Arbeiterbewegung als Feind des Nationalsozialismus

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Heinz Oskar Vetter

Arbeiterbewegung als Feind des Nationalsozialismus

Ansprache des Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes Heinz Oskar Vetter am 20. Juli 1971 in der Bonner Beethovenhalle

Wenn wir heute der Frauen und Männer gedenken, die am 20. Juli 1944 in letzter Stunde die nationalsozialistische Gewaltherrschaft zu beseitigen versuchten, so ist es zugleich ein Gedenken für alle, die sich, bereits von Beginn der zwölfjährigen Hitlerdiktatur an, gegen das Unrecht und gegen die Verbrechen dieses Regimes gewehrt haben.

Wie die Spitze eines Eisberges ragen die uns bekannten Namen aus dem Meer der Namenlosen heraus, die in den Jahren zuvor den Widerstand gewagt hatten und sich in ihm opferten.

Zu denen, die von Anfang an und aus allen Lagern sich im Widerstand gegen die Diktatur sammelten, und die ihr zum Opfer fielen, gehören auch und vor allem die Frauen und Männer der Deutschen Arbeiterbewegung.

So ist die Zeit zwischen 1933 und 1945 zu einem historisch bedeutsamen, politisch entscheidenden und menschlich unvergesslichen Abschnitt in der Geschichte der Deutschen und Europäischen Arbeiterbewegung geworden.

Keine Schicht unseres Volkes hat im Kampf gegen Hitler so viele Opfer gebracht wie die Arbeiterschaft. Das sollte gerade an diesem Tage unauslöschlich bleiben, an dem wir der Männer des 20. Juli gedenken.

Schon die Besetzung der Gewerkschaftshäuser am 2. Mai 1933 vollzog sich trotz des massiven Terrors der SA und der SS in vielen Städten unseres Landes nur gegen den persönlichen Widerstand der Gewerkschafter. In Leipzig musste ein Regiment der Reichswehr diesen Widerstand durch Geschützfeuer brechen. Allein in Duisburg wurden bei dem Überfall auf das Gewerkschaftshaus vier Gewerkschaftssekretäre erschlagen.

Nicht der 1. Mai 1933, der Tag der Nationalen Arbeit mit seinem gleißenden, viele verblendenden Gepräge, sondern der Tag danach, mit der blutigen Zerschlagung der Deutschen Gewerkschaften, sollte symptomatisch für den Zusammenbruch im Jahre 1945 werden.

Unmittelbar nach der Vernichtung des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, nach der Auflösung und Gleichschaltung der anderen Gewerkschaften, bildeten sich spontan gewerkschaftliche Widerstandsgruppen an zahlreichen Orten Deutschlands.

Dieser erste Widerstand kostete sehr viele Opfer. Waren doch diese Gruppen weder auf die besonderen Formen illegaler Tätigkeit, noch auf das erbarmungslose Vorgehen der Nazis vorbereitet. Unzählige Gewerkschafter mussten ihr mutiges Auftreten mit langjährigen Zuchthausstrafen, mit der Gefangennahme in Konzentrationslagern, ja, mit ihrem Leben büßen.

Dieser Widerstand war aber nicht erfolglos. Die Nationalsozialisten haben es nicht geschafft, die Mehrheit der Arbeiter für sich zu gewinnen. Dies zeigen schon die Betriebsrätewahlen von 1933. Als nach den ersten Wahlergebnissen sichtbar wurde, dass es den Nationalsozialisten trotz aller Druckmittel und Propagandaaktionen nicht gelungen war, in den Betrieben mehr als 25 Prozent der Stimmen zu erhalten, wurden die Wahlen abgebrochen. Mit dem „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ vom 20. Januar 1934 wurden die Betriebsräte beseitigt und an ihre Stelle so genannte Vertrauensleute gesetzt.

Aber die Vertrauensleutewahlen in den Jahren 1934 und 1935 fielen für die Kandidaten der Nazis kaum günstiger aus. Daraufhin wurde auch der Schein einer demokratischen Interessenvertretung vernichtet, und in den Betrieben galt fortan nur noch das Prinzip „Führer und Gefolgschaft“.

Warum aber – so wird und so muss auch heute gefragt werden – erhoben sich nicht schon am ersten Tage der nationalsozialistischen Diktatur gerade die Gewerkschaften wie ein Mann. Erschütternd ist der Bericht des späteren bayerischen Ministerpräsidenten und damaligen sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Wilhelm Hoegner über die Sitzung des Deutschen Reichstages am 21. März 1933, dem Tag, an dem sich Hitler die Grundlage für seine Diktatur – das Ermächtigungsgesetz – bewilligen ließ. In seinen Erinnerungen schreibt Hoegner über Folterungen an Gleichgesinnten, von denen seine Fraktion gerade erfahren hatte. Er fährt fort:

„Unsere Antwort auf die Regierungserklärung verlas Otto Wels. Sie war nach Form und Inhalt ein Meisterstück, ein letzter Gruß an das verblichene Zeitalter der Menschenrechte und der Menschlichkeit. Zuletzt richtete Otto Wels mit halberstickter Stimme unseren Gruß an die Verfolgten und Bedrängten draußen im Land, die schuldlos, nur ihres politischen Bekenntnisses wegen, bereits die Gefängnisses und Konzentrationslager füllten.“

Nun, dieser Bericht beschreibt erst den Anfang. Welche Grausamkeiten später an Hunderttausenden, ja an Millionen, verübt wurden, übersteigt menschliches Begriffsvermögen. Für den 10. April 1939 registrierte ein Gestapo-Bericht über eine Viertelmillion politisch Verurteilter und Schutzhäftlinge in den Konzentrationslagern. Keiner hatte vorausgesehen, zu welcher Brutalität das Naziregime fähig war, welche verbrecherischen Instinkte es noch entfesseln sollte. Wenn das zu ahnen gewesen wäre, dann wäre zweifellos der Abwehrkampf vom ersten Tag an bedingungslos und mit allen Kräften geführt worden. Es erscheint mir zwar müßig, heute darüber zu diskutieren, wer in den entscheidenden Monaten der Jahre 1932 und 1933 versagt hat. Aber die politischen und persönlichen Konsequenzen aus diesem Abschnitt unserer Geschichte zu ziehen, ist unerlässlich. Hier liegt die Verpflichtung unserer Generation und unserer Jugend! Wir müssen den Anfängen jedes neonazistischen Denkens wehren, kompromisslos und unbedingt.

Diese Erkenntnis aus der Verfolgung und Unterdrückung im Dritten Reich ist zu einer der politischen Grundlagen der Deutschen Gewerkschaftsbewegung geworden. Die Gewerkschaften standen 1933 vor der Frage des Generalstreiks, des aktiven Widerstandes. In welchem Gewissenskonflikt sich damals die führenden Gewerkschafter befanden, schildert das Vorstandsmitglied des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, Franz Spliedt, mit den Worten:

„Bei 6,5 Millionen seit Jahren Arbeitslosen und Millionen Kurzarbeitern, bei schwerbewaffneten, den offenen Kampf suchenden SA-Banden war praktisch ein Generalstreik unmöglich. Wir hätten Tausende nutzlos in den Tod gejagt.“

Wie konnte Franz Spliedt ahnen, dass Hitler dann viele Millionen nutzlos in den Tod jagte. Wir heute aber wissen es. Für uns gäbe es keine Entschuldigung vor der Geschichte.

Welche Welten trennten diesen aufrechten Gewerkschafter von Hitler, der beim Zusammenbruch seines Regimes das ganze deutsche Volk in den Abgrund reißen wollte und erklärte:

„Es ist nicht notwendig, auf die Grundlagen, die das Volk zu seinem primitivsten Weiterleben braucht, Rücksicht zu nehmen. Im Gegenteil, es ist besser, selbst die Dinge zu zerstören, uns selbst zu zerstören.“

Das war 1945. 1933 versprach Hitler allerdings noch „Arbeit und Brot“, um seine Diktatur zu stabilisieren. Gerade aber der politisch bewusste Teil der Gewerkschafter ließ sich nicht täuschen und begann seinen Widerstand zu organisieren.

Die späte Erkenntnis, dass die nationalsozialistische Diktatur nicht im Alleingang zu beseitigen war, trat immer stärker in den Mittelpunkt der gewerkschaftlichen Widerstandsarbeit. Im Reich, aber auch im Ausland, sollte sichtbar werden, dass es noch ein anderes Deutschland gab, ein Deutschland, das Freiheit und Menschlichkeit nicht vergessen hatte und das nun bereit war, dafür jedes Opfer zu tragen.

Unter tödlicher Gefahr wurden antinazistische Handzettel, Broschüren und Zeitungen hergestellt und bei Nacht in die Briefkästen gesteckt, in Zügen, öffentlichen Gebäuden und Betrieben heimlich verteilt. Wichtig war dabei die Verbindung zu den ausländischen Bruderorganisationen.

Eine besondere Aktivität entwickelte die Internationale Transportarbeiterföderation, um Aufklärungsmaterial zu den in Deutschland tätigen Widerstandsgruppen zu bringen. Das geschah auf See- und Flussschiffen, mit Hilfe von Speisewagen-Kellnern und Schlafwagenschaffnern oder Lastwagenfahrern. Durch unmenschliche Folterungen von Verhafteten und durch Einschleusen von Spitzeln gelang es der Gestapo schließlich, die meisten dieser Widerstandsgruppen zu zerschlagen.

Mit Kriegsbeginn begann eine neue Phase des Widerstandes. Es war Wilhelm Leuschner, der frühere stellvertretende Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, der in aller Stille eine Organisation zur aktiven Beseitigung Hitlers aufgebaut hatte. Leuschner war im Juni 1933 nach dem Besuch der in Genf abgehaltenen Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation an der deutschen Grenze verhaftet worden, da er sich, wie auch der Vorsitzende der Christlichen Gewerkschaften, Bernhard Otte, geweigert hatte, dem Arbeitsfrontführer Robert Ley in Genf Anerkennung zu verschaffen. Leuschner musste eine schwere Zeit in Gefängnissen und Konzentrationslagern verbringen. Nach seiner Entlassung aus dem KZ gründete er eine kleine Fabrik. Seine Mitarbeiter waren ausschließlich dem Widerstand verschworene Gewerkschafter. Sie gingen als Reisende in alle deutschen Städte und suchten und fanden ihre alten zuverlässigen Gesinnungsfreunde. Sie wurden als Vertrauensmänner die Stützpunkte und Keimzellen wachsender Widerstandsgruppen. Diese Organisation der Gewerkschaften war zwar klein, aber gleichsam eine Insel, eine tatsächliche Gegenwelt innerhalb des Dritten Reiches. In dieser Organisation wurden auch die Pläne für den Wiederaufbau einer freien und demokratischen Gewerkschaftsbewegung entworfen. Schon Anfang 1933 hatte sich Leuschner mit dem christlichen Gewerkschafter Jacob Kaiser getroffen. Bereits damals hatten sich beide zur Schaffung der Einheitsgewerkschaften verpflichtet, wie sie nach 1945 dann Wirklichkeit wurden. Jacob Kaiser baute in Berlin einen eigenen gewerkschaftlichen Widerstandskreis auf. Andere Widerstandsgruppen waren entstanden. Katholische und evangelische Christen ebenso wie Offiziere und konservative Politiker sammelten sich im aktiven Widerstand gegen das mordwütige Regime. Die Notwendigkeit, diese zu Opposition und Opfer entschlossenen Kräfte in einem Widerstandslager zu sammeln, war rasch erkannt. Der 20. Juli 1944 machte dieses Bündnis sichtbar, und auch darin liegt sein unvergänglicher Sinn.

Gerade weil die Gemeinsamkeit der verschiedensten Gruppen im handelnden Widerstand gegen das Regime diesem Tag seine Bedeutung gibt, darf die politisch-weltanschauliche Widersprüchlichkeit innerhalb der Organisation nicht übersehen werden, zu unterschiedlich waren die Auffassungen über das angestrebte neue Gemeinwesen.

Es war selbstverständlich, dass zahlreiche Gewerkschafter aller weltanschaulichen Richtungen aktiv an den Vorbereitungen zum 20. Juli 1944 beteiligt waren. Einige von ihnen sollten nach der Beseitigung des Hitlerregimes wichtige Funktionen übernehmen, und zwar Wilhelm Leuschner als Vizekanzler, Josef Wirmer, von den Christlichen Gewerkschaften, als Justizminister und Bernhard Letterhaus, Vorstandsmitglied des Textilarbeiterverbandes, als Arbeitsminister. Die Gruppe um Leuschner und Kaiser hatte, anders als der konservative Goerdeler, ganz konkrete Pläne für eine entscheidende Rolle der Gewerkschaften beim gesellschaftlichen Neuaufbau Deutschlands. Vor allem Leuschner ging von einer kritischen Analyse der Vergangenheit aus, von der Tatsache, dass rivalisierende Gewerkschaften eine der Ursachen für den Zusammenbruch der Weimarer Republik waren, dass Kapitalismus und Liberalismus die gesellschaftlich-politischen Aufgaben nicht erfüllt hatten. Jetzt galt es, eine Zukunft zu bauen, in der die Arbeitnehmerschaft wirkliche gesellschaftliche Gleichberechtigung und den ihren Leistungen entsprechenden Anteil am Sozialprodukt erlangt.

Hier finden wir im Zusammenfluss von sozialistischer und christlich-sozialer Weltanschauung die Vorstellungen von Mitbestimmung und Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktionsvermögen unserer Wirtschaft. Ziele, um deren Verwirklichung wir in der Bundesrepublik heute noch ringen. Hier zeigt sich das unlösbare Band, das uns mit diesen Frauen und Männern verbindet, die in Deutschlands dunkelsten Stunden den Aufstand des Gewissens wagten. Hier liegen die Wurzeln der Ideen und Programme der neuen Deutschen Gewerkschaftsbewegung: Nur eine in allen Bereichen demokratisch verfasste Gesellschaft ist wirklich in der Lage, allen totalitären und dogmatischen Gefährdungen zu trotzen und sich an den der Humanität und Gerechtigkeit verpflichteten Zielen zu orientieren.

Wir Deutschen haben, anders als viele Völker, alle Tiefen der politisch-religiösen Intoleranz, der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Ausbeutung, des Rassismus, der Völkerhetze und der Diktatur durchlebt.

Selbst die Weltgeschichte dieses Jahrhunderts hat uns nicht zeigen können, wie eine Diktatur von innen heraus zerbrochen werden kann. Hüten wir die uns noch einmal gegebene freiheitliche Demokratie. Nützen wir die große Chance unseres Grundgesetzes, um Menschlichkeit und Gerechtigkeit zum unverrückbaren Inhalt unserer Gesellschaft zu machen.

Wenn wir die Summe der Persönlichkeiten, Ideen und Haltungen aus dem 20. Juli 1944 für uns selbst zu ziehen bereit sind, so sind diese Frauen und Männer aus allen Schichten unseres Volkes nicht gestorben, auf dass heute sektiererische Arroganz die Gewalttätigkeit an die Stelle des politischen Arguments setzen dürfte.

Sie sind aber auch nicht gestorben, auf dass gesellschaftliche Reaktion und persönliche Trägheit unsere Gesellschaft aufs Neue gefährden dürften.

Für uns gibt es kein Verstecken vor der Geschichte der deutschen Tyrannei. Aus der Stunde des Gedenkens an die Opfer erwächst uns Verpflichtung und Kraft, eine bessere Zukunft zu gestalten.







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