Bonhoeffer und der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus
Gedenkstätte Deutscher Widerstand
Peter Steinbach
Bonhoeffer und der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus
Rede von Prof. Dr. Peter Steinbach am 19. Juli 2008 in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin aus Anlass der Eröffnung der Ausstellung "Zukunft will verantwortet werden"
"Es ist unendlich viel leichter, in Gehorsam gegen einen menschlichen Befehl zu leiden als in der Freiheit eigenster verantwortlicher Tat. Es ist unendlich viel leichter, in Gemeinschaft zu leiden als in Einsamkeit. Es ist unendlich viel leichter, öffentlich und unter Ehren zu leiden als abseits und in Schanden."
Bonhoeffer wusste: Wer über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus und überhaupt gegen diktatorische Systeme redet, muss zunächst über die Anpassung der Menschen sprechen. Widerständigkeit ohne eine Auseinandersetzung mit der Anpassung an diktatorische Systeme ist überhaupt nicht verständlich. Anpassung bleibt das eigentliche Kennzeichen einer Epoche, in der Diktaturen das Verhalten des Menschen prägen und Widerständigkeit das Besondere bleibt.
Dietrich Bonhoeffer wird heute als Märtyrer, also als Blutzeuge seines Glaubens, empfunden und seit den 1950er/60er Jahren beinahe zu einer Art von evangelischem Heiligen stilisiert. Dies hat sich durch Spielfilme jüngst noch verstärkt, die auch das Verhältnis zu Maria von Wedemeyer, seiner Verlobten, ins Bild setzten. Bonhoeffer scheint nun endgültig vereinnahmt zu werden. So war es nicht immer, denn er galt seiner Kirche lange als nur politischer Regimegegner, nicht als Glaubenszeuge.
Das persönliche Versagen Bonhoeffers, die Kapitulation vor sich selbst, vor den Zwängen und dem Zeitgeist, über den wir uns gern mokieren, von dem wir jedoch unendlich abhängig zu sein scheinen, muss betont werden. In der Tat war die Überwindung der Anpassungszwänge die Voraussetzung für eine Bonhoeffer charakterisierende demonstrative Gleichgültigkeit gegenüber Reputationszuschreibungen durch eine irrende und sich immer weiter verirrende und sich verlierende Gesellschaft. Im kritischen Entsetzen über sein Versagen findet er eine unbeirrbare Position.
Was dann sein weiteres Leben prägte, war zunächst seine Suche. Soll man ins Ausland gehen oder in Deutschland bleiben? Und wenn man bleibt: Wie hält man stand? Er ging als Auslandspfarrer nach London und griff von dort in den Bekenntniskampf ein. Er übernahm eine Kirchengemeinde und wurde als entschiedener Anhänger einer Ökumene, die politisch auf Frieden, aber nicht auf Appeasement zielte, unendlich wichtig. Die Zahl seiner Gegner wuchs, weil Bonhoeffer von außen, aus London, versuchte, den Widerstand in Deutschland im Kampf der Bekennenden Kirche zu beeinflussen. Er kehrte später nach anderen Zwischenstationen nach Deutschland zurück, angetrieben vom Gefühl, die verhassten Nationalsozialisten von innen zu bekämpfen. Und er engagierte sich entscheidend beim Aufbau des Predigerseminars der Bekennenden Kirche, einer Art untergründiger Kirche, die in der "Nachfolge" ein "gemeinsames Leben" verwirklichte. Beide Begriffe wurden in wichtigen Texten behandelt, die Bonhoeffers Gemeinde- und Kirchenvorstellung beschrieben.
Bonhoeffer wurde politischer. Niemals aber diffamierte er diejenigen, die hinausgingen, denn sein eigenes Verhalten markierte nur eine Möglichkeit neben anderen. Kein negatives Wort finden wir über diejenigen, die emigrierten. Dietrich Bonhoeffer aber entschied sich für den Kampf im Innern. Das war ein Kampf, der ihn letztlich bis ins Mark berührte und der ihn, den sich nicht auf das Regime einlassenden Theologen, als Abwehrmann nach seinem Verständnis in einer Weise schuldig werden ließ. Diese Mitschuld hatte der Kreisauer Moltke, wahrhaftig ein Unschuldiger, einmal als "Schuld an der Schuld der Verbrecher" beschrieben.
Zunächst konzentrierte sich Bonhoeffer auf die innerkirchlichen Konflikte und auf seine seelsorgerliche Arbeit. Mit seinen Schülern bildete er eine Art Untergrundgemeinde. Nach seinem Beamtenverhältnis und seiner Versorgungssicherheit fragte er nicht. Er lebte nach 1933 nicht in den gesicherten Verhältnissen seiner Wohnung, praktisch hatte er gar keine. Er lebte da, wo er mit seinen Vikaren seine Seminararbeit und Kirchenarbeit machen konnte: "Nachfolge", "Gemeinsames Leben", das blieben die Richtpunkte seines Verhaltens.
Er lebte schreibend, lesend, diskutierend, singend und vor allem predigend. Dann schlug die Gestapo zu, zerstörte seine Predigerseminare. Bonhoeffer musste 1938/39 befürchten, zum Wehrdienst eingezogen zu werden. Hier half ihm sein Schwager Hans von Dohnanyi, indem er Bonhoeffer in das Amt Ausland/Abwehr beim Oberkommando der Wehrmacht verpflichtete, in den engsten Kreis der Verschwörer um Hans Oster. Damit war zugleich die Zeit der Unschuld vorbei, denn Bonhoeffer gehörte nun einem staatlichen Apparat an. Er war gefährdet durch die stets drohende Einberufungsgefahr. Das war ein zweiter Punkt seiner Schwäche. Wir haben andere wie Hermann Stöhr, im Grunde genommen der erste richtig konsequente Kriegsdienstverweigerer in der Evangelischen Kirche, der sich den Nationalsozialisten konsequent bis in seinen eigenen Tod hinein verweigerte, der nicht zur Wehrmacht ging und lieber den Tod erlitt als zu kapitulieren.
Drei Daten markierten das menschenverachtende Potenzial des NS-Staates: Bereits 1933 hatten die Nationalsozialisten das Gesetz zur Verhütung des erbkranken Nachwuchses verkündigt und damit den Grund für eine rassenideologisch begründete Ausmerzung angeblicher lebensunwerter Ballastexistenzen gelegt. Im Jahr 1935 waren in Nürnberg ausgrenzende Gesetze verabschiedet worden. Im November 1938 war es zu einem als Ausdruck des Volkszorns verbrämten Parteipogrom gekommen, das den Ausschluss der deutschen Juden aus dem Wirtschaftsleben abschloss und die Ausgrenzung der deutschen Juden aus dem Rechtsleben einleitete. Keiner brauchte in Zukunft den Regimegegnern zu erzählen, dass das NS-Regime vielleicht doch einen "guten Kern" hatte, weil zunächst einmal in der Außenpolitik partiell Ziele mit den Nationalsozialisten geteilt worden waren. Die Regimegegner wussten, dass Hitlers Staat ein Verfolgerstaat geworden und deshalb abgrundtief schlecht war, nichts war gut an ihm: Keine Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, keine Autobahn. Dieses nationalsozialistische System war im Kern korrupt, verrottet, schlecht.
Bonhoeffer wusste: Gerade in einem menschenverachtenden, diktatorischen System gilt es, genau hinzuschauen, kommt alles darauf an, dass die Empörungsfähigkeit entwickelt ist. Dies ist in der Tat das wohl Wichtigste: Hinsehen zu wollen und zu können sowie die eigene Empörungsfähigkeit zu schulen. Die Bereitschaft, etwas genau sehen zu wollen, war eine Folge der eigenen moralischen Koordinaten, die entscheidend wurden für die Kraft zum stellvertretenden mitmenschlichen Handeln. Das genaue Hinschauen verlangte Mut, Kraft, Selbstbewusstsein, Konsequenz. Diese Fähigkeiten fallen dem Individuum nicht "in den Schoß", fliegen ihm nicht von selbst zu, sondern müssen entwickelt werden. Empörungsfähigkeit, die schließlich den Kern der eigenen Existenz nicht nur berühren, sondern auch gefährden kann, mussten sich die Zeitgenossen erarbeiten. Wenn sie die Fähigkeit dazu mitbrachten, konnten dies die entscheidenden Voraussetzungen für die Distanzierung vom politischen System und seinen Wertvorstellungen sein. Nur mit einem festen Maßstab konnte jene Wirkung erzielt werden, die dann in die Distanzierung von den Zeitströmungen mündete und eine Entscheidung zum stellvertretenden mitmenschlichen Handeln verlangte. Dann konnte der Einzelne das Wahnwitzigste wagen, was man sich vorstellen konnte. Er konnte ohne Rücksicht auf sich und seine Angehörigen in den engsten Kreis der Macht treten, um von dort aus den Sturz des Gesamtsystems zu betreiben.
Genau das machte Bonhoeffer. Er wurde mit Kriegsbeginn durch seinen Schwager Hans von Dohnanyi ein Mitarbeiter des Amt Canaris, dessen Amt für Auslandsabwehr, also jenes Amt, das den NS-Staat gegen Infiltration von außen zu schützen hatte und Leute einsetzen konnte, die Auslandserfahrung hatten und über Auslandskontakte verfügten. Widerstand - das war auch Handeln aus dem Dunst der Geheimdienste heraus. Bonhoeffer bekam, bei aller Zurückhaltung, die er sich zunächst auferlegte, einen wichtigen und vor allem auch einen aussichtsreichen Posten, denn er gestattete völlig neue Praktiken widerständigen Handelns. Denn als Abwehrmann war Bonhoeffer zu einem Agenten geworden. Er bewegte sich im Zwielicht und trug nunmehr scheinbar sogar Verantwortung im verhassten System. Viel wichtiger war, dass er eine neue Art von Schuld wahrnahm.
Kooperation und Konfrontation - dieses Spannungsverhältnis wurde für ihn bestimmend. Wer im Amt Canaris Dienst tat, bekam Handlungsspielräume; er konnte sogar mit den gegnerischen Geheimdiensten Kontakt aufnehmen. Bonhoeffer konnte ins Ausland, sogar in die Schweiz zu Karl Barth, reisen. Dessen Eindruck war zwiespältig - eine Folge von Bonhoeffers Entscheidung, aus der Abwehr heraus zu agieren. Mit Moltke, dem "Herz" der Kreisauer, flog er gemeinsam nach Norwegen. Auch Moltke bewahrte sich eine gewisse, heute befremdlich wirkende Zurückhaltung. Bonhoeffer traf den anglikanischen Bischof Bell in Schweden, einen Briten, der Zugang zu Churchill hatte. Bell vertraute Bonhoeffer, vielleicht von allen politischen Köpfen dieser Zeit am meisten.
Zwar lautete Bonhoeffers Auftrag, er solle Informationen beschaffen. In Wirklichkeit hatte er über Bischof Bell Kontakt zur britischen Regierung aufnehmen sollen. Die nahmen den deutschen Priester nicht ernst, bekräftigten das Kriegsziel der bedingungslosen deutschen Kapitulation. Bonhoeffers Wirken endete tragisch, sieht man davon ab, dass er entscheidend im Rahmen des "Unternehmens Sieben" an der Rettung deutscher Juden beteiligt war. Misstrauen lähmte und beschämte ihn. Ob Barth ihm wirklich voll vertrauen wollte, wir wissen es bis heute nicht, denn wieso, so mochte sich der große Theologe fragen, konnte Bonhoeffer ausreisen. War er wirklich der Sendbote der Opposition oder nur ein Einflussagent? Bonhoeffer, der aufrechte und wahrhaftige Gläubige - er stand im Zwielicht wie fast alle seine Freunde im Widerstand. Er wollte die Wahrnehmung der deutschen Opposition durch die Gegner durch unmittelbare Geheimdienstkontakte beeinflussen, aber nicht im Dienste des NS-Staates, sondern des "anderen Deutschland". So stieß er auch hier auf Grenzen und machte die Erfahrung, die mancher Regimegegner angesichts des Misstrauens, mit dem man ihm begegnete, machte.
Das Amt Ausland/Abwehr sollte fremde Mächte beeinflussen. Seine Mitarbeiter trafen sich mit Kontaktleuten in Bern, in Madrid und in Stockholm. Besonders wichtig war die Verbindung zu den Alliierten, die mit Hilfe des Vatikans kontaktiert werden konnten. Bonhoeffer und Dohnanyi gingen aber noch weiter, denn sie halfen vereinzelt Verfolgten, transferierten Geld ins Ausland, um dort das Leben der Geretteten besser sichern zu können. Das wurde ihnen zum Verhängnis. Es ging also niemals allein um Gesprächsmöglichkeiten mit den Vertretern ausländischer Geheimdienste, sondern um alle jene gefährlichen Pfade und Grate, von denen man schnell stürzen konnte. Dohnanyi wurde im Zusammenhang mit einer SD-Intrige verhaftet, mit ihm war zugleich das Schicksal von Dietrich Bonhoeffer besiegelt. Er wurde am 5. April 1943 festgenommen, inhaftiert, schließlich verschleppt und am 9. April 1945 in Flossenbürg ermordet.
In der Haft entdeckte Bonhoeffer etwas ganz Neues an sich: Eine unendliche Kraft, die aus dem so intensiv durchdachten erlebten Zusammenhang von "Widerstand und Ergebung" erwuchs. Die Haftzeit schreckte ihn deshalb nicht, sondern weitete seinen Blick und verbreiterte seine Empfindungen. Deutlich wird dies an einem Bild aus der Haftanstalt Tegel. Bonhoeffer steht in Tegel im Gefängnis mit einem italienischen und einem französischen Gefangenen, er in der Mitte, ganz bestimmend. Er trägt Anzug und Krawatte und präsentiert sich wie ein Herr. Er bestimmt das Bild. Der Wärter steht daneben und nimmt Haltung ein. Die Haft in Tegel wurde zu seiner Bestimmung, zum Beweis, dass keineswegs nur Widerstand aus dem Zentrum der Macht heraus, sondern sogar im Gefängnis geleistet werden konnte. Denn Bonhoeffer bewährte sich in der extremen Vereinzelung und Vereinsamung, er blieb mit sich im Einklang. "Widerstand als Ergebung" - diese Erfahrung blieb bestimmend und wurde zu einem Charakteristikum des Lebens in der Diktatur des 20. Jahrhunderts.
Dies macht Bonhoeffers Leben und Widerstehen zum Exempel individueller Standhaftigkeit im 20. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Diktaturen.
Peter Steinbach
Bonhoeffer und der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus
Rede von Prof. Dr. Peter Steinbach am 19. Juli 2008 in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin aus Anlass der Eröffnung der Ausstellung "Zukunft will verantwortet werden"
"Es ist unendlich viel leichter, in Gehorsam gegen einen menschlichen Befehl zu leiden als in der Freiheit eigenster verantwortlicher Tat. Es ist unendlich viel leichter, in Gemeinschaft zu leiden als in Einsamkeit. Es ist unendlich viel leichter, öffentlich und unter Ehren zu leiden als abseits und in Schanden."
Bonhoeffer wusste: Wer über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus und überhaupt gegen diktatorische Systeme redet, muss zunächst über die Anpassung der Menschen sprechen. Widerständigkeit ohne eine Auseinandersetzung mit der Anpassung an diktatorische Systeme ist überhaupt nicht verständlich. Anpassung bleibt das eigentliche Kennzeichen einer Epoche, in der Diktaturen das Verhalten des Menschen prägen und Widerständigkeit das Besondere bleibt.
Dietrich Bonhoeffer wird heute als Märtyrer, also als Blutzeuge seines Glaubens, empfunden und seit den 1950er/60er Jahren beinahe zu einer Art von evangelischem Heiligen stilisiert. Dies hat sich durch Spielfilme jüngst noch verstärkt, die auch das Verhältnis zu Maria von Wedemeyer, seiner Verlobten, ins Bild setzten. Bonhoeffer scheint nun endgültig vereinnahmt zu werden. So war es nicht immer, denn er galt seiner Kirche lange als nur politischer Regimegegner, nicht als Glaubenszeuge.
Das persönliche Versagen Bonhoeffers, die Kapitulation vor sich selbst, vor den Zwängen und dem Zeitgeist, über den wir uns gern mokieren, von dem wir jedoch unendlich abhängig zu sein scheinen, muss betont werden. In der Tat war die Überwindung der Anpassungszwänge die Voraussetzung für eine Bonhoeffer charakterisierende demonstrative Gleichgültigkeit gegenüber Reputationszuschreibungen durch eine irrende und sich immer weiter verirrende und sich verlierende Gesellschaft. Im kritischen Entsetzen über sein Versagen findet er eine unbeirrbare Position.
Was dann sein weiteres Leben prägte, war zunächst seine Suche. Soll man ins Ausland gehen oder in Deutschland bleiben? Und wenn man bleibt: Wie hält man stand? Er ging als Auslandspfarrer nach London und griff von dort in den Bekenntniskampf ein. Er übernahm eine Kirchengemeinde und wurde als entschiedener Anhänger einer Ökumene, die politisch auf Frieden, aber nicht auf Appeasement zielte, unendlich wichtig. Die Zahl seiner Gegner wuchs, weil Bonhoeffer von außen, aus London, versuchte, den Widerstand in Deutschland im Kampf der Bekennenden Kirche zu beeinflussen. Er kehrte später nach anderen Zwischenstationen nach Deutschland zurück, angetrieben vom Gefühl, die verhassten Nationalsozialisten von innen zu bekämpfen. Und er engagierte sich entscheidend beim Aufbau des Predigerseminars der Bekennenden Kirche, einer Art untergründiger Kirche, die in der "Nachfolge" ein "gemeinsames Leben" verwirklichte. Beide Begriffe wurden in wichtigen Texten behandelt, die Bonhoeffers Gemeinde- und Kirchenvorstellung beschrieben.
Bonhoeffer wurde politischer. Niemals aber diffamierte er diejenigen, die hinausgingen, denn sein eigenes Verhalten markierte nur eine Möglichkeit neben anderen. Kein negatives Wort finden wir über diejenigen, die emigrierten. Dietrich Bonhoeffer aber entschied sich für den Kampf im Innern. Das war ein Kampf, der ihn letztlich bis ins Mark berührte und der ihn, den sich nicht auf das Regime einlassenden Theologen, als Abwehrmann nach seinem Verständnis in einer Weise schuldig werden ließ. Diese Mitschuld hatte der Kreisauer Moltke, wahrhaftig ein Unschuldiger, einmal als "Schuld an der Schuld der Verbrecher" beschrieben.
Zunächst konzentrierte sich Bonhoeffer auf die innerkirchlichen Konflikte und auf seine seelsorgerliche Arbeit. Mit seinen Schülern bildete er eine Art Untergrundgemeinde. Nach seinem Beamtenverhältnis und seiner Versorgungssicherheit fragte er nicht. Er lebte nach 1933 nicht in den gesicherten Verhältnissen seiner Wohnung, praktisch hatte er gar keine. Er lebte da, wo er mit seinen Vikaren seine Seminararbeit und Kirchenarbeit machen konnte: "Nachfolge", "Gemeinsames Leben", das blieben die Richtpunkte seines Verhaltens.
Er lebte schreibend, lesend, diskutierend, singend und vor allem predigend. Dann schlug die Gestapo zu, zerstörte seine Predigerseminare. Bonhoeffer musste 1938/39 befürchten, zum Wehrdienst eingezogen zu werden. Hier half ihm sein Schwager Hans von Dohnanyi, indem er Bonhoeffer in das Amt Ausland/Abwehr beim Oberkommando der Wehrmacht verpflichtete, in den engsten Kreis der Verschwörer um Hans Oster. Damit war zugleich die Zeit der Unschuld vorbei, denn Bonhoeffer gehörte nun einem staatlichen Apparat an. Er war gefährdet durch die stets drohende Einberufungsgefahr. Das war ein zweiter Punkt seiner Schwäche. Wir haben andere wie Hermann Stöhr, im Grunde genommen der erste richtig konsequente Kriegsdienstverweigerer in der Evangelischen Kirche, der sich den Nationalsozialisten konsequent bis in seinen eigenen Tod hinein verweigerte, der nicht zur Wehrmacht ging und lieber den Tod erlitt als zu kapitulieren.
Drei Daten markierten das menschenverachtende Potenzial des NS-Staates: Bereits 1933 hatten die Nationalsozialisten das Gesetz zur Verhütung des erbkranken Nachwuchses verkündigt und damit den Grund für eine rassenideologisch begründete Ausmerzung angeblicher lebensunwerter Ballastexistenzen gelegt. Im Jahr 1935 waren in Nürnberg ausgrenzende Gesetze verabschiedet worden. Im November 1938 war es zu einem als Ausdruck des Volkszorns verbrämten Parteipogrom gekommen, das den Ausschluss der deutschen Juden aus dem Wirtschaftsleben abschloss und die Ausgrenzung der deutschen Juden aus dem Rechtsleben einleitete. Keiner brauchte in Zukunft den Regimegegnern zu erzählen, dass das NS-Regime vielleicht doch einen "guten Kern" hatte, weil zunächst einmal in der Außenpolitik partiell Ziele mit den Nationalsozialisten geteilt worden waren. Die Regimegegner wussten, dass Hitlers Staat ein Verfolgerstaat geworden und deshalb abgrundtief schlecht war, nichts war gut an ihm: Keine Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, keine Autobahn. Dieses nationalsozialistische System war im Kern korrupt, verrottet, schlecht.
Bonhoeffer wusste: Gerade in einem menschenverachtenden, diktatorischen System gilt es, genau hinzuschauen, kommt alles darauf an, dass die Empörungsfähigkeit entwickelt ist. Dies ist in der Tat das wohl Wichtigste: Hinsehen zu wollen und zu können sowie die eigene Empörungsfähigkeit zu schulen. Die Bereitschaft, etwas genau sehen zu wollen, war eine Folge der eigenen moralischen Koordinaten, die entscheidend wurden für die Kraft zum stellvertretenden mitmenschlichen Handeln. Das genaue Hinschauen verlangte Mut, Kraft, Selbstbewusstsein, Konsequenz. Diese Fähigkeiten fallen dem Individuum nicht "in den Schoß", fliegen ihm nicht von selbst zu, sondern müssen entwickelt werden. Empörungsfähigkeit, die schließlich den Kern der eigenen Existenz nicht nur berühren, sondern auch gefährden kann, mussten sich die Zeitgenossen erarbeiten. Wenn sie die Fähigkeit dazu mitbrachten, konnten dies die entscheidenden Voraussetzungen für die Distanzierung vom politischen System und seinen Wertvorstellungen sein. Nur mit einem festen Maßstab konnte jene Wirkung erzielt werden, die dann in die Distanzierung von den Zeitströmungen mündete und eine Entscheidung zum stellvertretenden mitmenschlichen Handeln verlangte. Dann konnte der Einzelne das Wahnwitzigste wagen, was man sich vorstellen konnte. Er konnte ohne Rücksicht auf sich und seine Angehörigen in den engsten Kreis der Macht treten, um von dort aus den Sturz des Gesamtsystems zu betreiben.
Genau das machte Bonhoeffer. Er wurde mit Kriegsbeginn durch seinen Schwager Hans von Dohnanyi ein Mitarbeiter des Amt Canaris, dessen Amt für Auslandsabwehr, also jenes Amt, das den NS-Staat gegen Infiltration von außen zu schützen hatte und Leute einsetzen konnte, die Auslandserfahrung hatten und über Auslandskontakte verfügten. Widerstand - das war auch Handeln aus dem Dunst der Geheimdienste heraus. Bonhoeffer bekam, bei aller Zurückhaltung, die er sich zunächst auferlegte, einen wichtigen und vor allem auch einen aussichtsreichen Posten, denn er gestattete völlig neue Praktiken widerständigen Handelns. Denn als Abwehrmann war Bonhoeffer zu einem Agenten geworden. Er bewegte sich im Zwielicht und trug nunmehr scheinbar sogar Verantwortung im verhassten System. Viel wichtiger war, dass er eine neue Art von Schuld wahrnahm.
Kooperation und Konfrontation - dieses Spannungsverhältnis wurde für ihn bestimmend. Wer im Amt Canaris Dienst tat, bekam Handlungsspielräume; er konnte sogar mit den gegnerischen Geheimdiensten Kontakt aufnehmen. Bonhoeffer konnte ins Ausland, sogar in die Schweiz zu Karl Barth, reisen. Dessen Eindruck war zwiespältig - eine Folge von Bonhoeffers Entscheidung, aus der Abwehr heraus zu agieren. Mit Moltke, dem "Herz" der Kreisauer, flog er gemeinsam nach Norwegen. Auch Moltke bewahrte sich eine gewisse, heute befremdlich wirkende Zurückhaltung. Bonhoeffer traf den anglikanischen Bischof Bell in Schweden, einen Briten, der Zugang zu Churchill hatte. Bell vertraute Bonhoeffer, vielleicht von allen politischen Köpfen dieser Zeit am meisten.
Zwar lautete Bonhoeffers Auftrag, er solle Informationen beschaffen. In Wirklichkeit hatte er über Bischof Bell Kontakt zur britischen Regierung aufnehmen sollen. Die nahmen den deutschen Priester nicht ernst, bekräftigten das Kriegsziel der bedingungslosen deutschen Kapitulation. Bonhoeffers Wirken endete tragisch, sieht man davon ab, dass er entscheidend im Rahmen des "Unternehmens Sieben" an der Rettung deutscher Juden beteiligt war. Misstrauen lähmte und beschämte ihn. Ob Barth ihm wirklich voll vertrauen wollte, wir wissen es bis heute nicht, denn wieso, so mochte sich der große Theologe fragen, konnte Bonhoeffer ausreisen. War er wirklich der Sendbote der Opposition oder nur ein Einflussagent? Bonhoeffer, der aufrechte und wahrhaftige Gläubige - er stand im Zwielicht wie fast alle seine Freunde im Widerstand. Er wollte die Wahrnehmung der deutschen Opposition durch die Gegner durch unmittelbare Geheimdienstkontakte beeinflussen, aber nicht im Dienste des NS-Staates, sondern des "anderen Deutschland". So stieß er auch hier auf Grenzen und machte die Erfahrung, die mancher Regimegegner angesichts des Misstrauens, mit dem man ihm begegnete, machte.
Das Amt Ausland/Abwehr sollte fremde Mächte beeinflussen. Seine Mitarbeiter trafen sich mit Kontaktleuten in Bern, in Madrid und in Stockholm. Besonders wichtig war die Verbindung zu den Alliierten, die mit Hilfe des Vatikans kontaktiert werden konnten. Bonhoeffer und Dohnanyi gingen aber noch weiter, denn sie halfen vereinzelt Verfolgten, transferierten Geld ins Ausland, um dort das Leben der Geretteten besser sichern zu können. Das wurde ihnen zum Verhängnis. Es ging also niemals allein um Gesprächsmöglichkeiten mit den Vertretern ausländischer Geheimdienste, sondern um alle jene gefährlichen Pfade und Grate, von denen man schnell stürzen konnte. Dohnanyi wurde im Zusammenhang mit einer SD-Intrige verhaftet, mit ihm war zugleich das Schicksal von Dietrich Bonhoeffer besiegelt. Er wurde am 5. April 1943 festgenommen, inhaftiert, schließlich verschleppt und am 9. April 1945 in Flossenbürg ermordet.
In der Haft entdeckte Bonhoeffer etwas ganz Neues an sich: Eine unendliche Kraft, die aus dem so intensiv durchdachten erlebten Zusammenhang von "Widerstand und Ergebung" erwuchs. Die Haftzeit schreckte ihn deshalb nicht, sondern weitete seinen Blick und verbreiterte seine Empfindungen. Deutlich wird dies an einem Bild aus der Haftanstalt Tegel. Bonhoeffer steht in Tegel im Gefängnis mit einem italienischen und einem französischen Gefangenen, er in der Mitte, ganz bestimmend. Er trägt Anzug und Krawatte und präsentiert sich wie ein Herr. Er bestimmt das Bild. Der Wärter steht daneben und nimmt Haltung ein. Die Haft in Tegel wurde zu seiner Bestimmung, zum Beweis, dass keineswegs nur Widerstand aus dem Zentrum der Macht heraus, sondern sogar im Gefängnis geleistet werden konnte. Denn Bonhoeffer bewährte sich in der extremen Vereinzelung und Vereinsamung, er blieb mit sich im Einklang. "Widerstand als Ergebung" - diese Erfahrung blieb bestimmend und wurde zu einem Charakteristikum des Lebens in der Diktatur des 20. Jahrhunderts.
Dies macht Bonhoeffers Leben und Widerstehen zum Exempel individueller Standhaftigkeit im 20. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Diktaturen.