Bewunderung und Dankbarkeit

Joachim Lipschitz

Bewunderung und Dankbarkeit

Gedenkrede des Senators für Inneres Joachim Lipschitz am 19. Juli 1956 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Es wird allmählich ein immer schwierigeres Unterfangen, in einem Kreise über die Grundsätze Gleichgesinnter über den 20. Juli und über den deutschen Widerstand noch etwas zu sagen, was nicht von anderen und meistens von sehr viel Berufeneren schon vorher einmal gedacht, gesprochen oder geschrieben worden ist. Die vielfachen und sehr eingehenden Erörterungen dieser für unser Volk so wichtigen Fragen erklären sich nicht einmal nur aus dieser Wichtigkeit, sondern beinahe noch mehr aus der Vielschichtigkeit der Teilprobleme, die sich dem sie Durchdenkenden auftun.

Der Widerstand gegen einen Tyrannen aus den Reihen des eigenen Volkes, mitten in der entscheidenden Phase eines furchtbaren Krieges, unter Anwendung von Gewalt und offensichtlich unter Verletzung militärischer Disziplin und hergebrachter Rechts- und Moralbegriffe, das wirft schon eine Reihe von bitterernsten Fragen auf, zwingt zur Stellungnahme und löst sehr heftige Diskussionen aus. Viele, die sich dazu geäußert haben, taten es einfach, weil ein heroisches Schicksal sie anrührte; viele fühlen sich immer wieder angezogen durch die Inbrunst des Ringens um letzte Fragen wie Treue und Verrat, Gewalt und Gewissen, Freiheit und Vaterland; viele sind auch sogar von Amts wegen mit der Klärung der Probleme befasst worden, weil zum Beispiel der Remer-Prozess und der Huppenkothen-Prozess Rechtsanwälte, Richter, Staatsanwälte, juristische und militärische Sachverständige und vor allem auch Geistliche zur Beantwortung vieler Fragen genötigt hatten und es mit sich brachten, dass der vielleicht nicht immer geglückte Versuch unternommen werden musste, sozusagen auf dem Wege prozessualer Beweisaufnahme die letzten Dinge um den deutschen Widerstand aufzuhellen.

Die Spannweite der Urteile und der Stellungnahmen zum 20. Juli 1944 ist ungeheuer groß – von der ebenso niederträchtigen wie leichtfertigen Verleumdung als Hoch- und Landesverräter reicht sie über den Versuch einer Verteidigung gegen derartige Vorwürfe, über die nüchterne Darstellung der historischen Zusammenhänge, über manche kritischen Äußerungen bis zu Zeugnissen höchster Bewunderung und tiefster Dankbarkeit. Wir, die wir uns an dieser Stätte versammeln, bekennen uns zu Bewunderung und Dankbarkeit und lehnen es ausdrücklich ab, uns zu ihren Verteidigern zu machen, weil sie unsere Verteidigung nicht brauchen. Ich möchte meinen Auftrag, heute an dieser Stelle Worte des Gedenkens zu sprechen, dadurch zu erfüllen versuchen, dass ich einige Gedanken zu dem Vermächtnis der Toten an uns äußere und die Frage aufwerfe, ob unsere Bereitschaft zur Erfüllung dieses Vermächtnisses in den zwölf Jahren eigentlich immer dem Opfer adäquat war, das diese Frauen und Männer für die Zukunft Deutschlands gebracht haben.

Die deutsche Widerstandsbewegung in den zwölf Jahren gab anfänglich nur im Heldenhaften und im Negativen, das heißt in der Verneinung des Nationalsozialismus – ein völlig einheitliches Bild. Der Ausgangspunkt, die Motive, die Einsatzbereitschaft und die Ziele der einzelnen Gruppen waren anfänglich sehr unterschiedlich, und es ist auch nicht an allen Fronten zugleich angetreten worden. Darum wäre es falsch, mit Prioritätsprinzipien und Urheberargumenten einen Wertungsfaktor hineinzubringen, der sich angesichts der Majestät des Opfertodes von selbst verbietet. Da waren von Anfang an jene, die mit beiden Füßen fest auf dem Fundament einer unverrückbaren politischen Weltanschauung standen, die den bis 1933 gegen Hitler geführten Kampf jetzt sozusagen lediglich mit anderen Mitteln fortsetzten: Frauen und Männer aus Parteien, Gewerkschaften und sonstigen Organisationen und Gruppen; und für viele bestand der Widerstand in erster Linie darin, wenigstens den Kern der bisherigen freiheitlichen Vereinigungen zu erhalten und vor dem Zugriff, vor der Zersetzung oder vor der Zerstörung zu retten. An dieser Front wurde die erste Schlacht geschlagen. Sie endete – wie alle späteren – für die meisten auf der Richtstätte oder hinter Kerkermauern und Stacheldraht, und es konnte gar nicht ausbleiben, dass dies der erste Abschnitt der gewaltigen Auseinandersetzung zwischen Freiheit und Diktatur in Deutschland war, weil die Nationalsozialisten selbst hier ihren ersten Angriff vortrugen, in der sicheren Erkenntnis, dass ein Fortbestand freiheitlicher Organisationen auch nur konspirativer Art mit dem Totalitätsanspruch ihrer Partei nicht zu vereinbaren war und dass es hier keine Kompromisslösung geben konnte.

In der zweiten Phase war der Weg frei für den nächsten Vorstoß in diejenigen gesellschaftlichen Räume, die sich Hitlers Herrschaftsanspruch entschlossen widersetzten: Männer des Glaubens und des Geistes, kirchliche Würdenträger, Wissenschaftler, Künstler und sonstige, dem Neandertaler des 20. Jahrhunderts so verhasste Intellektuelle wurden zur Zielscheibe seiner Hasskampagne. Wieder trafen die Nationalsozialisten auf entschlossenen Widerstand, auf unbeugsame Charaktere, auf Treue, auf Gewissen, und auch hier mussten der Kerker und das Fallbeil an die Stelle der geistigen Auseinandersetzung treten.

Eine weitere, insbesondere späterhin für den 20. Juli ungeheuer wichtige Widerstandszentrale bildete sich sehr bald im Staatsapparat selbst und insbesondere in der Armee. Ganz zweifellos haben sich in den Herzen dieser Männer – maßgebliche hohe Beamte und hohe Offiziere – die schwersten Gewissenskonflikte abgespielt, ehe sie sich zu konspirativem Tun und zu intensiver Widerstandsarbeit bereit fanden. Viele von ihnen, die später zu den eindrucksvollsten Vorkämpfern gerade des 20. Juli gehörten, sind Träger ehrwürdiger Namen und Repräsentanten deutscher und insbesondere preußischer Tradition. Treue zum Vaterland und Dienst bis zum höchsten Opfer waren die Prinzipien, unter denen sie geboren wurden, in denen sie aufwuchsen, nach denen ihre Erziehung verlief und in deren Erfüllung sie in den Wehr- oder Staatsdienst eingetreten waren. Sie haben zwar niemals die Identifizierung von Vaterland und Nationalsozialismus akzeptiert, aber sie konnten sich wie so viele andere Deutsche nicht der quälenden Erkenntnis entziehen, dass insbesondere nach Ausbruch des Krieges zwischen diesen beiden an sich widerstreitenden Polen Deutschland und Nationalsozialismus doch ebensoviel Übereinstimmung bestand, dass es dem Einzelnen häufig sehr schwer fiel, sauber zu scheiden zwischen dem, was nicht nur dem Vaterland, sondern auch und vielleicht sogar in erster Linie Adolf Hitler diente und ihn stärkte. In dieser Gruppe von Frauen und Männern waren am schmerzlichsten die Probleme berührt, die uns wieder und wieder ergreifen, wenn wir die Zeugnisse ihres seelischen Ringens lesen, die uns erhalten geblieben sind.

Gleichzeitig mit diesen Entwicklungen bildete sich aber auch in Deutschland eine Widerstandssphäre, die leider nur zu häufig vergessen wird, wenn die Geschichte jener ruchlosen zwölf Jahre zur Sprache kommt. Ich meine das Aufbegehren der Einzelnen, den Notschrei des individuellen Gewissens, das Eintreten der Hilfsbereitschaft und der Nächstenliebe in Zeiten höchster Menschennot. Wir tun weder den Frauen und Männern des 20. Juli noch den übrigen Opfern aus den Reihen der Religionsgemeinschaften, der Kunst und der Wissenschaft, der demokratischen Organisationen und Parteien in ihrem Ruhm und in ihrer Ehre Abbruch, wenn wir mit Stolz auch auf jene verweisen, die als Einzelne ohne Tuchfühlung nach rechts und links und nur der Stimme des eigenen Gewissens folgend Widerstand leisteten, indem sie den Gejagten und Gehetzten Obdach gewährten, ihnen Speise und Trank reichten, ihnen zur Flucht verhalfen, sie aus Deutschland herausbrachten. Die Zahl dieser namenlosen Kämpfer ist ungeheuer groß, ihre Erinnerung vielfach deswegen ausgelöscht, weil keine Gefährten von ihnen wussten und keine Spur von ihnen blieb, wenn eines Tages in früher Morgenstunde die Faust des Gestapomannes an ihre Tür pochte und sie dorthin mitgenommen wurden, von wo es gewöhnlich kein Zurück gab.

In dem großartigen Plädoyer im Remer-Prozess im März 1952 hat Generalstaatsanwalt Bauer einmal gesagt: Das, was die Widerstandskämpfer vollbracht haben, war das größte nationale Aktivum, das wir dem Widerstand, und nur ihm, verdanken.

Wenn anfänglich die einzelnen Widerstandsgruppen in Deutschland getrennt operierten, so brachte es die verbrecherische Politik Hitlers, die mit den Annexionen von Österreich und von der Tschechoslowakei begann und schließlich mit dem Polenfeldzug den Weltbrand entfachte, zuwege, dass in diesem Fegefeuer der deutschen Katastrophe die Gegner Hitlers aus allen Lagern die Trennwände niederrissen und den Weg der gemeinsamen Rebellion beschritten. Daher ist der 20. Juli, daher ist diese Hinrichtungsstätte hier in Plötzensee nicht das Reservat einer politischen Gruppe allein – sie ist das Symbol des in Blut erstickten Aufstandes aller freiheitsliebenden Kräfte unseres Volkes: Hier ruht der Sohn aus altem deutschen Adel neben dem Mann aus dem Arbeiterstand; hier schritt der ehemalige Sozialdemokrat Seite an Seite mit seinem deutschnationalen Widersacher aus der Weimarer Republik zu der vom gemeinsamen Erzfeind errichteten Hinrichtungsstätte; hier starb der Protestant neben dem Katholiken; hier fand im Tode auch derjenige zu seinen Menschenbrüdern, der durch antisemitische Hasspropaganda und rassische Vorurteile als Jude oder sogenannter Mischling zum Paria in seinem eigenen Vaterlande geworden war. Und hier fanden auch die Generationen zueinander: Hier starb der Alte, dessen Herz jung und zu kühner Tat bereit geblieben war, neben dem Jungen, dessen Glaube und Geist über die Lüge triumphierte, mit denen und zu denen das Naziregime ihn zu erziehen getrachtet hatte.

Das, scheint mir, ist das eine große Vermächtnis dieser Toten hier, die mit sehr viel Blut und sehr viel Tränen erkaufte Erkenntnis, dass es in den großen nationalen Existenzfragen eines Volkes wenigstens zwischen denen, die guten Willens und die freien Geistes sind, keine Trennungslinie geben kann. Das bedeutet keinen Einheitspreis und keinen Verzicht auf die echte und notwendige geistig-politische Auseinandersetzung. Es erhebt sich dadurch von hier das Postulat, den Streit dort verstummen zu lassen, wo es um Werte geht, über die es keinen Streit gibt – die Feststellung, dass es wichtiger ist, das Recht zu erhalten, als Recht zu behalten – die Mahnung, in den unumstrittenen Grundfragen dem anderen nicht den guten Willen abzusprechen, den man für sich selbst in Anspruch nimmt – und den wirklichen Feinden der Freiheit keine Chance zu geben, einen Keil in die Front derer zu treiben, die guten Willens sind.

Ich stelle die Frage – ich verzichte auf ihre Beantwortung – sind wir Deutsche nach 1945 diesem Vermächtnis immer treu geblieben? Haben wir es verstanden, gleich diesen hier, die wir heute ehren, die großen Dinge, die unumstößlich gültigen Gesetze, die gewaltigen Selbstverständlichkeiten unseres nationalen Seins in gegenseitiger Achtung voreinander auszuklammern aus dem täglichen Zank und uns – gleich den Frauen und Männern vom 20. Juli – um diese unsere Schätze in einiger Verteidigungsbereitschaft zu sammeln?

Die grandiose Vereinfachung der Gegensätze zwischen Freiheit und Diktatur, Geist und Ungeist, Menschenwürde und Niedertracht, die die letzten Kriegsjahre und mit ihnen schließlich der 20. Juli brachte, trug zweifellos mit zu diesem Zusammenschmelzen der vielfältigen Fronten zu einer einzigen bei. Sie duldete auch keine Kompromisse und keine halben Lösungen. Ein Zwischen-den-Fronten-Stehen gab es nicht mehr. Wer damals noch den inneren Frieden mit Hitler suchte, war damit schon für ihn, weil man nicht mehr ohne ihn sein konnte, ohne zugleich gegen ihn zu sein. Der Wahnsinn der letzten Kriegsjahre wurde zum Katalysator der Bekenntnisse und zwang damit unausweichlich zur Radikalität. Das Großartige dieser Radikalität war aber, dass sie nicht aus dem Hass, nicht aus dem Nein, sondern aus dem Glauben und damit aus dem Ja geboren war. Vor dem schwarzen Hintergrund einer Politik der Lüge und des Schreckens, der Hinrichtungsstätten und der Gasöfen, der Menschenverachtung und der ungeheuerlichen Anmaßung hoben sich Werte wie Freiheit, Einheit, Recht, Glauben, Menschenwürde und Vaterland umso leuchtender und lichter ab, und umso eindeutiger war auch allen diesen unseren Toten die Erkenntnis, dass diese Werte keine Halbheiten dulden, keine Kompromisse zulassen, ja sie einfach schon dadurch verraten würden, wenn man sie nicht reinen Händen anvertraut.

Über die Art, wie in einem künftigen Deutschland diesen höchsten Menschengütern eine bleibende Stätte errichtet wird, haben die Widerstandskämpfer, die Soldaten und die Politiker, die Wissenschaftler und die Beamten, die Jungen und die Alten manche Nacht hindurch sehr heftig und inbrünstig diskutiert. Aber dass nur der Weg überhaupt diskutabel war, der zu einer echten Stabilisierung und nicht zu scheinheiligen Lösungen für Recht und Freiheit führte, darüber gab es keinen Streit. Und das ist das zweite Vermächtnis dieser Toten, nämlich dass es an Werten wie Freiheit, Recht, Glaube, Menschenwürde und Einheit kein Deuteln gibt, dass diese Grundtatsachen demokratischen Staat-Seins keine Halbheiten zulassen und dass derjenige sich schon anschickt, sie zu verraten, der sie nur zum Gegenstand des Feilschens, des Paktierens und des Kompromisses machen will. Man ist manchmal geneigt, den Deutschen heute zuzurufen, dass sie etwas behutsamer, etwas ehrfürchtiger mit jenen Kostbarkeiten umgehen sollten, für die die Besten unseres Volkes ihr Leben hingegeben haben.

Und ein Drittes und Letztes lassen Sie mich bitte sagen: Vor drei Jahren zitierte Friedrich Georgi, ein Offizier aus dem Arbeitskreis des 20.Juli, anlässlich einer Gedenkansprache die letzten Worte seines Schwiegervaters, die in der Nacht vom 20. zum 21. Juli kurz vor seinem Tode in der Bendlerstraße zu ihm gesprochen wurden: „Ich weiß nicht, wie eine spätere Nachwelt über unsere Tat und über mich urteilen wird, ich weiß aber mit Sicherheit, dass wir alle frei von irgendwelchen persönlichen Motiven gehandelt und nur in einer schon verzweifelten Situation das Letzte gewagt haben, um Deutschland vor dem völligen Untergang zu bewahren. Ich hoffe, dass unsere Nachwelt das einst erkennen und begreifen wird.”

Diese Worte sind gewiss nicht Ausdruck etwa der Eitelkeit oder der Versuch, ehrgeizigem Handeln einen idealen Anstrich zu geben. Wie frei von Berechnung und Selbstsucht das Handeln der Männer und Frauen des 20. Juli war, beweist nicht zuletzt die eindrucksvolle Tatsache, dass keiner von ihnen Fluchtvorbereitungen oder sonstige Maßnahmen zum eigenen Schutze für den Fall des Misslingens des Attentats getroffen hatte. Dieses Bekenntnis ist so echt, wie es Angesichts des Todes überhaupt nur sein kann. Und doch klingt durch diese letzten Worte eine leise Bitternis und so etwas wie Resignation darüber, ob das deutsche Volk imstande sein wird, die ganze Größe des Opfers zu ermessen, das von diesen Toten seiner Freiheit und seiner Zukunft gebracht wurde. Auch aus anderen Äußerungen von todgeweihten Mitstreitern klingt gelegentlich der Zweifel darüber auf, ob die Nachwelt all das Schmerzliche und Demütigende wieder gutmachen wird, das ihnen die Nazis in den letzten Wochen und Monaten ihres Lebens bereitet haben.

Gewisslich – das muss auch noch einmal gesagt werden – ist keiner von ihnen um des Ruhmes oder auch nur des Nachruhmes willen den bitteren Weg gegangen. Über die Lauterkeit ihrer Motive gibt es keinen Zweifel, und viele von ihnen haben sogar ganz ausdrücklich und von Anfang an bekundet, dass sie auch dann noch mit der gleichen Uneingeschränktheit zu der als rechtens erkannten Tat stehen würden, wenn sie die Gewissheit hätten haben müssen, dass die Nachwelt den Unrat nicht wegräumen würde, den Freisler und andere über ihre Namen, über ihren Gräbern angehäuft hatten.

Nun, der deutsche Widerstand steht selbstverständlich heute in einem anderen Licht vor uns, als die nazistische Verleumdungskampagne es ihm zugedacht hatte. Von Unverbesserlichen wie Remer und Huppenkothen abgesehen, gibt es wohl kaum jemanden mehr, der den traurigen Mut hätte, diese Männer und Frauen als Rechtsbrecher oder Vaterlandsverräter zu bezeichnen. Aber allein damit, dass sozusagen die negativen Embleme abgestreift werden, ist es kaum getan. Es muss doch sehr viel mehr in Deutschland geschehen, um dem Vermächtnis dieser Toten im Herzen unseres Volkes den Platz zu schaffen, der ihnen gebührt und den an sich jedes Volk, dem die Ehre etwas wert ist, seinen Märtyrern, seinen Edelsten einzuräumen bereit ist.

Vor einem Jahr besuchte ein Mann aus Hamburg mit zwei Jungen im Alter von 13 und 15 Jahren auf einer Fahrt nach Hannover das Heidedorf Bergenbelsen und zeigte seinen beiden Knaben eine Stätte des Grauens, an der mehr als 30.000 Ermordete begraben liegen. Von Stein zu Stein, von Gedenktafel zu Gedenktafel ging er mit seinen beiden jugendlichen Begleitern, und sie lasen voll Entsetzen: 1.500 Tote, 1.800 Tote, 2.500 Tote und so weiter bis zu mehr als 30.000 Toten. Und dann sagte der eine mit allen Anzeichen des Schreckens auf dem Gesicht: „30.000 Tote, alle umgebracht. Und das haben alles die Russen getan!” Dieser Junge war 15 Jahre alt, ging mithin bereits zehn Jahre zur Schule und hat Eltern und Lehrer, die alles von Anfang an miterlebt haben – und er wusste nichts.

Es gehört mit zu dem Vermächtnis dieser Toten, in unserem Volk auch die unbequemen Erinnerungen wach zu halten. Es gehört zum Vermächtnis dieser Toten, unserem Volk und insbesondere der Jugend, die es selbst nicht mehr miterlebt hat, das richtige Maß dafür zu geben, worauf wir stolz sein dürfen und wessen wir uns zutiefst zu schämen haben. Wir müssen Begriffen wie Ehre, Treue, Vaterlandsliebe, aber auch wie Niedertracht, Wortbruch und Verrat den sittlichen Gehalt verschaffen, der ihnen zukommt und der die Toten damals geheißen hat, sich für diese Werte, für ihre Klärung zum Sterben bereit zu machen. Mahnungen an die Schrecknisse der Vergangenheit bedeutet ja nicht ständiges Gerichthalten – aber mit aller Gewalt vergessen zu wollen ist ein Selbstbetrug, der uns teuer zu stehen kommen kann, ist ein Verrat an Opfern, die ja letzten Endes für uns, für die Überlebenden gebracht worden sind.

Es schadet uns nichts, wenn die Erinnerung an unsere dunkelste Zeit wach gehalten wird, wenn rücksichtslos aus- und angesprochen wird, was damals geschehen ist, wer die Schuld daran trägt, wie es hätte verhindert werden können. Wir können dieses Aus- und Ansprechen mit umso besseren Gewissen fordern, weil das über diese Epoche unserer Geschichte nicht gebreitet wird, was man so gern und so unberechtigt den Mantel der Nächstenliebe nennt, weil wir genug Zeugnisse dafür besitzen, dass in dieser dunklen Nacht in Deutschland sehr viele Lichter an Tapferkeit, Treue und Menschenliebe geleuchtet haben.

Die Toten des deutschen Widerstandes bilden ein Alibi dafür, dass es dem Nationalsozialismus nicht geglückt ist, das sittliche Empfinden in unserem Volk auszulöschen. Und darüber sollten wir schweigen? Warum fordern wir eigentlich so eindringlich und für manchen quälend das Nichtvergessen? Warum beschwören wir die Vergangenheit immer wieder herauf? Warum sammeln wir hier an dieser Gedenkstätte in Urnen Erde aus den Konzentrationslagern ganz Europas? Warum haben wir erst heute wieder aus dem fürchterlichen KZ Mauthausen, aus Straßburg Erde hergebracht, um den Anspruch dieser Stätte, Mahnmal des Widerstandes und des Geistes der Freiheit zu werden, womöglich noch stärker zu unterstreichen?

Sie, die nächsten Angehörigen, werden es mir nicht verübeln, wenn ich sage, dass dies nicht nur darum geschieht, um immer wieder von neuem den Toten des 20. Juli Ehre und Dank zu zollen. Das ist selbstverständliche Pflicht. Es geschieht aber auch deshalb, um aus ihrem Vermächtnis mitzubauen an der Zukunft des Vaterlandes so, wie sie als Vision sie geschaut haben, als sie ihren letzten Weg hierher antraten. Ein mit so edlem Blut geschriebenes Vermächtnis ist eine heilige Verpflichtung für ein Volk, und wir wären berechtigt der Verachtung preisgegeben, würden wir uns dieses Opfers nicht wert erweisen. Darum mischt sich in dem Dank und in der Ehrfurcht der heutigen Gedenkstunde erneut ein feierliches Gelöbnis, das Gelöbnis, durch ständige Mahnung an ihren Opfertod nicht ein zweites Mal von dem Weg abzuweichen, den sie uns vorausgeschritten sind, damit ein besseres, ein freieres Deutschland ihnen darauf folgen könne.

Sie sind allein geblieben damals, in tiefer Nacht, als die Umkehr begann. Sie dürfen nicht wieder allein gelassen werden, auch nicht in der Erinnerung. Sie dürfen nicht vergessen werden, weil sie für Deutschland starben. Sie dürfen nicht vergessen werden, damit Deutschland am Leben bleibt – ein Deutschland, in dessen Millionen von Herzen das große, stolze Wort lebendig bleibt, das auf dem Denkmal in der Bendlerstraße zu lesen ist:

„Ihr trugt die Schande nicht. Ihr wehrtet Euch. Ihr gabt das große, ewig wache Zeichen zur Umkehr, opfernd Euer heißes Leben für Freiheit, Recht und Ehre!“

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19.07.1956
Dr. Walter Bauer
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