Widerstand als Maßstab und Verpflichtung

Walter Momper

Widerstand als Maßstab und Verpflichtung

Ansprache des Regierenden Bürgermeisters von Berlin Walter Momper am 20. Juli 1989 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Das Ereignis, zu dessen Jahrestag wir uns heute versammeln, liegt 45 Jahre zurück. Aber der historische Vorgang, die politische Untergrundbewegung, derer wir heute gedenken und vor der wir uns heute an einer ihrer Hinrichtungsstätten verneigen, begann schon vor 56 Jahren: Der deutsche Widerstand gegen die Gewaltherrschaft.

Schon damals, 1933, wurden die ersten Streiter gegen die Unmenschlichkeit hier in Plötzensee und an ungezählten anderen Hinrichtungsstätten im ganzen Reichsgebiet ermordet.

Der „Doppelstaat“ der Nazis, wie Ernst Fraenkel ihn damals im Exil analysierte, mordete in beiden Gestalten: Zum einen als „Gesetzesstaat“, der seine Gesetze immer mehr zu einem Hohn der Rechtsidee pervertierte – als solcher mordete er in Justizvollzugsanstalten wie Plötzensee, Stadelheim, Brandenburg und vielen anderen; zum anderen mordete er als „Maßnahmestaat“, ohne auch nur den Anschein eines Gerichtsurteils in Konzentrations- und Vernichtungslagern, die sich mit ihren Außenstellen gegen Kriegsende wie Pusteln immer dichter über den ganzen Körper des deutschen Reiches verteilten.

Hier in Plötzensee starben in drei Nächten des Jahres 1943 dreihundert Menschen, die von der Blutjustiz zum Tode verurteilt waren. Es starb sogar einer, der überhaupt nicht verurteilt war, sondern in der Eile Opfer einer Namensverwechslung geworden war.

Die Männer und Frauen des 20. Juli ebenso wie viele andere Widerstandsgruppen, die ihnen vorangingen, etwa die Weiße Rose und der Kreis um Harnack und Schulze-Boysen, setzten durch ihren todesmutigen Kampf und ihre Opfer ein Zeichen, das uns mit Recht jedes Jahr erneut zum Erinnern und zum Lernen zusammenführt.

Wir sind uns alle einig, dass dieser Widerstand für uns Maßstab und Verpflichtung bleibt. Wir müssen immer wieder neu untereinander und mit jeder nachwachsenden Generation darüber diskutieren, was genau diese Ethik des Widerstehens gegenüber der Unmenschlichkeit uns heute und morgen an Verpflichtungen auferlegt. Wenn wir heute gemeinsam das Andenken der im Widerstand gefallenen Frauen und Männer ehren, so bekennen wir uns bei allen Meinungsverschiedenheiten gemeinsam zu dem Grundwert der Menschenwürde, deren Vorkämpfer hier in Plötzensee ihr Leben verloren, und zu dem Recht auf Widerstand gegen Diktatur und Terror. Deshalb haben die Bundesregierung und der Senat von Berlin, gemeinsam mit der Stiftung „Hilfswerk 20. Juli 1944“, dem Zentralverband Demokratischer Widerstandskämpfer- und Verfolgtenorganisationen sowie der Union deutscher Widerstandskämpfer- und Verfolgtenverbände, Sie alle heute an diesen Ort gebeten. Ich begrüße herzlich die Überlebenden des Widerstandes und der Verfolgung sowie die Angehörigen der Opfer. Ich begrüße Herrn Staatssekretär Hennig als Vertreter der Bundesregierung, und ich danke Hans Koschnick dafür, dass er zu uns sprechen wird.

Am 20. Juli vor zwanzig Jahren sagte an dieser Stelle Gustav Heinemann:

„Die Widerstandskämpfer, die nur mit einem Anschein von Justiz einfach niedergemacht wurden, fragen uns, ob wir gegen antidemokratische Geistesrichtungen immun bleiben, ob wir den Geist der ruhigen Vernunft in der Politik bewahren, ob wir Recht und Gerechtigkeit gegen jedermann obwalten lassen.“ Diese Frage stellte der neu gewählte Bundespräsident damals nach ersten Wahlerfolgen der Rechtsextremisten, die aus der Vergangenheit zu wenig gelernt hatten. Heute ist Heinemanns Frage wieder aktuell geworden.

Die Vernunft hat damals gegen antidemokratische Geistesrichtungen gesiegt. An diesem Ort lassen wir uns in die Pflicht nehmen, antidemokratischen Geistesrichtungen in unserem Lande nie wieder eine Chance zu geben.







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