Ihre Ideen waren das Fundament eines neuen Aufbaus
Heiner Geißler
Ihre Ideen waren das Fundament eines neuen Aufbaus
Gedenkrede des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit Dr. Heiner Geißler am 20. Juli 1985 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin
Wenn wir die Opfer des 20. Juli ehren, dann ehren wir damit auch all jene, die dem Nationalsozialismus Widerstand geleistet haben und deren Namen nicht bekannt sind. Es gab Tausende, die in ihrem christlichen Glauben und ihrer Kirche treu blieben, an verbotenen Fronleichnamsprozessionen oder an Versammlungen der Bekennenden Kirche teilnahmen. Es gab viele Beamte, die lieber eine Strafversetzung in Kauf nahmen, als ihren Glauben zu verleugnen. Es gab unzählige Arbeiter, die ihren sozialistischen, christlichen und freien Gewerkschaften innerlich verbunden blieben und sich der Deutschen Arbeitsfront verweigerten. Es gab lauten Protest, und es gab stille Verweigerung. Es ist wichtig für unser Selbstverständnis und unsere Selbstachtung, dass nicht nur der Nationalsozialismus, den niemand verdrängen darf, sondern auch der Widerstand gegen Hitler Teil unserer Geschichte ist. Der Widerstand gegen Hitler ist Teil der Geschichte auch deswegen, weil grundlegende politische Ideen und Konzepte der Männer und Frauen, die von den Nazis umgebracht worden sind, Eingang in unsere verfassungsrechtliche Ordnung fanden.
1. Sie waren sich einig gegen ein „System des absoluten Staates“, wie es die Geschwister Scholl in einem Flugblatt der „Weißen Rose“ formulierten. Der Staat müsse ein Rechtsstaat sein.
„Die letzte Bestimmung des Staates ist es“, – so Graf Moltke – „der Hüter der Freiheit des Einzelmenschen zu sein. Dann ist es ein gerechter Staat.“
Es bestand weit gehende Übereinstimmung über die Notwendigkeit, politisches Handeln ethisch zu begründen und über die Ablehnung einer wertfreien Politik. Pfarrer Hans Schönfeld fasste die gemeinsame Überzeugung mit folgenden Worten zusammen: „Die grundlegenden Prinzipien nationalen und gesellschaftlichen Lebens müssen wieder ausgerichtet werden nach den Fundamentalsätzen christlichen Glaubens und Lebens.“
Die Verfassungspläne und Konzeptionen einer Neuordnung, waren sie auch von politisch noch so verschiedenen Mitgliedern des Widerstandes verfasst, hatten wesentliche Gemeinsamkeiten:
Sie alle wollten die Zukunft im Geiste der Freiheit und Menschlichkeit gestaltet sehen. Ihre politische Weitsicht und Zukunftsorientierung ging über die Beendigung des Krieges und der Wiederherstellung von Frieden, Recht und Ordnung weit hinaus. Ich will nur drei Beispiele tragender Zukunftsideen nennen, die bereits von Mitgliedern des Widerstandes entwickelt wurden:
- Den Gedanken der sozialen Marktwirtschaft. Der Freiburger Kreis zum Beispiel und die Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckenrath entwickelten ein ordnungspolitisches Konzept, das sowohl Kapitalismus als auch Kommunismus überwinden sollte, weil das eine die Gemeinschaft gegen den Einzelnen, das andere die Person gegen das Kollektiv ausspiele.
- Die Idee der Selbstverwaltung und der Subsidiarität haben alle Gruppen des Widerstandes verfolgt. Ihr Ziel war es, den einzelnen Bürger und die „kleinen Gemeinschaften“ verantwortlich am politischen Leben zu beteiligen.
- Die Vision eines vereinigten Europas. Sie hatten die Unzulänglichkeit des Nationalstaates als letzte internationale Instanz erkannt. Nicht mehr nationale Lebensfragen, sondern internationale Überlebensfragen waren Mittelpunkt ihres außenpolitischen Denkens. Carl Goerdeler spricht zum Beispiel in seiner zweiten Denkschrift „Der Weg“ von einem europäischen Bund selbständiger und gleichberechtigter Staaten, den es zu schaffen gelte.
Der Grundkonsens über eine freiheitlich demokratische Ordnung ist ein wichtiges Vermächtnis der Opfer des 20. Juli. Ihr Widerstand und ihre Ideen waren das Fundament eines neuen Aufbaus, zu dem wir in der Bundesrepublik Deutschland die Chance hatten, und auf den unsere Landsleute in der DDR noch warten. Wir mussten nach 1945 nicht bei Null beginnen. Der Zusammenarbeit unter den demokratischen Parteien nach dem Zusammenbruch des Naziregimes ging die Gemeinsamkeit des deutschen Widerstandes voraus. Deshalb gründet unsere freiheitlich demokratische Grundordnung im Widerstand gegen die braune Diktatur. Unser Grundgesetz knüpft in wesentlichen Zügen an Grundgedanken der Mitglieder des Widerstandes an. Die Theorie von der Restauration, die nach 1945 stattgefunden habe, ist geschichtlich nicht haltbar.
2. Indem die Frauen und Männer des 20. Juli sich für die Rechte und die Freiheit ihres Volkes opferten, haben sie das christliche Gebot der Stellvertretung befolgt. Sie haben stellvertretend gehandelt, hoffnungsgebend für diejenigen, die durch staatliche oder gesellschaftliche Gewalt gehindert sind, frei zu reden und zu handeln. Wir Deutsche sollten vielleicht mehr als andere wissen, wohin Gewalt und Terror und das Schweigen beim Anblick von Unmenschlichkeit führen. Wir sollten deshalb nicht zur Tagesordnung übergehen, wenn Mitmenschen gequält und verfolgt werden. Der 20. Juli 1944 muss uns ein Mahnmal bleiben, uns für die Verwirklichung der Menschenrechte weltweit einzusetzen und eine friedliche, gerechte und solidarische Ordnung unseres Zusammenlebens auch in Zukunft zu garantieren. Wir müssen stellvertretend handeln mit den Mitteln, die uns zur Verfügung stehen. Der Heilige Basilius sagte einmal: „Kämpft für die Völker und seht nicht allein auf euch, die ihr im windstillen Hafen seid und die die Gnade vor allem Ungestüm der bösen Geister bewahrt hat.“
Es gibt ein zweites Datum der jüngsten deutschen Geschichte, das belegt, dass Deutsche bereit waren, für Freiheit und Gerechtigkeit ihr Leben zu wagen: Der Aufstand am 17. Juni 1953 in der DDR.
Die Geschichte lehrt uns, dass Diktaturen vergänglich sind; sie lehrt auch, dass neue entstehen können. Auch heute werden Freiheit, Menschenrechte und Frieden durch totalitäre Systeme bedroht, die heute unseren Widerspruch und Widerstand herausfordern. Dies gilt für linke wie für rechte Diktaturen gleichermaßen. Wir dürfen keine Anstrengung scheuen, unsere freiheitliche und soziale Gesellschaftsordnung nach innen und nach außen zu verteidigen. Der Widerstand der Männer und Frauen des 20. Juli entspricht der Bestimmung unseres Grundgesetzes, weil sich ihr Widerstand gegen ein unmenschliches Willkürregime richtete. Wer hingegen heute ein Recht auf Widerstand gegen unseren freiheitlichen Rechtsstaat fordert, wendet sich gegen die grundsätzliche Legitimität des in den Parlamenten und Parteien sich vollziehenden demokratischen Willensbildungsprozesses und verkehrt den Sinn des Artikels 20 Absatz 4 in sein Gegenteil. Unser Grundgesetz gibt ein Widerstandsrecht gegenüber denjenigen, die diese demokratische Grundordnung zerstören wollen. Es ist schwer vorstellbar, dass die am 20. Juli 1944 Beteiligten Verständnis für diejenigen aufbrächten, die einen deutschen Staat bekämpfen, der auf jenen demokratischen Prinzipien begründet wurde, für deren Wiederherstellung sie ihr Leben wagten und gaben.
3. Die Opfer des 20. Juli haben eine Orientierung vermittelt, indem sie geistige und moralische Verantwortung bewiesen haben. Sie glaubten an eine Zukunft inmitten des Zusammenbruchs. Dies ist eine Herausforderung an uns alle und besonders ein Appell an die Jugend. Richard von Weizsäcker sagte in seiner Rede anlässlich des 8. Mai 1985 vor dem Deutschen Bundestag: „Bei uns ist eine neue Generation in die politische Verantwortung hineingewachsen. Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird.“
Viele aus der jungen Generation machen den Älteren nicht zu Unrecht den Vorwurf, sie hätten sich zu oft dem Naziregime angepasst. Aber wie stark ist heute der Trend zur Anpassung? Wie viel schwieriger musste es damals gewesen sein – unter der Herrschaft der Diktatur – sich nicht angepasst zu haben? Die Älteren haben noch Tyrannei und Not erlebt. Ich selber auch noch am eigenen Leibe. Deswegen war die Freiheit für viele von uns ein elementares Erlebnis in einer neuen Gesellschaft. Sie ist heute für viele junge Menschen etwas Selbstverständliches. Das hat auch seine Gefahr. Rainer Kunze, der aus der DDR geflüchtete Schriftsteller, wurde einmal, kurz nachdem er in die Bundesrepublik Deutschland gekommen war, gefragt, was er denn von den bundesdeutschen Bürgern halte. Seine Antwort lautete: „Sie wissen nicht, was sie haben.“
Aber Recht haben auch diejenigen, die heute nicht nur Freiheit und Wohlstand bejahen und als selbstverständlich annehmen, sondern Fragen stellen, die darüber hinaus reichen, Fragen zum Beispiel nach dem Sinn der Politik, Fragen nach dem Sinn des Lebens. Ich meine, aus dem 20. Juli 1944 könnte sich für viele junge Menschen eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn und der Aufgabe ihres Lebens, das vor ihnen liegt, ergeben.
Drei Milliarden Menschen leben heute auf der Welt in Not und Unfreiheit und werden ihrer Menschenrechte, aber auch ihrer sozialen Rechte beraubt. Wir, die wir die Chance haben, in einer Demokratie zu leben, müssen diesen Menschen Glauben und die Hoffnung vermitteln, – im Sinne dieses von mir zitierten christlichen Gesetzes der Stellvertretung – dass eines Tages auch bei ihnen Freiheit und soziale Gerechtigkeit verwirklicht werden können. Dies können wir nur, wenn wir unseren eigenen demokratischen Ideale hochhalten und wissen, welche Werte sie haben, welche Werte wir verteidigen, wer diese Werte bedroht und wer unsere Freunde sind. Junge Menschen müssten sich eigentlich für die Aufgabe begeistern, sich in Form geistiger und politischer Auseinandersetzung dafür einzusetzen, Meter für Meter Unterdrückung der Menschenrechte, Folter, Unfreiheit und soziale Not zurückzudrängen und zu beseitigen. Der 20. Juli 1944 ist trotz seines aktuellen Scheiterns der Beweis dafür, dass Freiheit und Demokratie den Wind nicht im Gesicht, sondern im Rücken haben, und dass es sich lohnt und es eine Chance gibt, Unfreiheit und Diktatur eines Tages überall auf der Welt zu überwinden.
Der 20. Juli bedeutet deswegen auch eine Herausforderung an die Jugend in unserem Lande, eine Herausforderung, die sagt: Kauert nicht in den bequemen Nischen des privaten Glücks oder der Resignation, sondern kommt und arbeitet mit am Aufbau einer besseren, einer freieren und gerechteren Welt.
Ihre Ideen waren das Fundament eines neuen Aufbaus
Gedenkrede des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit Dr. Heiner Geißler am 20. Juli 1985 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin
Wenn wir die Opfer des 20. Juli ehren, dann ehren wir damit auch all jene, die dem Nationalsozialismus Widerstand geleistet haben und deren Namen nicht bekannt sind. Es gab Tausende, die in ihrem christlichen Glauben und ihrer Kirche treu blieben, an verbotenen Fronleichnamsprozessionen oder an Versammlungen der Bekennenden Kirche teilnahmen. Es gab viele Beamte, die lieber eine Strafversetzung in Kauf nahmen, als ihren Glauben zu verleugnen. Es gab unzählige Arbeiter, die ihren sozialistischen, christlichen und freien Gewerkschaften innerlich verbunden blieben und sich der Deutschen Arbeitsfront verweigerten. Es gab lauten Protest, und es gab stille Verweigerung. Es ist wichtig für unser Selbstverständnis und unsere Selbstachtung, dass nicht nur der Nationalsozialismus, den niemand verdrängen darf, sondern auch der Widerstand gegen Hitler Teil unserer Geschichte ist. Der Widerstand gegen Hitler ist Teil der Geschichte auch deswegen, weil grundlegende politische Ideen und Konzepte der Männer und Frauen, die von den Nazis umgebracht worden sind, Eingang in unsere verfassungsrechtliche Ordnung fanden.
1. Sie waren sich einig gegen ein „System des absoluten Staates“, wie es die Geschwister Scholl in einem Flugblatt der „Weißen Rose“ formulierten. Der Staat müsse ein Rechtsstaat sein.
„Die letzte Bestimmung des Staates ist es“, – so Graf Moltke – „der Hüter der Freiheit des Einzelmenschen zu sein. Dann ist es ein gerechter Staat.“
Es bestand weit gehende Übereinstimmung über die Notwendigkeit, politisches Handeln ethisch zu begründen und über die Ablehnung einer wertfreien Politik. Pfarrer Hans Schönfeld fasste die gemeinsame Überzeugung mit folgenden Worten zusammen: „Die grundlegenden Prinzipien nationalen und gesellschaftlichen Lebens müssen wieder ausgerichtet werden nach den Fundamentalsätzen christlichen Glaubens und Lebens.“
Die Verfassungspläne und Konzeptionen einer Neuordnung, waren sie auch von politisch noch so verschiedenen Mitgliedern des Widerstandes verfasst, hatten wesentliche Gemeinsamkeiten:
Sie alle wollten die Zukunft im Geiste der Freiheit und Menschlichkeit gestaltet sehen. Ihre politische Weitsicht und Zukunftsorientierung ging über die Beendigung des Krieges und der Wiederherstellung von Frieden, Recht und Ordnung weit hinaus. Ich will nur drei Beispiele tragender Zukunftsideen nennen, die bereits von Mitgliedern des Widerstandes entwickelt wurden:
- Den Gedanken der sozialen Marktwirtschaft. Der Freiburger Kreis zum Beispiel und die Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckenrath entwickelten ein ordnungspolitisches Konzept, das sowohl Kapitalismus als auch Kommunismus überwinden sollte, weil das eine die Gemeinschaft gegen den Einzelnen, das andere die Person gegen das Kollektiv ausspiele.
- Die Idee der Selbstverwaltung und der Subsidiarität haben alle Gruppen des Widerstandes verfolgt. Ihr Ziel war es, den einzelnen Bürger und die „kleinen Gemeinschaften“ verantwortlich am politischen Leben zu beteiligen.
- Die Vision eines vereinigten Europas. Sie hatten die Unzulänglichkeit des Nationalstaates als letzte internationale Instanz erkannt. Nicht mehr nationale Lebensfragen, sondern internationale Überlebensfragen waren Mittelpunkt ihres außenpolitischen Denkens. Carl Goerdeler spricht zum Beispiel in seiner zweiten Denkschrift „Der Weg“ von einem europäischen Bund selbständiger und gleichberechtigter Staaten, den es zu schaffen gelte.
Der Grundkonsens über eine freiheitlich demokratische Ordnung ist ein wichtiges Vermächtnis der Opfer des 20. Juli. Ihr Widerstand und ihre Ideen waren das Fundament eines neuen Aufbaus, zu dem wir in der Bundesrepublik Deutschland die Chance hatten, und auf den unsere Landsleute in der DDR noch warten. Wir mussten nach 1945 nicht bei Null beginnen. Der Zusammenarbeit unter den demokratischen Parteien nach dem Zusammenbruch des Naziregimes ging die Gemeinsamkeit des deutschen Widerstandes voraus. Deshalb gründet unsere freiheitlich demokratische Grundordnung im Widerstand gegen die braune Diktatur. Unser Grundgesetz knüpft in wesentlichen Zügen an Grundgedanken der Mitglieder des Widerstandes an. Die Theorie von der Restauration, die nach 1945 stattgefunden habe, ist geschichtlich nicht haltbar.
2. Indem die Frauen und Männer des 20. Juli sich für die Rechte und die Freiheit ihres Volkes opferten, haben sie das christliche Gebot der Stellvertretung befolgt. Sie haben stellvertretend gehandelt, hoffnungsgebend für diejenigen, die durch staatliche oder gesellschaftliche Gewalt gehindert sind, frei zu reden und zu handeln. Wir Deutsche sollten vielleicht mehr als andere wissen, wohin Gewalt und Terror und das Schweigen beim Anblick von Unmenschlichkeit führen. Wir sollten deshalb nicht zur Tagesordnung übergehen, wenn Mitmenschen gequält und verfolgt werden. Der 20. Juli 1944 muss uns ein Mahnmal bleiben, uns für die Verwirklichung der Menschenrechte weltweit einzusetzen und eine friedliche, gerechte und solidarische Ordnung unseres Zusammenlebens auch in Zukunft zu garantieren. Wir müssen stellvertretend handeln mit den Mitteln, die uns zur Verfügung stehen. Der Heilige Basilius sagte einmal: „Kämpft für die Völker und seht nicht allein auf euch, die ihr im windstillen Hafen seid und die die Gnade vor allem Ungestüm der bösen Geister bewahrt hat.“
Es gibt ein zweites Datum der jüngsten deutschen Geschichte, das belegt, dass Deutsche bereit waren, für Freiheit und Gerechtigkeit ihr Leben zu wagen: Der Aufstand am 17. Juni 1953 in der DDR.
Die Geschichte lehrt uns, dass Diktaturen vergänglich sind; sie lehrt auch, dass neue entstehen können. Auch heute werden Freiheit, Menschenrechte und Frieden durch totalitäre Systeme bedroht, die heute unseren Widerspruch und Widerstand herausfordern. Dies gilt für linke wie für rechte Diktaturen gleichermaßen. Wir dürfen keine Anstrengung scheuen, unsere freiheitliche und soziale Gesellschaftsordnung nach innen und nach außen zu verteidigen. Der Widerstand der Männer und Frauen des 20. Juli entspricht der Bestimmung unseres Grundgesetzes, weil sich ihr Widerstand gegen ein unmenschliches Willkürregime richtete. Wer hingegen heute ein Recht auf Widerstand gegen unseren freiheitlichen Rechtsstaat fordert, wendet sich gegen die grundsätzliche Legitimität des in den Parlamenten und Parteien sich vollziehenden demokratischen Willensbildungsprozesses und verkehrt den Sinn des Artikels 20 Absatz 4 in sein Gegenteil. Unser Grundgesetz gibt ein Widerstandsrecht gegenüber denjenigen, die diese demokratische Grundordnung zerstören wollen. Es ist schwer vorstellbar, dass die am 20. Juli 1944 Beteiligten Verständnis für diejenigen aufbrächten, die einen deutschen Staat bekämpfen, der auf jenen demokratischen Prinzipien begründet wurde, für deren Wiederherstellung sie ihr Leben wagten und gaben.
3. Die Opfer des 20. Juli haben eine Orientierung vermittelt, indem sie geistige und moralische Verantwortung bewiesen haben. Sie glaubten an eine Zukunft inmitten des Zusammenbruchs. Dies ist eine Herausforderung an uns alle und besonders ein Appell an die Jugend. Richard von Weizsäcker sagte in seiner Rede anlässlich des 8. Mai 1985 vor dem Deutschen Bundestag: „Bei uns ist eine neue Generation in die politische Verantwortung hineingewachsen. Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird.“
Viele aus der jungen Generation machen den Älteren nicht zu Unrecht den Vorwurf, sie hätten sich zu oft dem Naziregime angepasst. Aber wie stark ist heute der Trend zur Anpassung? Wie viel schwieriger musste es damals gewesen sein – unter der Herrschaft der Diktatur – sich nicht angepasst zu haben? Die Älteren haben noch Tyrannei und Not erlebt. Ich selber auch noch am eigenen Leibe. Deswegen war die Freiheit für viele von uns ein elementares Erlebnis in einer neuen Gesellschaft. Sie ist heute für viele junge Menschen etwas Selbstverständliches. Das hat auch seine Gefahr. Rainer Kunze, der aus der DDR geflüchtete Schriftsteller, wurde einmal, kurz nachdem er in die Bundesrepublik Deutschland gekommen war, gefragt, was er denn von den bundesdeutschen Bürgern halte. Seine Antwort lautete: „Sie wissen nicht, was sie haben.“
Aber Recht haben auch diejenigen, die heute nicht nur Freiheit und Wohlstand bejahen und als selbstverständlich annehmen, sondern Fragen stellen, die darüber hinaus reichen, Fragen zum Beispiel nach dem Sinn der Politik, Fragen nach dem Sinn des Lebens. Ich meine, aus dem 20. Juli 1944 könnte sich für viele junge Menschen eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn und der Aufgabe ihres Lebens, das vor ihnen liegt, ergeben.
Drei Milliarden Menschen leben heute auf der Welt in Not und Unfreiheit und werden ihrer Menschenrechte, aber auch ihrer sozialen Rechte beraubt. Wir, die wir die Chance haben, in einer Demokratie zu leben, müssen diesen Menschen Glauben und die Hoffnung vermitteln, – im Sinne dieses von mir zitierten christlichen Gesetzes der Stellvertretung – dass eines Tages auch bei ihnen Freiheit und soziale Gerechtigkeit verwirklicht werden können. Dies können wir nur, wenn wir unseren eigenen demokratischen Ideale hochhalten und wissen, welche Werte sie haben, welche Werte wir verteidigen, wer diese Werte bedroht und wer unsere Freunde sind. Junge Menschen müssten sich eigentlich für die Aufgabe begeistern, sich in Form geistiger und politischer Auseinandersetzung dafür einzusetzen, Meter für Meter Unterdrückung der Menschenrechte, Folter, Unfreiheit und soziale Not zurückzudrängen und zu beseitigen. Der 20. Juli 1944 ist trotz seines aktuellen Scheiterns der Beweis dafür, dass Freiheit und Demokratie den Wind nicht im Gesicht, sondern im Rücken haben, und dass es sich lohnt und es eine Chance gibt, Unfreiheit und Diktatur eines Tages überall auf der Welt zu überwinden.
Der 20. Juli bedeutet deswegen auch eine Herausforderung an die Jugend in unserem Lande, eine Herausforderung, die sagt: Kauert nicht in den bequemen Nischen des privaten Glücks oder der Resignation, sondern kommt und arbeitet mit am Aufbau einer besseren, einer freieren und gerechteren Welt.