus der Geschichte seines Landes aussteigen kann. Doch das ist nicht genug. Der Wille zur Erneuerung Deutschlands nach innen und das Streben nach einem ehrenhaften Platz in der Gemeinschaft der Völker, die die vielfältigen Kräfte unseres Volkes im Widerstand gegen den Nationalsozialismus zusammengeführt haben, sind auch heute noch bestimmende Grundlagen unserer Arbeit. Manches müssen wir von der Geschichte Deutschlands hinnehmen. Die Erinnerung an den Widerstand gegen Unrecht brauchen wir.

Heute, 26 Jahre später, im Jahre 1970, mögen zwei weitere Daten einbezogen werden in die Prüfung der Frage, was uns an Einsichten gegeben bleibt. Am 8. Mai 1970 lag das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa ein Vierteljahrhundert zurück, war es mit den Verbrechen an den Völkern Europas vorbei und das Ziel erreicht, das die Männer und Frauen des deutschen Widerstandes im Namen der Menschlichkeit vergeblich erstrebt hatten. Der bittere Kelch musste bis zur Neige getrunken werden. Es ist wohl, wie es Bundespräsident Heinemann vor einem Jahr formulierte, für den Sinneswandel der deutschen Nation vor der Geschichte notwendig gewesen, dass Hitler sein Werk bis in die bedingungslose Kapitulation des Zweiten Weltkrieges und bis zu seinem Selbstmord zu Ende führte, damit den unverbesserlichen Nationalisten eine neue Dolchstoßlegende verwehrt war. 25 Jahre sind eine lange Zeit – eine kurze Zeit. Das Bild des Grauens verwüsteter Landschaften, zerstörter Städte verblasst, die Konturen des Leidens der Männer und Frauen des 20. Juli verschwimmen. Um so notwendiger ist es, für die Nachgeborenen das Allgemeingültige im Vermächtnis der Opfer wach zu halten.

Dies geschah in diesem Jahr am 19. März, dem zweiten Datum, das ich einbeziehen will und von dem wir noch nicht wissen, ob es ein neuer Einschnitt im Leben der Nation sein wird. In Erfurt saßen sich der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland und der Vorsitzende des Ministerrats der DDR zum erstenmal seit Bestehen der beiden deutschen Staaten gegenüber, sprachen miteinander, wenn auch mühselig, aber doch nach 20 Jahren erstmals nicht nur aneinander vorbei. Am 19. März legte Willy Brandt im ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald zur Ehrung der Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft den ersten Kranz der Bundesrepublik Deutschland nach dem Kriege nieder. Buchenwald, das heißt Auschwitz ebenso wie Plötzensee, Theresienstadt ebenso wie Dachau und Bergen-Belsen. Auch dort starben Männer und Frauen, deren wir heute gedenken.

Der 20. Juli 1944, der 8. Mai 1945, der 19. März 1970: Diese Daten stehen nicht ohne Beziehung in der deutschen Geschichte. Der stolze Tag des anderen Deutschland, der Tag tiefster Erniedrigung des deutschen Reiches, der Tag einer zaghaften Hoffnung der beiden deutschen Staaten – sie alle umschließt als Klammer die Chance des Neubeginns, mit Frieden und Verständigung in Europa ernst zu machen. Dieses Verständnis in einer auf Konfrontation und Polarisierung eingerichteten Welt zu wecken, ist nicht leicht. Da gibt es zunächst Schwierigkeiten bei uns selbst.

Wir, die Generation der heute Vierzigjährigen, haben noch mit eigenen Augen gesehen, mit eigenen Sinnen spüren können, was die Auflehnung gegen die Hitler-Diktatur bedeutete, in welcher Ausnahmesituation die Gegner des Nationalsozialismus handeln und die Gefahr auf sich nehmen mussten, nicht nur physisch liquidiert, sondern auch als „Verräter“ mitsamt ihren Familien aus allen menschlichen Bedingungen ausgestoßen zu werden. Mich hat besonders jenes beschämende Dokument der Rede Himmlers vor Gauleitern am 3. August 1944 in Posen angerührt, in dem es heißt: „Wir wollen von diesen Leuten, auch von denen, die jetzt hingerichtet werden, nicht die geringste Erinnerung in irgendeinem Grabe oder an einer sonstigen Stätte haben. Der Reichsmarschall meinte sehr richtig: die Asche über den Acker zu streuen ist zu anständig, streuen Sie sie über die Rieselfelder.“ Dies ist noch eine lebendige Erinnerung meiner Generation, erst recht derjenigen, die das Dritte Reich und den Widerstand als Erwachsene bewusst miterlebten.

Wer am 20. Juli 1944 geboren wurde, ist heute ein Sechsundzwanzigjähriger. Er ist Arzt, Lehrerin, Kraftfahrzeugmechaniker, medizinisch-technische Assistentin, Bauarbeiter. Für diese Generation, eingespannt bereits in Beruf und eingebunden in junge Familien, erst recht aber für die nachwachsende junge Generation auf den Schulen und Hochschulen ist das Datum des 20. Juli 1944 und mit ihm die bittere und schreckliche Realität des Dritten Reiches hinter dem Horizont erlebter Geschichte versunken.

Wer die Spannweite des Vermächtnisses des 20. Juli in der heutigen deutschen Wirklichkeit und die Verständigungsschwierigkeiten unter uns ermessen will, der muss sich klarmachen, welche Erlebniswelten unvermittelt nebeneinander stehen, wenn er die Zeitgenossen im Einkaufszentrum, in der Straßenbahn, auf dem Campingplatz beobachtet. Niemals, in keiner Zeitspanne der deutschen Geschichte, hat es eine solche Inkongruenz der Generationen gegeben wie in diesem Jahrhundert, ja seit dem zweiten Drittel dieses Jahrhunderts. Niemals war es so schwierig, die Kontinuität menschlicher Erfahrungen in geschichtsbewusstes, politisches Handeln umzusetzen. Der Großvater: in Weimar arbeitslos, Mitläufer in der braunen Uniform, die besten Mannesjahre im Krieg geopfert, - der Vater: Hitlerjunge, Flakhelfer, Schwarzhändler, dann hineingewachsen in Wiederaufbau und neue Konsumgesellschaft, - der Sohn: Blumenkind, Bundeswehrleutnant, Fußballfan, kritisch und rebellisch – sie alle sehen dies anders, durch andere Brillen: Drittes Reich und Widerstand, Diktatur und Demokratie, Faschismus und Humanität.

Der eine diskutiert noch die Ethik des Tyrannenmordes, die Problematik des Soldateneides. Der andere sucht späte Rechtfertigung. Dieser sieht das Vorbild, für Freiheit und Recht zu jeder Zeit einzustehen. Jener aktualisiert die stete Gefahr autoritärer Gesinnung bis hin zum Rechtsradikalismus.

Doch so unterschiedlich die Erfahrungen sind, so verschieden die Fragestellungen und Interpretationen des Widerstandes sein mögen, das Wort Willy Brandts in seiner Rede zum 8. Mai dieses Jahres gilt: Niemand ist frei von der Geschichte, die er ererbt hat.

Bundespräsident Gustav Heinemann hat in seiner Rede zum 20. Juli im vergangenen Jahr den bedeutsamen, unsere weltpolitische Situation genau kennzeichnenden, weithin noch zu wenig bedachten Satz gesagt, dass Krieg keine Möglichkeit mehr sei, weil es hinter dem Frieden keine Existenz mehr gibt. Und er hat dies in seiner Erklärung zum 25. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges in Europa vor aller Welt für uns hier so präzisiert, dass zu den fortbestehenden Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen in ganz Deutschland die Überzeugung und Entschlossenheit zähle, dass nie wieder Krieg von deutschem Boden ausgehen dürfe.

Den Frieden zu gewinnen ist ein Vermächtnis des deutschen Widerstandes. Das vornehmste Ziel der Männer und Frauen des 20. Juli war es, durch ihre Tat zu einem raschen Ende des mörderischen Kampfes zu kommen und das sinnlose weitere Blutvergießen zu stoppen. Es wird heute in der Rückschau vielfach nicht mehr bedacht, dass in den Monaten nach der Invasion und nach dem Attentat von der Mitte des Jahres 1944 bis zum Kriegsende mehr Menschen, Soldaten und Zivilisten umgekommen sind und Sachwerte zerstört wurden als in Jahren zuvor. Frieden – das war damals eine Forderung von stärkerer Unmittelbarkeit, einfacher zu verstehen als heute.

Seit 1945 sind wir vom Elend eines neuen Krieges verschont geblieben, andere Völker dieser Erde nicht. In Europa blieb der heiße Krieg aus. Aber es gab den kalten Krieg, es gab Hass und Hetze, Blockade und Krisen. Die Spannung in Europa, unter der die Menschen als einer Folge des Zweiten Weltkrieges leiden, bietet noch nicht den Frieden, den wir für die menschliche Existenz brauchen. Uns ist heute in der Mitte Europas noch immer die bisher unerfüllte Aufgabe gestellt, Spannungen abzubauen, Misstrauen abzutragen, den Frieden sicherer zu machen durch eine Politik des Gewaltverzichts, des Ausgleichs und der Verständigung mit unseren Nachbarn in West und Ost.

Das Wort Carl Goerdelers, die einzige Spaltung, die es in Deutschland geben dürfe, sei die zwischen „anständig“ und „unanständig“, erfährt heute eine zuweilen bedrückende Aktualität. Goerdeler interpretierte in seiner Denkschrift für die Generalität im März 1943 dabei als „anständig“ die Kräfte, die weder reaktionär, noch radikal oder illusionistisch sind. Einer Politik der Verständigung stehen in unserem Volk auch heute noch Kräfte entgegen, die, offen oder versteckt, die Melodie des Nationalismus spielen. Retter des Vaterlandes hat es schon viele gegeben, nur haben sie das deutsche Volk bislang immer in Blut und Tränen geführt. Die gefährlichste Spielart dessen, was Goerdeler als reaktionär und damit „unanständig“ bezeichnete, ist aber der irrationale Nationalismus, vor dem der Bundespräsident letztes Jahr in Plötzensee so eindringlich warnte. Der Nationalismus ist weder von Hitler erfunden worden, noch mit ihm untergegangen. Die demokratischen Parteien in diesem Land waren sich darin einig, dass für einen unheilvollen neuen Nationalismus in ihren Reihen kein Platz sein dürfe. Ein guter Deutscher kann – wie es Heinemann ausdrückte – kein Nationalist sein, ein nationalbewusster Deutscher kann heute nur Europäer sein. Es würde dem Vermächtnis derer, an die wir heute erinnern, zuwiderlaufen, wenn Demokraten in Deutschland der Versuchung erlägen, aus kurzsichtigen vorgeblichen Interessen heraus sich mit den nationalistischen Feinden der Demokratie zu verbünden und antidemokratisches Potential auf der Rechten zu sammeln. Es muss in aller Deutlichkeit gesagt werden: Dass die NPD bei den letzten Bundestagswahlen und Landtagswahlen so eindeutig unter der 5-Prozent-Grenze blieb, bedeutet zwar einen großen Sieg der demokratischen Kräfte in unserem Land, es darf uns aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die früheren Wähler dieser Partei ja nicht ausgestorben sind. Wer ihnen auch nur mittelbar politischen Einfluss einräumt, muss wissen, dass er nicht nur auf den entschiedenen Widerstand aller demokratisch Gesonnenen in der Bundesrepublik stößt, er muss auch wissen, dass er in einem Auto ohne Bremse sitzt, dessen Fahrt nur ins Unheil führen kann.

Einer Politik der Verständigung stehen aber auch die Kräfte entgegen, die Goerdeler als radikal zu den „unanständigen“ rechnete. Das Kennzeichen des Radikalismus, unter welchem Zeichen er immer auftreten mag, ist die Unduldsamkeit. Er hat nichts gemein mit dem Vermächtnis des deutschen Widerstandes, so sehr manche Radikale auch darauf pochen. Fritz Erler hat seine Rede zum 20. Juli 1966, mit der er kurz vor seinem Tod selbst ein Vermächtnis hinterließ, mit dem großartigen Satz der Rosa Luxemburg überschrieben: „Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden.“ Dies ist die Haltung der Demokraten – dies war die Haltung der Gegner des nationalsozialistischen Regimes. Der Radikalismus in Deutschland, der diesen Satz nicht unterschreiben will, muss sich darüber klar sein, dass er in einer Demokratie keinen Platz hat, die auf gegenseitiger Toleranz und Verständigung gründet.

Goerdeler warnte auch vor den Illusionen. Sie gab und gibt es zu allen Zeiten und überall. Auch in unserem Lande sind sie zu finden. Aber auch denjenigen, die im Jahre 1970 nicht von den Realitäten ausgehen wollen, mit denen die deutsche Politik fertig werden muss, ist es nicht erlaubt, in Illusionen auszuweichen. Es ist eine solche Illusion, zu glauben, wir könnten den Zweiten Weltkrieg nach 25 Jahren doch noch gewinnen. Illusionisten sind auch die, welche sich unfähig zeigen, die Stellung Deutschlands in Europa und der Welt kritisch, das heißt nicht nur mit den eigenen, sondern auch mit den Augen der anderen zu sehen, unserer Verbündeten und Freunde. Illusionen können wir heute so wenig gebrauchen wir vor 26 Jahren. Das war das Überzeugende am Handeln des deutschen Widerstandes, dass nicht Illusionen die Entscheidungen bestimmten, sondern die Einsicht in das geschichtlich Notwendige. Auch wir können uns heute keine Illusionen leisten. Auch wir haben heute das Notwendige zu tun. Das beharrliche Suchen nach mehr Sicherheit für unser ganzes Volk durch ein Mehr an Frieden ist heute allein der Weg, auf dem wir den geschichtlichen Ort für unsere Zukunft finden können.

Morgen jährt sich der Tag, an dem der erste Mensch den Mond betrat und Neil Armstrong die historischen Worte sprach: „Ein kleiner Schritt für den Menschen, aber ein großer Sprung für die Menschheit.“ Wie der Flug von Apollo 11 die Dimensionen aufzeigte, zu denen der Mensch im Guten fähig ist, so erinnert uns der 20. Juli 1944 immer wieder auch an die menschliche Dimension der Unmenschlichkeit Es wäre gut, könnten wir im Gedenken an die Opfer der Gewaltherrschaft die Gewissheit haben, dass alle Menschen in Deutschland die schweren Schritte dieser tapferen Männer und Frauen zum Galgen, an die Mauer und zum Schafott als den großen Sprung für unser Volk zu Freiheit und Menschlichkeit, zu Frieden und Verständigung verstünden.







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