Der geschichtlichen Wahrheit eine Gasse

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Walther Hofer

Der geschichtlichen Wahrheit eine Gasse

Gedenkrede von Prof. Dr. Walther Hofer am 20. Juli 1971 in der Bonner Beethovenhalle

„Der große italienische Philosoph und Historiker Bernedetto Croce hat auf die Frage nach dem Sinn der Geschichte geantwortet, er liege darin, dass Geschichte Kampf um Freiheit sei. In diesem Kampf haben die Männer des 20. Juli in vorderster Front gestanden und sie haben ihren Einsatz, wie das in vorderster Front oft geschieht, mit dem Leben bezahlt. Ihr Opfer ist dann nicht umsonst, wenn diese Erkenntnis in das Geschichtsbewusstsein des deutschen Volkes eingeht.“ Mit diesen Worten habe ich meine letzte Gedenkrede zum 20. Juli hier in Deutschland geschlossen. Es war vor acht Jahren, als ich die Ehre hatte, an der offiziellen Feier der Universität Frankfurt zu sprechen. Damals sprach ich vor allem zu Studenten, also zur jungen Generation, deren Angehörige Drittes Reich und Zweiten Weltkrieg nur noch vom Hörensagen oder - wenn überhaupt - aus dem Geschichtsunterricht kennen. Heute habe ich die große Ehre, das Wort vor einer Versammlung ganz anderen Charakters zu ergreifen. Die Verfolgten und Widerstandskämpfer der Nazizeit kennen das Hitlerregime und seinen Charakter aus eigenem Erleben und Erleiden. Es kann also sicher nicht darum gehen, dass ich, der ich das Glück hatte, damals in der neutralen Schweiz zu leben, Ihnen heute darlege, wie es damals gewesen ist. Das wissen Sie selbst am besten. Ich beschäftige mich zwar als Historiker seit einem Vierteljahrhundert mit der Geschichte des Nationalsozialismus und habe, wie Sie vielleicht wissen, auch einiges darüber publiziert.

Widerstand und Verfolgung haben dabei in meinem geschichtlichen Interesse stets einen hervorragenden Platz eingenommen - neben der Erforschung der geschichtlichen Tatsachen, die zur Entfesselung des Zweiten Weltkrieges geführt haben. Leider habe ich meinen seit langem gehegten Plan nie realisieren können, nämlich eine Geschichte der deutschen Widerstandsbewegung zu schreiben. Glücklicherweise sind andere in die Lücke gesprungen. Gerade kürzlich ist die erste, auf wissenschaftlicher Grundlage beruhende umfassende Biographie über den Haupttäter des 20. Juli, den Grafen Stauffenberg, erschienen. Doch das geschichtliche Urteil über die Tat stand bei allen jenen schon lange fest, die in der Verwirklichung von Recht und Freiheit das oberste Ziel aller Politik sehen: die Erhebung stellt einen Markstein dar in der Geschichte des vielhundertjährigen Ringens um Freiheit und Menschenrechte, die durch kaum ein anderes Regime derart mit Füßen getreten wurden wie durch die Nazidiktatur.

Natürlich gibt es auch andere Regimes - andere „Gesellschaftsordnungen“, wie es heute beschönigend heißt - die auch nach Hitler Freiheit und Recht, individuelle und nationale Selbstbestimmung missachten und unterdrücken. Wir erleben es täglich. Wie Karl Jaspers es mit Recht einmal formuliert hat: die Freiheit ist immer in Gefahr. Sie war es vor Hitler, sie ist es auch nach Hitler. Und wir wissen auch, dass das Hitlerregime keineswegs die einzige terroristische Diktatur der modernen Zeit ist. Aber das darf kein Grund sein, die Verbrechen dieses Regimes deshalb zu verharmlosen.

Und nun sage ich etwas, das vielleicht den einen oder anderen erstaunen mag: solche Verharmlosung geschieht nicht nur seitens der Apologeten des Faschismus, sondern auch durch gewisse lautstarke Antifaschisten. Dass Alt- und Neonazis die Taten der Hitlerdiktatur zu verharmlosen suchen, liegt nahe. Tragen aber nicht auch jene zur Verharmlosung bei, die alles und jedes als Faschismus bezeichnen, das ihnen nicht in ihre extremistische Ideologie passt? Ich jedenfalls wage zu bezweifeln, ob die Bezeichnung der Bundesrepublik oder irgendeiner andern freiheitlichen Demokratie als faschistischer Staat einen Beitrag zur Erkenntnis des wahren Gesichts des Faschismus darstellt. Niemand wird das stärker empfinden als gerade diejenigen, die unter dem Hitlerregime gelitten und unter Einsatz ihres Lebens Widerstand geleistet haben. Ich kann mir jedenfalls nicht denken, dass diejenigen, die gegen die Hitlerdiktatur Widerstand geleistet haben, jene als ihre legitimen Nachfolger anerkennen, die heute in pseudorevolutionärer Manier die Toleranz eines liberalen Staates missbrauchen, um seine freiheitlichen Grundlagen zu untergraben - und sich dafür von diesem Staat auch noch bezahlen lassen. Den - tatsächlichen oder angeblichen - Hitlergeist mit Leningeist austreiben zu wollen, könnte leicht vom Regen in die Traufe führen. Ich glaube, dass gerade Sie, die Sie im Unterschied zu den Jungen, den totalitären Staat aus eigenem Erleben kennen, hier eine große politische und pädagogische Aufgabe haben.

Als Universitätslehrer muss ich hier vor Ihnen bekennen, dass ich die Entwicklung gerade auch an den deutschen Universitäten in mancher Hinsicht für gefährlich halte. Schon gibt es Bereiche an gewissen deutschen Hochschulen, die eindeutige Tendenzen zum Totalitären hin aufweisen. Man sollte vor einer solchen Entwicklung die Augen nicht verschließen, auch wenn es sich dabei um einen Totalitarismus von links handelt - nicht zuletzt deshalb, weil eine solche Entwicklung, sozusagen als logische Reaktion, ein Wiederaufleben des Extremismus von rechts zur Folge haben könnte. Ich glaube, dass es hier vor diesem Publikum nicht nötig ist, an das Schicksal der Weimarer Republik, des ersten demokratischen Versuchs der deutschen Geschichte zu erinnern.

Ich fühle mich verpflichtet, auf diesen Aspekt der heutigen Lage hinzuweisen, damit die Ausführungen, die ich nun machen werde, in den richtigen Proportionen gesehen werden. Zum ersten Male wird in diesem Jahr auch das „Internationale Komitee zur wissenschaftlichen Erforschung der Ursachen und Folgen des II. Weltkrieges“ als eine miteinladende Organisation aufgeführt. Ich möchte Ihnen dafür, als Angehöriger dieser Organisation von Wissenschaftlern aus verschiedenen Ländern, herzlich danken, auch für die Unterstützung, die wir gerade aus Ihren Reihen für unsere Arbeit schon bisher genießen durften. Der Gründung unserer Organisation liegt die Erkenntnis zugrunde, dass manche Probleme der unheilvollen Zeit von 1933 bis 1945 nur durch Intensivierung der internationalen Zusammenarbeit überhaupt wissenschaftlich zureichend erforscht werden können. Ferner hat die Einsicht eine maßgebliche Rolle gespielt, dass gewisse Tatbestände aus der Entwicklung des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges bislang, insbesondere in Deutschland, nicht richtig dargestellt worden sind. Zu diesen Problemen gehört insbesondere der Reichstagsbrand, seine Ursachen und seine Folgen, das Thema, dem wir uns als erstem zugewandt haben.

Ich darf annehmen, dass Ihnen die Auseinandersetzung über dieses Thema, die in den letzten zwei Jahren in Gang gekommen ist, nicht ganz unbekannt sein dürfte. Der Grund für diese Polemik liegt darin, dass wir es gewagt haben, die Theorie von der Unschuld der Nazis am Reichstagsbrand in Zweifel zu ziehen und ihre Unwissenschaftlichkeit nachzuweisen. Diese Theorie, wonach der arme Holländer von der Lubbe der Alleintäter gewesen und die Täterschaft der Nazis reine Legende sei, ist erstmals vor mehr als zehn Jahren in einer Serie eines bekannten deutschen Wochenmagazins als der geschichtlichen Weisheit letzter Schluss angepriesen worden. Als das renommierte Institut für Zeitgeschichte einige Jahre später sich diese Theorie zu Eigen machte, schien ihrem Eingang in den Tempel der Wissenschaft nichts mehr im Wege zu stehen. Tatsächlich ist sie inzwischen bereits auch in zahlreiche Schulbücher übernommen worden.

Der oft gehörte Einwand, dass es doch unwichtig sei, ob den Nazis dieses Verbrechen auch noch angelastet werden könne, ihr Konto sei auch so groß genug, geht völlig am Kern der Sache vorbei. Erstens ist die geschichtliche Wahrheit ein Wert für sich, und der Forscher darf nicht ruhen, bis sie mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln eruiert ist. Zweitens ist es eine Frage von ganz erheblicher Bedeutung für die Einschätzung der Entwicklung der Nazidiktatur, ob Hitler diese eingeführt hat, weil er ehrlich von einem bevorstehenden kommunistischen Umsturz überzeugt war oder ob der Reichstagsbrand eine bewusst inszenierte Provokation gewesen ist, um die von Anfang an beabsichtigte terroristische Diktatur zu errichten. Drittens schließlich gibt eine solche Theorie apologetischen Tendenzen Auftrieb, indem von gewissen Seiten so argumentiert wird, dass die Nazis dann wohl auch für andere Verbrechen nicht verantwortlich seien wie etwa der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges oder die Judenvernichtung. An diesbezüglichen Versuchen fehlt es bekanntlich nicht. Wer die „Beweisführung“ für die Naziunschuld am Reichstagsbrand näher unter die Lupe nimmt, wird noch auf andere Probleme stoßen, die für die Beurteilung des Naziregimes und für die Methoden seiner Erforschung von grundlegender Bedeutung sind. Selbstverständlich kann ich in den 20 Minuten nicht auf alle diese Fragen eingehen. Ich darf Sie indessen auf den ausführlichen Aufsatz unseres Mitarbeiters Dr. Calic hinweisen, der in der Sondernummer der Zeitschrift „Freiheit und Recht“ zum heutigen Gedenktag erschienen ist.

Eines möchte ich immerhin andeuten, weil es gerade auch für Sie als Widerstandskämpfer und Verfolgte von einiger Bedeutung sein dürfte. Es geht z. B. um die Frage, ob den Opfern oder den Dienern, den Gepeinigten oder den Peinigern der Nazidiktatur mehr Glaubwürdigkeit zukommt, wenn sie als Zeugen der Geschichtsforschung auftreten. Tatsächlich beruht die Theorie von der Naziunschuld ganz entscheidend auf Aussagen ehemaliger Gestapobeamter und SS-Leute, die sie nach 1945 gemacht haben. Andererseits versuchen die Vertreter der Unschuldslegende unsere Zeugen, die nicht Nazis gewesen sind, unglaubwürdig zu machen oder gar einzuschüchtern. Als Präsident der mit dem Reichstagsbrand betrauten Forschungskommission sah ich mich sogar gezwungen, gegen den „Erfinder“ der Unschuldstheorie wegen Nötigung und eventuell Erpressung gerichtlich vorzugehen. Es wird also von gewissen Leuten mit allen Mitteln versucht, den Durchbruch der geschichtlichen Wahrheit zu verhindern. Aber ich darf Ihnen hier mitteilen, dass dieser Durchbruch für uns bereits geschehen ist. Gerade in diesen Tagen geht der erste Dokumentationsband in Druck, der der wissenschaftlich unhaltbaren Behauptung von der Unschuld der Nazis am Reichstagsbrand zweifellos einen tödlichen Schlag versetzen wird. Weitere solche Bände sind in Vorbereitung.

Das für die Beurteilung der Entstehung des Brandes entscheidend wichtige Gutachten des Thermodynamischen Instituts der Technischen Universität Berlin liegt z. B. schon seit zwei Jahren vor. Es ist bedauerlich, dass sich gerade in Deutschland für ein solches Forschungsvorhaben offensichtlich kein Geld finden lässt, währenddem kleinere Länder wie Luxemburg und die Schweiz zum Teil größere Beträge beigesteuert habe. So hat der Schweizerische Nationalfonds über 100.000 Franken für einen wissenschaftlichen Mitarbeiter zugesichert, während Luxemburg für die Einrichtung des geplanten wissenschaftlichen Instituts aufkommen will. Es scheint, dass die Erforschung der geschichtlichen Wahrheit im Falle Reichstagsbrand mit nichtdeutschen Geldern finanziert werden muss. Ich bedaure dies umso mehr, als ich ja selbst 10 Jahre lang an einer deutschen Universität gelehrt habe.

Ich hoffe, Ihnen wenigstens andeutungsweise dargestellt zu haben, inwiefern die Eruierung der geschichtlichen Wahrheit im Falle des Reichstagsbrandes für die Beurteilung des Naziregimes von grundlegender Bedeutung sein kann. Zu welchen Konsequenzen die Unschuldstheorie führen kann, hat ihr Erfinder selbst am krassesten gezeigt, behauptet er doch, die Notverordnung vom 28. Februar 1933, durch welche dem Terror Tür und Tor geöffnet wurde, sei also nicht bewusster Planung und Absicht, sondern Irrtum und Zufall zu verdanken. Ja er versteigt sich zu der Behauptung, in jener Brandnacht sei aus dem zivilen Kanzler Hitler ein machtbesessener Diktator geworden. Mit anderen Worten: Hätte van der Lubbe den Reichstag nicht angezündet, dann wäre die terroristische Diktatur nicht errichtet worden. Und wenn wir diesen Faden noch weiterspinnen, dann wäre der arme Holländer wohl auch noch am Zweiten Weltkrieg Schuld, denn die Diktatur war ja dessen Voraussetzung. Es bleibt mir unverständlich, wie man einen Mann jemals ernst nehmen konnte, der solche absurden Theorien verkündet. Man kann es schon verstehen, wenn der Rechtsanwalt der Familie van der Lubbe den Vertretern dieser Theorie einen Prozess angedroht hat. Er tat dies vor einigen Wochen in einem Leserbrief an die „Zeit“, die die Vertreter der Unschuldstheorie ausführlich zu Worte kommen ließ. Die renommierte Zeitung fand es, soweit ich feststellen konnte, indessen noch nicht für notwendig, diesen Brief abzudrucken. Auch ein Brief von mir, in welchem ich den Vertretern der Unschuldstheorie eine entscheidende Geschichtsfälschung nachgewiesen habe, liegt seit mehreren Wochen auf der Redaktion dieser Zeitung. Auch gewisse Herren im „Spiegel“ - wir wollen doch hier offen reden, denn dies ist das erwähnte Wochenmagazin, das die Unschuldstheorie in der ganzen Welt verbreitete - unternimmt alles in seiner Macht Liegende, und das ist, wie Sie sicher wissen, nicht wenig, um unsere Arbeit zu behindern und öffentlich herabzuwürdigen. Sie sehen, dass wir in unserer Forschung gegen mannigfache, in der Geschichtswissenschaft sonst eher unübliche Widerstände anzukämpfen haben. Aber ich kann Sie versichern, dass all dies uns nicht hindern wird, unsere Arbeit zu Ende zu führen.

Die Behauptung, die nazistische Diktatur sei einem Zufall zu verdanken, stellt nicht nur eine Vergewaltigung der geschichtlichen Wahrheit dar, sondern im Grunde auch eine Herabwürdigung des Widerstandes. Sie ist der Behauptung an die Seite zu stellen, wonach der Zweite Weltkrieg einem Zufall zu verdanken sei, wie sie z. B. der englische Historiker Taylor aufgestellt hat. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass Taylor ein eifriger Befürworter der Unschuldstheorie ist. Wenn es richtig wäre, dass Hitler sowohl bei der Errichtung der Diktatur wie bei der Vorbereitung des Krieges nur Gelegenheiten ausgenutzt hätte, die andere ihm geschaffen haben, ja wenn es richtig wäre, dass ohne diese Mithilfe der anderen weder Diktatur noch Krieg entstanden wären, dann würden die inneren und äußeren Gegner Hitlers samt und sonders zu unbeholfenen Marionetten oder gar Helfershelfern gestempelt. Aber glücklicherweise ist weder die eine noch die andere Theorie richtig. Wenn andere Hitler unbewusst in die Hände arbeiteten, dann eben gerade deswegen, weil sie nicht an sein systematisches Vorgehen glaubten. Dass Nationalsozialismus Krieg bedeuten würde, hat Hitler bekanntlich schon einige Tage nach der sogenannten Machtergreifung im kleinen Kreise gesagt und er hat es immer wieder gesagt. Wenn Mr. Taylor dies als Phantasie oder Tagtraum abtut, dann erhebt sich die Frage, ob der Zweite Weltkrieg auch nur in unserer Einbildung existiert. Die Behauptung, wie sie zur Untermauerung der Unschuldstheorie verkündet wurde, dass die Nazis keine „bewusst planenden Techniker der Macht“ sondern Condottieri gewesen seien, stellt eine totale Verkennung des Wesens der Nazidiktatur dar. Oder gibt es etwa keine Planung und keine Systematik auf dem Weg von der antisemitischen Ideologie zu den Vernichtungslagern in Auschwitz und anderswo?

Dr. Kempner hat in einem Aufsatz über die Vernichtung der Berliner Juden, den er mir gerade vor einigen Tagen zugeschickt hat, nochmals mit unwiderlegbarer Beweiskraft aufgezeigt, wie hier alles aufs Genaueste geplant, vorbereitet und durchgeführt wurde. Es ist geradezu bemühend, das hier und heute wiederholen zu müssen.

Wir werden den Nachweis erbringen, dass der Reichstagsbrand, die erste der großen Provokationen, auf die alle späteren zurückgehen, genau so kalt berechnend geplant und insbesondere ausgenutzt wurde, wie alle späteren. Wir sind keineswegs Opfer kommunistischer Falsifikationen, wie gewisse Herren behaupten, wohl aber sind diese gewissen Herren als posthume Opfer der NS-Propaganda zu bezeichnen. Genau so systematisch, und damit komme ich zum Schluss auf Ihr eigentliches Anliegen zurück, hat Hitler jegliche Opposition unterdrückt, den gesamten Staatsapparat seinem unbedingten Willen unterworfen und schließlich das ganze Volk bespitzelt. Geheimpolizei und Terrorjustiz sind keine Zufallsprodukte, sondern bewusst geschaffene Instrumente der totalitären Diktatur. Und der Krieg und die Judenverfolgung sind ebenfalls keine Zufallsprodukte oder auch nur Entartungserscheinungen eines degenerierenden Systems, sondern von Anfang an eingeplante Konsequenzen einer Naziherrschaft. Wer heute etwas anderes behauptet, hat überhaupt nichts begriffen und würde lieber die Finger von dieser Sache lassen. Denn er trägt nur zur Verfälschung der Geschichte bei. Nur wer davon ausgeht, dass die Staatspolizei im Unrechtsstaat Hitlers dazu da war, Verbrechen zu begehen und nicht Verbrechen aufzuklären, kommt zu haltbaren Resultaten. Wer erkannt hat, dass das Reichssicherheitshauptamt die größte Verbrecherorganisation aller Zeiten gewesen ist, wird seine Zeugen auch nicht unter den Leuten suchen, die ihm angehört oder die seinen Befehlen gehorcht haben. Nur wer erkannt hat, dass im Falle des Todes eines missbeliebigen Politikers der kalte Mord die nächstliegende Version ist, hat etwas vom totalitären System begriffen. Er wird dann auch nicht haltlose Selbstmordtheorien in die Welt setzen. Nur wer das Wesen des totalitären Systems in dieser Weise begriffen hat, wird schließlich auch zu einer geschichtlichen Würdigung des Widerstandes vorzudringen vermögen.

Mit Recht stellt Dr. Kempner die rhetorische Frage: „Wer glaubt Komplizen in gewöhnlichen Kriminalfällen?“ Was nicht hindert, dass das deutsche Fernsehen Herrn Speer als Ministerkandidaten der 20.-Juli-Verschwörung vorgestellt hat und Kronzeuge dafür ist Herr Kaltenbrunner. Ausgerechnet der Organisator der totalen Mobilmachung, einer der Hauptverantwortlichen für die Durchhaltepropaganda, als Mann des Widerstandes, und ausgerechnet einer der Hauptschergen der Himmlerschen Verbrecherorganisation als Kronzeuge für die geschichtliche Wahrheit. Wer die Nazidiktatur so sieht, ich wiederhole es, trägt nur zur Legendenbildung bei. Den Widerstand gegen das Naziregime wird man aus einer solchen Perspektive nie geschichtlich würdigen können.

Ich aber verneige mich vor den Männern und Frauen des deutschen Widerstandes, der am 20. Juli 1944, Deutschlands stolzestem Tag, seinen Höhepunkt gefunden hat.






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