Der Umsturzversuch war das Ende der Gewalt des Staates über den Einzelnen

Eberhard Diepgen

Der Umsturzversuch war das Ende der Gewalt des Staates über den Einzelnen

Gedenkrede des Regierenden Bürgermeisters von Berlin Eberhard Diepgen am 20. Juli 1999 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Der 20. Juli 1944 ist ein bedeutender Tag in unserer Geschichte. Er gibt uns Selbstachtung. In der Haftanstalt Plötzensee wurde dem Leben von Menschen ein grausiges Ende bereitet, die sich der Befreiung Deutschlands von der Hitlerdiktatur verschrieben hatten. Besonders ihrer gedenken wir und all jener, die mir ihrem Widerstand gegen die Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus für ein anderes Deutschland einstanden.

Wer von den Verschwörern des 20. Juli 1944 nach dem gescheiterten Umsturzversuch nicht sofort standrechtlich erschossen wurde, durchlief in den folgenden Wochen und Monaten Haft, Folter und Schauprozesse. Die Rache der Nazis machte vor ihren Familien nicht Halt. Auch Ihnen, den Hinterbliebenen, gilt unser besonderes Mitgefühl.

Das Wissen darum, dass ein Krimineller das Land in den Abgrund stürzte, war den Teilnehmern des Staatsstreichs Anlass zum Handeln. Um den Staat zu retten, musste die Führung entmachtet werden. Wenige Menschen waren bereit, diese extreme Entscheidung zu treffen, den schweren Schritt zu tun. Bürger, Arbeiter und Aristokraten brachten den nötigen Mut dazu auf. Für einen Offizier bedeutete es ferner neben dem Abgehen vom Eid auf Hitler, den eigenen Geist über den Korpsgeist zu stellen.

Es fanden sich Couragierte. Die Liste der zum Tode verurteilten Verschwörer gibt davon Zeugnis. Sie zeigt auch, dass ein bedeutender Teil des Widerstands im Dritten Reich gerade von Berlin ausging. Dies sollten allzu schnelle und bequeme historische Parallelisierungen zwischen Preußen, dem Deutschen Reich und der nationalsozialistischen Herrschaft berücksichtigen. Leider waren des 1944 Offiziere ohne Mannschaft, die sich dem Marsch des Landes ins Verderben entgegenstellten. Am 17. Juni 1953, in einem anderen Abschnitt deutscher Geschichte, waren es Mannschaften ohne Führung.

Die Beweggründe und Perspektiven im Widerstand gegen Hitler waren gewiss sehr verschieden. Für mich am treffendsten brachte Hellmut James Graf von Moltke, einer der herausragenden Köpfe des Kreisauer Kreises, den tieferen Sinn und Zweck des Umsturzes auf den Punkt: „Das Ende Machtpolitik; das Ende des Nationalismus; das Ende des Rassegedankens; das Ende der Gewalt des Staats über den Einzelnen.“

Die Bundesrepublik Deutschland feiert in diesem Jahr ihr fünfzigjähriges Bestehen. Moltkes Worte beschreiben grundlegende Positionen, ja Fundamente, auf denen unser Staat beruht. Dies gilt gleichermaßen für seine Streitkräfte. Die Bundeswehr entwickelte sich in dieser geistigen Tradition. Deutsche Soldaten beweisen es dort, wo sie im Einsatz stehen, innerhalb wir außerhalb der Landesgrenzen.

55 Jahre nach dem missglückten Attentat lässt sich sagen: Auch wenn der Umsturzversuch scheiterte, vergeblich war er nicht. Der 20. Juli 1944 gehört zur Staatsräson der Bundesrepublik.




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20.07.1999
P. Dr. Karl Meyer OP
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