Der Ort des vielfachen Todes und die Botschaft vom Leben

Wolfgang H. Neumann

Der Ort des vielfachen Todes und die Botschaft vom Leben

Predigt von Pfarrer Wolfgang H. Neumann am 20. Juli 1983 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Losung: „Höret dies, die ihr die Armen unterdrückt und die Elenden im Lande zugrunde richtet und sprecht: Wann will denn der Neumond ein Ende haben, dass wir Getreide verkaufen, und der Sabbat, dass wir Korn feilhalten können und das Maß verringern und den Preis steigern und die Waag fälschen? Der Herr hat bei sich geschworen: Niemals werde ich diese Taten vergessen!“

Amos 8, 4.5.7

Lehrtext: „Was hilft es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber dabei sein Leben einbüßt?“

Matth. 16,26

Liebe Gemeinde!

In dieser Stunde konfrontieren wir diesen Ort, an dem Sie sich Jahr für Jahr versammeln und der mit seiner Erinnerung so viel Schreckliches wieder hochkommen lässt, mit der Botschaft der Bibel, mit einem Wort aus dem Alten und einem aus dem Neuen Testament.

Wie schwer vertragen sich der Ort des vielfachen Todes und die Botschaft vom Leben, das uns die Bibel verheißt! Wie sehr stehen wir in dem Widerspruch zwischen dem, was Gott uns verheißen hat und dem, was die Menschen daraus gemacht haben. Gebote, Ordnungen, Rahmenbedingungen für unser Leben hat Gott uns entworfen und zugedacht. Schon sehr früh aber haben Menschen es erreicht, um der eigenen Vorteile, um der Macht willen, Gottes Gebote ins Gegenteil zu verkehren. Propheten sind dagegen aufgestanden, haben mutig und gerade heraus Gottes Willen verkündigt. Sie haben Dinge auch in allen Einzelheiten beim Namen genannt, und einer der deutlichsten von ihnen war Amos. Er nennt hier ein Beispiel, wie reiche Leute im Lande ganz besonders darauf aus waren, die Gebote und Ordnungen zu umgehen; wie sie nur darauf warteten, dass der Ruhetag zu Ende geht und sie mit Handel und Wandel gleich auch andere betrügen und austricksen können. Das alles, so sagt er, kann nicht Gottes Wille sein. Das alles kann Gott nicht gleichgültig sein. Gott als Herr der Geschichte konnte nicht einfach zusehen, wie seine Schöpfung durch Menschen verfiel und zerfiel. So wie Martin Luther sagt:

„Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat und noch erhält“, so lässt Gott das Schicksal seiner Schöpfung in der Tat nicht kalt. Er wird Zeuge, wie Menschen schuldig werden, nicht einfach an der Erde als anonymer Größe, sondern wie sie schuldig werden an den anderen Menschen, wie der Mensch Züge von Gewalt entwickelt und sie gegen den Mitmenschen richtet.

Uns schrecken die großen Gewalttaten, die Vernichtung von unzähligen Menschenleben gerade in diesem Jahrzehnt, und gerade in den Diktaturen dieser Erde, von denen der Faschismus eine war, aber nicht die letzte blieb.

Gewalt nach innen und Gewalt nach außen, Gewalt gegen den Einzelnen, Gewalt gegen ganze Gruppen gleicher Herkunft oder gleicher Gesinnung. Die Beispiele sind endlos. Das macht uns bitter, und das könnte uns mutlos machen. Aber gerade da, wo das Leid, der Schrecken am größten sind, gibt es auf wundersame Weise Hoffnung. Hier treffen tödliche Sicherheit und lebendige Zeichen aufeinander. Hier wächst auf einmal Kraft, angesichts des Unfassbaren nicht zu verzweifeln.

Und auch hier – im Großen wie im Kleinen: in der Einsamkeit der Todeszelle wie im Angesicht der düsteren Perspektiven für unsere Welt, die uns gemeinsam betreffen – es entsteht Hoffnung. Hoffnung, die uns stärker macht, als wir es je voraussehen oder uns zutrauen konnten. Hoffnung, die Zeichen setzt und Vorbild wird für andere, die zum Mitdenken, zum Mithandeln Mut macht.

Zu diesem großen Stück Hoffnung können wir auch sagen: Das ist der eigentliche Weg zum Leben. Alle Schätze der Erde erstreben, sich bereichern, gar mit unlauteren Mitteln; Menschen und Völker ausrotten, um Macht und Lebensraum zu vergrößern, das ist der Weg des Todes. Jesus sagt: „Was hilft es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber dabei sein Leben einbüßt?“ Wir können diese Erde nicht für uns gewinnen. Wir können, wir müssen sie erhalten, wir müssen ihr mit Ehrfurcht begegnen, denn die Erde, das ist Gottes Schöpfung, das sind vor allem Gottes Geschöpfe. Deshalb ist der Weg zum Leben ein Weg in der Verantwortung. Wir sind nicht die gleichgültig oder resigniert Danebenstehenden, wir sind stets die Mitbetroffenen, die Mitentscheidenden über Wohl und Wehe unserer Welt.

Die Botschaft der Bibel ist eine Botschaft gegen die Angst, eine Botschaft des Friedens: Fürchtet euch nicht, Friede auf Erden. Was uns zugesagt ist, das fällt uns nicht in den Schoß, je länger desto weniger. Es muss Gegenstand unserer Sorge sein, wenn wir es wirklich erhalten wollen. Die Botschaft braucht Botschafter, will sie gehört und verstanden werden. Das haben die über 100.000 Menschen begriffen, die sich vor einigen Wochen in Hannover auf dem Kirchentag versammelt haben, und mit ihnen viele Christen in unserem Land. Botschaft des Friedens heißt konkret: Es ist eine Botschaft des Vertrauens. Eins der Lieder, die wir auf dem Kirchentag gesungen haben, heißt: Wo ein Mensch Vertrauen schenkt, nicht nur an sich selber denkt, fällt ein Tropfen von dem Regen, der aus Wüsten Gärten macht.

Was für ein anschauliches Bild! Eins, das uns zurückführt zur Schöpfungsgeschichte. Die Welt begann nach dem 2. Schöpfungsbericht damit, dass der Nebel die Erde befeuchtet und Gott damit Leben möglich machte für Pflanze, Mensch und Tier. Eins, das uns zurückführt zu den Beispielen, wie einer oder viele widerstanden haben gegen die menschenvernichtende Blindheit und geistige Verarmung.

Und ein Bild, das unsere Hoffnung begründet, denn der Tropfen des Einzelnen verdunstet nicht in der heißen Wüste, der Mut und die Entschlossenheit des Einzelnen bleibt nicht ohne Wirkung. Christus gibt sein Werk in unsere Hände und vertraut es uns an. Er segnet unsere kleinen Anfänge. So entstehen kleine Pflanzen mitten im trockenen Sand. So bleibt die Hoffnung wach, die aus der Wüste fruchtbares Land macht, vielleicht gar einen Garten.

Amen.






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