"Der Herr aber lenke eure Herzen zur Liebe Gottes und zur Geduld Christi."

Wolfgang H. Neumann

„Der Herr aber lenke eure Herzen zur Liebe Gottes und zur Geduld Christi.“

Predigt von Pfarrer Wolfgang H. Neumann am 20. Juli 1985 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

„Der Herr aber lenke eure Herzen zur Liebe Gottes und zur Geduld Christi.“

(2. Thess.3,5)

Liebe Schwestern und Brüder, liebe Gemeinde!

Die Vergangenheit ist lebendig – und alle Versuche, sie zum Ruhen oder gar zum Vergessen zu bringen, schlagen fehl. Zu sehr werfen die Schatten noch ihre Finsternis in unsere Tage hinein. Das Jahr 1985 hat schon in seiner ersten Hälfte Schlagzeilen gebracht, die zeigen, wie diese Vergangenheit Menschen unseres Volkes und anderer Völker bewegt und erregt.

Hier in diesen Mauern brauchen wir nicht nach der Lebendigkeit von Vergangenheit zu fragen. Die Steine dieses Bauwerks haben Leid und Grausamkeit der 30er und 40er Jahre unseres Jahrhunderts für immer eingesogen.

In unserer Kirche im Gemeindezentrum Plötzensee, nur unweit von hier, hängen die Bildtafeln des „Plötzenseer Totentanzes“. Auf ihnen hat der Künstler Alfred Hrdlicka die räumliche und gedankliche Verbindung geschaffen zwischen dem Leiden Christi und dem Leiden um Gottes und der Menschen willen überhaupt.

Wir Pfarrer werden oft gefragt, wie man in diesem Kirchenraum mit den schrecklichen Bildern überhaupt Gottesdienst feiern oder sogar fröhlich sein könne. Es ist nur schwer zu vermitteln, dass dies wirklich geschieht. Da ereignet sich Gemeinde, ja, die betende, bekennende, hörende und singende, jedenfalls wache Gemeinde ist die gegenwärtige Antwort auf die Vergangenheit, wie sie an den Wänden dokumentiert ist. Es ist Licht und Farbe gegen das dunkle Grau des Todes.

Nach Jahren gerechnet entfernen wir uns von der Vergangenheit. Und die Zeit mag das Leid, das in Familien und Freundeskreise geschlagen wurde, tatsächlich mildern und heilen. Insofern gelingt uns auch Hoffnung und Fröhlichkeit. Doch die Bilder bleiben. An Wänden, in alten Akten oder in den Alpträumen und schlimmen Erfahrungstief im Innern des Menschen. Vor diesem Hintergrund sind wir alle zur kritischen Wachsamkeit gerufen, die gebrannten Kinder von damals ebenso wie die ahnungslosen und die angsterfüllten Kinder von heute. Und dies nicht nebeneinander, sondern im Austausch, im Weitersagen und gegenseitigen Aufeinanderhören. Das ist ein guter Weg gegen das Vergessenwollen, das nicht gelingen kann, weil so viel unverarbeitete Erfahrungen im hintersten Winkel der Seele verkapselt sind. Und jedes Erinnern gefährdet den Verschluss dieses angeblich abgeschlossenen Kapitels.

Das Wort, unter das wir uns heute stellen, ist die Botschaft gegen das Vergessen. Im Gegenteil, der Apostel Paulus mahnt und erinnert uns, nicht in der Sprache der Stärke, sondern in der Aufforderung zum Gebet. Er besinnt sich und erinnert seine Leser und Hörer auf die Kraft, die in der Schwäche liegt. Es ist die Bitte um Erlösung von verkehrten und bösen Menschen, von denen, deren Sache der Glaube nicht ist. Trotz dieser Erfahrung, dass es Menschen gibt, die es nicht mit Glauben und Vertrauen halten, lässt er sich nicht beirren. Über alle Anfechtung und Entmutigung hinweg ist er gewiss: „Der Herr ist treu. Er wird euch stärken und vor dem Bösen bewahren.“

Dies ist die Zusage, die Vorgabe für alle, die sich auf redlichem Weg halten wollen. Aber die Entscheidung für diesen Weg ist auch eine Aufgabe, sie verlangt Taten, aktives Handeln wie geduldiges Durchhalten. Deshalb endet der Apostel mit den Worten: „Der Herr aber lenke eure Herzen zur Liebe Gottes und zur Geduld Christi.“ Gottes Liebe und Christi Geduld gehören zusammen. Gott offenbarte seine Liebe, indem er Christus, seinen Sohn, zu uns Menschen sandte, einen wahren Menschen, der unbeirrt und geduldig seinen Weg ging. Er war nicht begierig aufs Leiden: „Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber“ waren die Worte seines Gebets im Garten Getsemani. Doch: „Nicht wie ich will, sondern wie du willst“ fügte er hinzu.

„Und reichst du uns den schweren Kelch, den bitteren,

des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,

so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern,

aus deiner guten und geliebten Hand.“

(Verse Dietrich Bonhoeffers aus dem Jahre 1944.)

Durch diese Worte wird der Abstand klein zwischen der Geduld Christi und der Geduld seiner Nachfolger. Das ist die Sprache eines gläubigen Menschen in Worte gefasst. Heute wird im Laufe des Tages sicher noch die Rede von Tugenden sein, von ethischen, bürgerlichen oder militärischen. Hier aber wird das Geheimnis der Liebe Gottes geschildert, die sich erweist in der Geduld Christi und seiner Nachfolger. Manche dieser Nachfolger sind es erklärtermaßen und bewusst, andere könnten sich selbst gar nicht so nennen und sind es trotzdem. Wer in dieser Liebe bleibt, der bleibt in Gott und ist nicht in der Gefahr, dem Unglauben, dem Aberglauben oder dem falschen Glauben zu erliegen. All diese Formen von Missglauben wollen uns das Vergessen schmackhaft machen, wollen Vergangenheit verschleiern, runterspielen oder überhöhen. Sie wollen uns jedenfalls entfernen von der wachsamen Nüchternheit, die uns Christen geboten ist.

Unsere Mahlgemeinschaft – auch wenn wir sie nacheinander haben werden -, unsere Gemeinschaft mit Christus, ist deshalb eine Gemeinschaft der Offenheit, der offenen Ohren und Augen und der offenen Herzen. Ihr wollen wir uns anvertrauen und uns damit öffnen für die Liebe Gottes, die uns als wache Menschen durch die Welt gehen lässt.

Amen.







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20.07.1985
P. Dr. Karl Meyer OP
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