Die Gefahren des Gedenkens

Karl Meyer

Die Gefahren des Gedenkens

Predigt von Pater Dr. Karl Meyer am 20. Juli 1983 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Predigttext: Mt. 23, 29-31:

Jesus sprach: Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr errichtet den Propheten Grabstätten und schmückt die Denkmäler der Gerechten und sagt dabei: Wenn wir in den Tagen unserer Väter gelebt hätten, wären wir nicht wie sie am Tod der Propheten schuldig geworden. Damit bestätigt ihr selbst, dass ihr die Söhne der Prophetenmörder seid.

Liebe Schwestern und Brüder, verehrte Gäste!

An wen ist diese harte Rede gerichtet?

Dieses harte Wort ist zuerst an den Prediger gerichtet, der den Text ausgewählt hat. Nur ein Mensch, der unter das Wort Gottes gestellt ist und darunter bleibt, darf andere unter das Wort stellen. Nur einer, der das Gericht über sich selbst annimmt, darf hoffen, dass andere das richtende Wort als rettendes Wort verstehen.

Das Wort ist dann an alle Leute aus gutem und frommem Hause gerichtet, denn die Pharisäer und Schriftgelehrten waren gute und fromme Menschen, und sie lebten in guten Familien. Es will diesen Menschen eine Gefährdung vor Augen führen, der sie erliegen können.

Das Wort ist an die Jüngeren unter uns gerichtet, die vor 40 - 50 Jahren noch nicht ihre Entscheidung treffen konnten, die in das Schicksal so oder so hineingezogen wurden. Es ist an die jungen Menschen gerichtet, die das Dritte Reich nicht mehr bewusst miterlebt haben und die sich jetzt fragen, wie das alles nur kommen konnte, wie solch Schreckensherrschaft sich in Deutschland ausbreiten konnte. Man hätte ihr doch widerstehen müssen!

Warum wird dieses Wort am heutigen Gedenktag gewählt?

Weil der Text von den Gefahren des Gedenkens spricht.

Dieser Gedenktag hat es zudem mit Propheten zu tun, mit Menschen, die unbedingt grundlegende Werte, die Gott in den Menschen hineingelegt hat, verteidigen wollten und verteidigt haben.

Dieser Text steht mit Recht beim Gottesdienst am Beginn eines nationalen Gedenktages. Staatliche und nationale Feiern müssen die Identifikation mit den Opfern der Gewalt und den Abscheu vor den Gewalttätern fördern.

In der kirchlichen Feier aber muss die heimliche Gefahr solch eines Vorgehens noch einmal bewusst gehalten werden. Denn die Kirche soll nicht nur vor den Richtstuhl der Geschichte führen, sondern die Menschen vor die letzte Instanz führen, vor Gott selbst.

„Lebendig ist das Wort Gottes, kraftvoll und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, ...es richtet über die Gedanken und Regungen des Herzens“, sagt der Hebräerbrief (Hebr. 4,12).

Was aber greift Jesus derart hart an?

Jesus geißelt bei den Pharisäern und Schriftgelehrten die Heuchelei.

Was ist Heuchelei?

Sie ist unwahrhaftiges Verhalten. Und dieses unwahrhaftige Verhalten braucht nicht einmal bewusst zu sein. Es kann sich um eine Unwissenheit des Herzens handeln, durch die man überhaupt nicht mehr hinter die Verlogenheit seines Handelns kommt. Die Pharisäer möchten ja gute Menschen sein, sie empfinden Abscheu vor dem Verhalten ihrer Voreltern, sie können es nicht begreifen, wie so etwas geschehen konnte. Sie weisen es weit von sich, je so etwas zu tun.

Es ist auch in uns ein tiefes Gefühl dafür da, dass das Dritte Reich eine Epoche der Unmenschlichkeit war, und all unsere besten Kräfte erheben sich, wenn jemand auch für unsere Tage solches als möglich ansehen sollte.

Dieser Wunsch führt aber leicht dazu, dass wir immer mehr einem Unschuldswahn erliegen, dass wir unsere Herkunft, die negativen Seiten unseres Charakters, die dunklen Punkte unserer Biographie, die ein Versagen unter schwierigen Bedingungen eigentlich schon voraussehen lassen, nicht wahrhaben wollen und es vor unseren Augen verbergen.

Solches Denken offenbart jedoch eine tiefe Unwissenheit des Menschen über sich selbst. Gerade das ist ein Zeugnis dafür, dass solch ein Mensch zu allem fähig ist. Und unsere Erfahrung belegt das: Menschen, die sich vorher oder nachher als normale, anständige, freundliche Bürger zeigen, sind unter den Verbrechern der totalitären Regime.

Es ist nicht einfach, gute menschliche Wege zu gehen. Es ist nicht einfach, die Wege Gottes zu gehen und in der Nachfolge Jesu zu stehen. Vieles ist hilfreich dafür, gewiss hilft einem der Hintergrund einer frommen Familie, von Menschen, die ein Gespür haben für Menschlichkeit. Aber all das ist keine Garantie.

Auch die eigene Begeisterung trägt nicht weit genug. Das zeigt uns das Beispiel von Petrus. Jesus sagt zu ihm:

„Simon, Simon, der Satan hat danach verlangt, euch zu sieben wie Weizen. Ich aber habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht erlischt. Und wenn du dich dann bekehrt hast, dann stärke deine Brüder.„ (L k 22, 31 f. )

Petrus ist mit solch einem bescheidenen Anspruch an ihn nicht zufrieden, sein Leben will er für Jesus einsetzen, aber noch in derselben Nacht hat er ihn dreimal verleugnet.

Dieser Tage habe ich zwei schöne Gemälde gesehen, die Petrus und Paulus darstellen: Paulus mit dem Buch und mit dem Schwert als Zeichen des Martyriums, Petrus dagegen nicht – wie erwartet – mit dem Schlüssel, sondern über seine Verleugnung weinend. Der Fels der Kirche ist der, der seine Schuld anerkennt und bereut und dem Gott die Schuld vergibt. So stützt Petrus unsern schwachen Glauben.

Haben nicht auch viele der Männer und Frauen, die ihr Leben gegen die Barbarei eingesetzt und verloren haben, manches in ihrem Leben als Verrat an der Menschlichkeit und als Ungehorsam gegen Gottes Gebot angesehen? Zeugnisse der Demut und der Einsicht in die Verstrickung in Schuld sind uns überliefert, Zeugnisse, geboren aus dem Vertrauen in den vergebenden und treuen Gott, und so stärken sie mit ihrem Zeugnis unseren Glauben.

Wir müssen uns fragen: Sind wir dieser Männer und Frauen würdig? Dürfen wir einfach ihr Gedächtnis feiern, uns leichthin auf ihre Seite stellen? Hätten wir im Ernstfall auf ihrer Seite gestanden? Würden wir im Ernstfall auf der Seite der Entrechteten stehen?

Die katholischen Bischöfe haben 1945 bekannt:

„Viele Deutsche, auch aus unseren Reihen, haben sich von den falschen Lehren des Nationalsozialismus betören lassen, sind bei den Verbrechen gegen menschliche Freiheit und menschliche Würde gleichgültig geblieben, viele leisteten durch ihre Haltung den Verbrechen Vorschub, viele sind selbst Verbrecher geworden...“ (Hirtenbrief vom 23. August 1945) und wir fragen uns:

Sind wir entschieden und nicht gleichgültig?

Leisten wir möglicherweise auch Verbrechen Vorschub?

Auch der Rat der EKD hat 1945 in Stuttgart ein Bekenntnis abgelegt, aus dem sich uns die Fragen stellen: Bekennen wir mutig? Beten wir treu? Glauben wir fröhlich? Lieben wir brennend? Mutig genug, fröhlich genug, brennend genug, treu genug, in einer Zeit, in der wir nicht sehr behindert sind? Reicht es aus als Voraussetzung für eine Zeit der Bedrängnis oder auch für die Beantwortung eigener lebensentscheidender Fragen?

Ich kann diese Fragen für mich nicht mit Ja beantworten. Wir werden demütig sein müssen vor unserem Gott, der uns aus dem Versinken in die Unmenschlichkeit in all ihren Formen herausreißt.

Wenn wir als Christen diesen 20. Juli 1983 begehen, im Jahr der 50. Wiederkehr der Machtergreifung derer gedenken, die widerstanden haben, dann in Furcht und Zittern über unsere dunklen Möglichkeiten, wenn wir in Bedrängnis geraten sollten, dann in großer Demut und in großem Vertrauen auf Gott, von dem wir alles erwarten dürfen, auch die Kraft in der Schwachheit, dann in großer Dankbarkeit für das, was Gott in unseren Vätern an Menschlichkeit und Mut und Ertragen von Unmenschlichkeit gewirkt hat, dann in großer Dankbarkeit dafür, dass Gott sie gewürdigt hat, in das Todesschicksal seines Sohnes, das sich in der Auferstehung vollendete, einzutreten.

Vor dem Altar steht eine Kerze. Sie verweist auf Jesus, der gesagt hat: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben.“ (Joh. 8,12).

Vor dem Altar liegt eine Weinrebe. Sie erinnert an das Wort Jesu: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht; denn getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen.“ (Joh.15,5)

Gott führe auch uns in die Nachfolge seines Sohnes, um des Lebens so vieler Menschen willen.

Amen.






Weitere Reden

20.07.1983
Dr. h.c. Manfred Rommel
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