Vorbild und Maßstab

Walter Bauer
Vorbild und Maßstab
Ansprache von Dr. Walter Bauer, Stiftung „Hilfswerk 20. Juli 1944“, am 19. Juli 1956 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin



Die Hinterbliebenen derer vom 20. Juli 1944 und ihre überlebenden Weggenossen – vereint im Hilfswerk 20. Juli – danken dem Senat von Berlin für diese würdige Gedenkfeier und danken Ihnen, Herr Senator des Inneren, für Ihre kraftvolle Rede zum Gedächtnis unserer Toten.


Indem wir uns hier an dieser Stätte grauenhaften Sterbens, alljährlich am Vorabend des 20. Juli, in Trauer, in Dankbarkeit, in Ehrfurcht versammeln, bekennen wir uns immer aufs Neue zu unseren Toten und ihrem Tun, zum Widerstand gegen totalitäre Regime und Terror, zum Widerstand gegen Unrecht und Gewissensknechtung, zur Erhaltung, Verteidigung, Vertiefung von Menschenrechten und Menschenwürde, von personaler und nationaler Freiheit wie der Freiheit aller Völker auf der Grundlage von Recht und Frieden.


Tun wir dafür aber auch das uns Mögliche, das Notwendige?


Tun wir es in unserem persönlichen und beruflichen Alltag, im Aufbau unserer gesellschaftlichen und staatlichen Existenz? Stehen wir nicht schon wieder in der Gefahr, über dem seit dem Zusammenbruch Erreichten zu vergessen, was nicht, was noch nicht, was nicht tief und stark genug geschaffen worden ist? Fangen wir nicht schon wieder an, uns letztlich wegen Differenzen, ja wegen Nuancen, wegen Partikularinteressen zu befehden und uns zu wenig nach dem Ganzen zu richten? Tun wir das uns Mögliche, das Notwendige, um eine friedliche, auf freien Wahlen beruhende, die Grundlagen unserer Verfassung und Wirtschaftsordnung in freier Selbstbestimmung regelnde Wiedervereinigung unseres getrennten Landes und Volkes zu erreichen? Dabei haben wir auf die berechtigten Sicherheitsbedürfnisse unserer Nachbarn in Ost und West jede erforderliche Rücksicht zu nehmen. Tun wir das Notwendige, das uns Mögliche in der Mitarbeit an einer neuen, soliden und solidarischen Ordnung Europas wie der Welt überhaupt? Und vor allem und bei allem: Tun wir das Notwendige und das uns Mögliche im Angesicht des Ewigen, vor Gott und Gottes Geboten?


Die Gesinnung und die Glaubenskraft, der Mut und die Opferbereitschaft, die unsere toten Freunde und Kameraden bei ihrem Widerstand bewiesen, in den Gefängnissen und an den Richtstätten bewährt haben: Sie seien uns dabei Vorbild und Maßstab. Ihr Anliegen, ihr Ethos wollen wir in unser Leben hineinnehmen, unseren Kindern verständlich machen und lebendig erhalten.


Zu Ehren unserer Toten sind an dieser Stätte Kränze niedergelegt worden vom Herrn Bundespräsidenten, vom Herrn Bundestagspräsidenten, vom Herrn Bundeskanzler, von Angehörigen, Freunden und Organisationen. Wir verneigen uns vor unseren Toten. Wir danken Gott für sie und für Ihre Tapferkeit. Er schenke ihnen die ewige Ruhe und gebe uns und unserem Tun seinen Segen.

Weitere Reden

19.07.1956
 Joachim Lipschitz
Joachim Lipschitz