Politik und Staat müssen dem Menschen dienen

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Egon Franke

Politik und Staat müssen dem Menschen dienen

Gedenkrede des Bundesministers für Innerdeutsche Beziehungen Egon Franke am 20. Juli 1971 in der Bonner Beethovenhalle

Am 20. Juli 1944 unternahm der deutsche Widerstand seinen letzten Versuch, Deutschland von der Tyrannei und der Menschenverachtung der braunen Diktatur zu befreien. Den Menschen, die diesen missglückten Aufstand mit ihrem Leben bezahlten, gilt heute unser Gedenken ebenso wie allen Widerstandskämpfern gegen das Nazi-Regime.

Dieses Datum des 20. Juli steht also nicht nur für die Männer, die 1944 versuchten, in letzter Stunde das Schlimmste von ihrem Land abzuwenden und die verletzte Menschenwürde wiederherzustellen. Dieser 20. Juli steht vielmehr für den gesamten deutschen Widerstand gegen Hitler.

Wir gedenken jener demokratischen Politiker, die vor 1933 versuchten, die drohende Machtergreifung zu verhindern. Wir gedenken vor allem aber jener Deutschen, die vom ersten Tage der Diktatur an Widerstand leisteten. Hunderttausende, Mitglieder aller Parteien, Arbeiter, Angestellte, Beamte, Intellektuelle ebenso wie Hausfrauen, Gewerkschafter und Kirchenleute haben in jenen 12 Jahren der Barbarei ihren aktiven, verbissenen Widerstand entgegengesetzt. Es fällt schwer, persönliches Erleben dabei zu unterdrücken. Sie alle konnten damit nicht verhindern, dass Deutschland den von Hitler vorgezeichneten Weg bis zum bitteren Ende gehen musste. Doch sie haben mit ihrem Widerstand die Ehre ihres Volkes über diese dunklen Zeiten hinweg gerettet. Diesem deutschen Widerstand verdanken wir es, dass wir uns nach dem Krieg in der Gemeinschaft demokratischer Staaten wieder sehen lassen konnten.

Das Zeugnis dieses Ringens um Menschenrecht und Menschenwürde fordert von uns deshalb nicht nur jedes Jahr eine Gedenkstunde, sondern vor allem ständiges Nachdenken über unsere Gegenwart und unsere Zukunft. Nur so können wir dem Widerstand und insbesondere diesem Tag gerecht werden.

Vor zwei Jahren sagte Bundespräsident Dr. Heinemann anlässlich des 25. Jahrestages des 20. Juli in Berlin-Plötzensee:

„Der 20. Juli 1944 war ein gesamtdeutscher Tag und muss es bleiben, wenn das Wort Nation trotz der Spaltung Deutschlands für uns einen Sinn behalten soll. In diesem Datum verzahnen sich die schlechtesten und die besten Überlieferungen unserer Geschichte in ihren vollen Gewichten miteinander. Sie rufen uns immer wieder auf, ihre dramatische Verknotung zu lösen.“

Und der Bundespräsident fragte, wie es möglich war,

„dass Menschen unseres Volkes sich im sogenannten Dritten Reich in Selbstüberhebung, in Rassenwahn und Eroberungssucht verloren. Wie war es möglich, dass bürgerliche Freiheit, Menschenwürde und Selbstbestimmung so barbarisch missachtet werden konnten?“

Dieser Frage darf sich niemand von uns entziehen, denn es genügt nicht, sich vom Nazismus zu distanzieren, man muss seine Ursachen erkennen und beseitigen. Noch sehen zu viele das Hitler-Regime als bedauerlichen Betriebsunfall, als unerklärliche oder vom Ausland verursachte Naturkatastrophe, und sie sehen daher keinen Anlass, den Dingen auf den Grund zu gehen. Traditionelle unpolitische Einstellung, Staatsvergötzung und Autoritätsverehrung sind ein ungutes Erbe unserer Geschichte, von dem wir uns freimachen müssen. Wir müssen die Einsicht in die Voraussetzungen von Demokratie und in die Notwendigkeit ihrer Verwirklichung vertiefen. Demokratie darf nicht nur als Organisationsform des Staates hingenommen, sie muss gestaltendes gesellschaftliches Prinzip werden, wenn die Menschenwürde, die Freiheit und Selbstverwirklichung der Persönlichkeit eine Zukunft haben sollen. Dies und noch eine andere Lehre will ich erwähnen, die wir aus unserem Widerstandskampf vor und nach 1933 zu ziehen haben: Nämlich wie viel besser selbst eine unvollkommene Demokratie im Vergleich zu einer vollkommenen Diktatur ist,

- dass wir mit Leidenschaft das verteidigen müssen, woran wir bauen und

- dass Toleranz gegenüber der Intoleranz der erklärten Feinde der Demokratie fahrlässig sein kann.

Wir selbst, als Person und als Verfechter spezifischer politischer Auffassungen, sollten uns niemals absolut setzen - das taten die aus sehr verschiedenen politischen Richtungen kommenden Männer des 20. Juli auch nicht -, aber wir sollten nicht zulassen, dass das Maß an Freiheit, das wir jetzt haben, gering gesetzt wird.

Die Opfer des 20. Juli, alle Widerstandskämpfer und die Millionen Opfer des Krieges verpflichten uns, nach den tieferen Ursachen des Faschismus zu suchen und sie zu beseitigen. An uns ist es, dafür zu sorgen, dass die unguten Traditionen nicht mehr fortgesetzt werden, sondern dass Menschlichkeit, Freiheit und Friede in dieser Welt, in diesem unserem Land für immer heimisch werden. Wir haben uns und der Welt Rechenschaft zu geben, wie wir mehr als ein Vierteljahrhundert der Freiheit genutzt haben.

Vieles haben wir in diesen Jahren erreicht: Die große Mehrheit unseres Volkes ist immun geworden gegenüber den Verlockungen des Totalitarismus. Ohne Zwang und ohne ideologische Verkrampfung sind die meisten Bürger der Bundesrepublik Deutschland Demokraten geworden. Das ist viel, wenn man es mit der Weimarer Republik vergleicht. Doch noch steht ein Teil der Aufgabe, deren Erfüllung wir den Opfern des Widerstandes und uns selbst schuldig sind, vor uns: Wir müssen die unbelehrbaren Rechtsradikalen, so wenige Anhänger sie mittlerweile auch haben, endgültig in die Schranken weisen. Vor allem aber müssen wir die Demokratie noch fester in unserem Volke verankern, sie alle Bereiche unserer Gesellschaft durchdringen lassen; denn demokratisches Bewusstsein kann nicht verordnet werden. Es entwickelt sich nur, wenn Demokratie überall, in allen Bereichen des täglichen Lebens, erfahren wird. Auch Wirtschaft, Schule und Familie sind hier gefordert. Vor allem aber ist es auch und gerade Pflicht der Politiker, durch ihren Stil und ihren Einsatz ein Beispiel zu geben und die Demokratie glaubwürdig zu machen.

Wir stehen in der Pflicht, Gesellschaft und Staat neu zu gestalten und dabei ohne Kleinmut mehr Demokratie zu wagen als bisher - unter dem Gesichtspunkt der Freiheit und der Gleichheit und der Solidarität. Niemandem soll es in unserer Bundesrepublik Deutschland möglich sein, den Menschen mit Gewalt auf einen totalitären Entwurf hin umzukonstruieren. Politik und Staat müssen den Menschen dienen und nicht umgekehrt. Und jedes System, jede Utopie und jede Ideologie wird sich die kritische Frage gefallen lassen müssen, ob es mehr Voraussetzungen und mehr Möglichkeiten der Selbstverantwortung und der Selbstverwirklichung für die Gesellschaft und für jeden Einzelnen schafft. Konkret und gegenwärtig bedeutet dies die Verpflichtung,

- die politische Selbsterziehung des deutschen Volkes weiter zu unterstützen,

- das Freund-Feind-Denken abzubauen,

- den pluralistischen Charakter unserer Gesellschaftsordnung zu sichern,

- autoritäre Strukturen und den Missbrauch von Macht zu beseitigen und

- den Feinden der Demokratie entschieden entgegenzutreten.

Alle Deutschen in Ost und West, die Bundesrepublik Deutschland und die DDR, haben die Verantwortung für Demokratie und Menschlichkeit in diesem Lande, für den Frieden in Deutschland und für den Frieden in der Welt. Und beide Staaten in Deutschland sind hier in der Pflicht. Für alle Ausländer sind die Deutschen zwischen Rhein und Oder gleichermaßen Deutsche - ausgezeichnet durch dieselben Vorzüge und Schwächen. Es sind nicht zuletzt unsere Fehler, die uns verbinden. Und wo noch Besorgnisse bestehen gegenüber den Deutschen, richten sie sich auf die Bundesrepublik wie auf die DDR und auf ihr Verhältnis zueinander, was auch immer die SED zu postulieren versucht.

Die Verantwortlichen in Ostberlin können sich aus der deutschen Geschichte nicht davonstehlen, sie tragen für Entspannung und Normalisierung in Europa die gleiche Verantwortung wie die Bundesrepublik. Die Bundesregierung, für die ich hier spreche, ist bereit, angesichts dieser Verantwortung im Bewusstsein der Schrecken der Vergangenheit, ohne jede Anmaßung, aber mit aller Konsequenz ihren Beitrag zur Sicherung des Friedens und zur Aussöhnung der Völker zu leisten.

Denn nur so und nicht anders können wir die Lehren aus der deutschen Geschichte ziehen. Nur so und nicht anders haben wir das Recht, der Frauen und Männer des Widerstandes zu gedenken, die ihrem Gewissen folgend das größte und höchste für die Befreiung Deutschlands einsetzten, was ein Mensch zu geben vermag: ihr Leben.






Weitere Reden