"Das heilige Deutschland soll leben."

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Karl Meyer

„Das heilige Deutschland soll leben.“

Predigt von Pater Provinzial Dr. Karl Meyer OP im Rahmen des Ökumenischen Gottesdienstes am 20. Juli 1999 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Lesung Exodus 14 und Joh 5

Verehrte liebe Schwestern und Brüder in Jesus Christus!

Dieser Ort ist ein heiliger Ort.

Plötzensee fehlen zwar alle äußeren Zeichen eines religiösen Ortes. Von Plötzensee gilt aber, was der Patriarch Jakob von Betel sagt: „Wahrlich, der Herr ist an diesem Ort, und ich wußte es nicht. Wie ehrfurchtgebietend ist doch dieser Ort! Hier ist nichts anderes als das Haus Gottes und die Pforte des Himmels.“

Heilige Orte hängen nicht von der Vielzahl religiöser Symbole ab, sondern davon, ob eine Leiter vom Himmel auf die Erde herunterreicht und ob Engel darauf auf- und niedersteigen. Heilige Orte sind dort, wo gültige Worte aus offenen Herzen von den Engeln zu Gott getragen werden und Antwort erfahren wird.

Hier in Plötzensee sind solche Worte gesprochen worden. Wenn wir ganz stille würden, dann könnten wir manches Gebet hören, den leisen unüberhörbaren Schrei nach Leben und Freiheit für sich und die vielen. Wenn wir ganz stille würden, dann würde vom Bendlerblock noch bis hierher der Ruf vernehmbar sein: „Es lebe das heilige Deutschland!“ Wenn wir ganz stille wären, dann würde aus den KZ’s und den Gaskammern der ohnmächtige Schrei der Entehrten nach der geraubten Würde hörbar werden, und das sind Schreie und Worte, die die Engel vor Gottes Thron tragen, denn ER ist der Freund der Ehre, der Würde und des Lebens.

Von ganz wenigen sind uns die letzten Worte vor der Hinrichtung überliefert. Paul Lejeune-Jung hat ganz einfach gesagt: „Mein Jesus, Barmherzigkeit!“ Franz Leuninger ist Psalmen singend zur Richtstätte gegangen.

Aber von vielen anderen kennen wir aus den Abschiedsbriefen die Haltung, mit der sie wenig später in den Tod gingen. Hellmuth Stieff schreibt da an seine Frau: „Der Tod ist kein Ende, sondern nur eine Wandlung. Ich bin von der Unsterblichkeit unserer Seelen fest und gläubig überzeugt.“ Karl Ernst Rahtgens schreibt an seine Frau: „Noch sind einige Minuten Zeit. Ich bin nochmals niedergekniet, um den Herrn zu bitten, mir im Geiste das heilige Abendmahl zu reichen. Mir kam in diesen letzten Tagen das Wort, das mich ständig begleitete: Ich will meine Liebe nicht von Dir wenden, spricht der Herr Dein Erbarmer. Dieses Wort soll mich auch durch das letzte dunkle Tal begleiten. ... Wie herrlich ist es, etwas vom Herrn Christus zu wissen, wenn man plötzlich vor dem Richterstuhl Gottes erscheinen muß, der uns viel tiefer und weiter schaut, als alle Menschen. Das Gebet gibt mir Frieden und Kraft.“

Sie, die Sie mit den Opfern des Widerstandes ganz persönlich verbunden sind, werden diese letzten Worte, diesen letzten Willen unvergesslich bei sich tragen.

Aber auch wo diese letzten Zeugnisse vernichtet wurden, gilt: Jenseits des ausgesprochenen Wortes ist das gesammelte und bereite Herz selbst das heilige Wort.

Würden wir ganz still werden, dann würden wir aus den Tiefen der Geschichte gleichsam als Orgelton unter diesen vielen Stimmen den Schrei des Volkes Israel am Roten Meer zu seinem Gott hören, und wir würden hören den lauten Schrei Jesu am Kreuz, als er verschied. Die Kirchenväter haben viel meditiert über diesen Schrei, der aus dem Schweigen hervorbricht. Das Schweigen ist der Verzicht auf jede vorläufige Erfüllung der Sehnsucht nach Leben, und der Schrei Jesu ist die versammelte Herausforderung des Sohnes an den Vater. Es ist mit ihm und in ihm der Schrei der ganzen Schöpfung an den Gott, den sie in Jesu Namen „Vater“ nennt: „Gib doch Leben, das den Todesmächten gewachsen ist!“

Lukas deutet diesen Schrei Jesu mit dem „Vater, in Deine Hände empfehle ich meinen Geist“, und viele Gebete von Menschen in äußerster Not sprechen Jesu Gebet nach. Der Schrei klingt aber nicht nur in frommen Worten weiter, sondern findet auch Gestalt in der Herzensentscheidung des Kommunisten Willi Marker für Menschen. Als Stubenältester in einer total überfüllten Juden-Baracke im KZ Sachsenhausen, in der die Ruhr ausgebrochen war, lässt er sich von den Drohungen des Blockführers nicht beirren. Von ihm weiß einer: „Freizeit kannte er nicht. Seine Sorge galt allein diesen elenden Menschen. Ich habe oft gesehen, wie er die an Ruhr erkrankten Häftlinge säuberte und die Verzweifelten tröstete.“ Weil er zu human ist, wird er schließlich erhängt. Auch das ist ein Schrei zu dem Gott, der seinen Namen nennt: „Ich bin da.“

Der Exodus aus Ägypten – so großartig er sich später erzählen und in Bilder fangen lässt – ist kein leichtes Spiel. Rechts und links das Wasser als drohender Wall, hinter den Entronnenen der drohende Feind, und was ist vor ihnen? Exodus ist eigentlich der Ausweg in der Ausweglosigkeit. Der Exodus war deshalb nur um den Preis des Glaubens zu haben. Und so wurde der Exodus durch das Rote Meer die Kraft, die Israel durch die Geschichte getragen hat. Der Glaube hat Israel aus Babylon herausgebracht, die Zerstreuung unter die Völker und die Shoah überstehen lassen.

Auferstehung, die Chiffre des Zweiten Testamentes für endgültig neues Leben, ist genauso wenig ein Konsumartikel.

Dass der Schrei Jesu in der Ausweglosigkeit des Kreuzes nach einem endgültigen Exodus Gehör fand, ist wahr, aber diese Wahrheit hat sich nur den Glaubenden als Tatsache erwiesen. Sie begannen damals ein erfülltes und begeisterndes, und dennoch angefochtenes Leben zu führen. Im Ohr der bedrängen Gemeinde im hellenistischen Umfeld klingen Schrei und Glaube wieder als die Gewissheit Jesu, vom Vater das Leben in sich zu haben und jedem, der im Grab ist und seine Stimme hört, Leben zu verleihen, so wie wir es gerade gehört haben.

Das Grab aber, aus dem Jesus Menschen herausrufen will, ist nicht in erster Linie die Grube für den Leib. Es ist zunächst die verzweifelte Suche nach Leben auf Kosten von andern. Diese untaugliche Suche isoliert Menschen und überführt sie konsequenterweise in ein vergessenes Grab auf dem Friedhof. Auferstehung durch Jesus ist deswegen nicht erst im Jenseits wirksam, sondern ist schon mitten in dieser Welt Leben aus der Fülle der Liebe, mag es den Namen Jesu offenkundig tragen oder nicht.

Liebe Schwestern und Brüder, Verehrte Zuhörer!

Am Ende dieses Jahrhunderts ziehen wir vielfältig Bilanz, schauen auf Gewinn und Verlust. Gewinn dieses Jahrhunderts in Deutschland ist gewiss, dass uns heilige Orte zugewachsen sind, von denen ein Schrei nach Leben und Würde für andere zum Himmel gedrungen ist.

Plötzensee gehört – mit anderen Orten – zu dem guten Erbe Berlins, wenn es sich mit dem Jahrhundertwechsel anschickt, als Hauptstadt und Regierungssitz wieder der Ort für Lebensentscheidungen des Deutschen Volkes zu werden.

Unsere Aufgabe ist es, das Erbe zu pflegen, zu schauen, dass die geöffneten Pforten des Himmels sich nicht wegen mangelnder Benutzung schließen.

Plötzensee muss deswegen ein Ort des Gebetes bleiben, wo wir in das Gebet und die Hingabe der mit dem Leben Gottes „Überzeugten“ eintreten.

Plötzensee muss deswegen ein Ort der Zeitansage und Mahnung bleiben.

Das Dritte Reich wird so nicht wiederkommen. Und genauso wenig der Widerstand gegen Adolf Hitler.

Die Geschichte scheint sich aber darin zu wiederholen, dass es in jeder Epoche verlockend erscheint, die Macht zum eigenen Vorteil zu bündeln. Da der Menschheit aber immer größere Kräfte und Möglichkeiten zuwachsen, wird die Gefahr, die der Menschlichkeit droht, größer. Dann wird um vermeintlicher Freiheiten willen Freiheit von vielen bereitwillig aufgegeben, und sie werden zu Helfern verbrecherischer Systeme. Andere richten sich im Unvermeidlichen ein. So wie die Israeliten zu Mose sagen: Es war doch besser für uns, in Ägypten als Sklaven zu leben, als hier in der Wüste zu sterben. Wer aber den Geschmack wahrer Freiheit und des Lebens hat, steht dann wie Mose, Aaron und Mirjam vor einem neuen Exodus.

Wer in der Nachfolge Jesu steht und mit ihm aufmerksam in das vollkommene Gesetz der Freiheit hineingeschaut hat, der steht schnell vor Herodes und Pilatus.

Werden wir in einer Zeit, in der jeder sich berechtigt glaubt, Maß und Weise der Freiheit festzulegen, die Stimme des Menschensohnes, die in den Warnungen von Propheten heute an uns dringt, rechtzeitig hören?

Das heilige Deutschland soll leben, d.h. das Land, in dem Gottes frohe Botschaft, sein fundamentales Interesse am Leben etwas gilt, in dem die Würde jedes Menschen vom ersten bis zum letzten Augenblick des Lebens nicht leichthin abgetan wird.

Das heilige Deutschland soll leben, in dem Deutsche ihr Recht finden, in dem aber auch bei der sich steigernden weltweiten Not Menschen einen Platz zum Leben finden, die sich von uns Chancen zum Leben erhoffen.

Das heilige Deutschland soll leben, in dem nicht die Eigeninteressen gerade noch im Zaume gehalten werden, sondern versöhnte Einheit in Freiheit und legitimer Verschiedenheit gelebt wird.

Das alles kommt nicht von allein. Sowohl in der Kirche wie im wiedervereinigten Deutschland möchten wir manchmal die Einheit in großen Erlebnissen konsumieren. Einheit ist jedoch eine Sache von Person zu Person, von redlicher Auseinandersetzung, mehr noch von „Überzeugung“ der Herzen, d.h. ein Prozess, bei dem ich selbst lebendiges Herzblut drangebe, damit in einem anderen Herzen neues Leben entsteht. Die, die ihre Liebsten gelassen haben, haben das getan.

„Der Geist weht, wo er will.“ (Joh 3, 8) Gewiss aber darf man von uns Christen erwarten, dass wir ein ausgezeichneter Ort des Geistes sind, eine Pforte des Himmels, ein Ort, wo hingehört und nachgespürt wird mit der Frage: „Was dient dem Leben wirklich?“ Es galt nicht nur vor 55 Jahren, was Cäsar von Hofacker am 17. Juli im letzten uns bekannten Brief an seine Frau schrieb: „Heute wäre jedes ungenützte Verstreichenlassen auch nur weniger Stunden eine Sünde wider den Heiligen Geist.“

Was wir tun können, ist ganz verschieden: Zu dieser Stunde hat in Hamburg eine kirchliche Mitarbeiterin 60 Vertriebene aus dem Kosovo, die auf einem Wohnschiff leben, zu einer Busfahrt nach Nordstrand eingeladen. Die Fahrt zu den Seehundsbänken wird vom Schiffseigner für den halben Preis gemacht. Der Pfarrer hat die Kollekte seines Jubiläums für ein gutes Essen in einem besseren Restaurant eingesetzt, der Shanty-Chor der Insel gibt ein Konzert für die Flüchtlinge. Eine konkrete Weise, die Zeit für den Frieden zu nutzen!

Sie selbst könnten sicher ähnliche Beispiele guten Handelns hinzufügen.

Wir empfangen in dieser Stunde an einem heiligen Ort nach den Überzeugungen unserer Kirchen im Sakrament Jesus, den, der von sich sagt: Ich tue nur, was ich den Vater tun sehe. Möge Jesus Grund unseres Denkens, Handelns und Fühlens werden, damit wir tun, was Gott unser Vater durch uns für das Leben von Menschen heute am Ende dieses Jahrhunderts, ja dieses Jahrtausends tun will, damit auch in einer neuen Epoche Sein Reich komme.

Amen.






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