Der Widerstand repräsentierte das Deutschland der Freiheit, des Geistes und des Rechtes.

Fritz Erler

Der Widerstand repräsentierte das Deutschland der Freiheit, des Geistes und des Rechtes.

Ansprache des Bundestagsabgeordneten Fritz Erler am 19. Juli 1962 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Herr Bürgermeister, meine sehr verehrten Damen und Herren,

liebe Gäste und liebe Freunde!

Sie erwarten sicher nicht, dass ich an dieser Stelle versuche, eine Chronik der Geschichte des 20. Juli 1944 zu zeichnen; die Ereignisse sind den meisten der hier Anwesenden nur noch allzu gut in Erinnerung. Die Inschrift in dieser Mauer zeugt davon, dass wir es beim 20. Juli 1944 ohnehin nicht mit einem vereinzelten Ereignis zu tun haben, sondern mit dem sichtbarsten Ausdruck des jahrelangen Opferganges der Besten unseres Volkes. Ich möchte heute versuchen, einige wesentliche Züge, die den Arbeiten des Widerstandes gemeinsam waren, herauszuarbeiten und ähnlich, wie es der Herr Senator Albertz auch getan hat, einige Lehren für die Gegenwart herauszuziehen.

Wenn ich daran erinnern darf, dass es vor dem 20. Juli 1944 einmal, vor nunmehr 30 Jahren, einen 20. Juli 1932 gegeben hat, der auch in einer bestimmten Weise zusammenhängt mit den Geschehnissen der darauffolgenden Jahre, dann wissen wir, dass es darauf ankommt, die Demokratie zu schützen, und zwar nicht nur in guten Zeiten. Es ist einfach, wenn man hinweisen kann auf die Überlegenheit einer Ordnung mit dem vermeintlich höherem Lebensstandard. Es wird schwierig, wenn es stürmt! Wenn der Schutz der Demokratie gefährlich wird, wenn sie umkämpft ist! Freiheit, Menschenwürde und Gerechtigkeit sind uns höhere Güter als der Lebensstandard allein, und diese drei Werte gehören zusammen. Wer einen von ihnen aufgibt, der verliert auch die anderen. Das haben wir alle in der bitteren Folge im Jahre 1933 erlebt. Damals hat unser Volk die innere Freiheit verloren; zum Teil wurde sie nahezu verächtlich weggeworfen, und damit wurde der Weg in die Katastrophe und in das Elend bereitet mit all den bitteren Folgen bis zur Mauer in Berlin. Eine späte Folge auch jenes Ereignis. Das alles geschah trotz des scheinbaren Glanzes am Beginn jener Jahre nach 1933. Die Lehre daraus: Auch die Demokratie muss wehrhaft sein, die Freiheit kostet ihren Preis.

Nach außen hat sich dafür in unserem Volke trotz mancher widrigen Umstände verhältnismäßig leicht Verständnis gefunden. Haben wir dieses Verständnis für die Wehrhaftigkeit der Demokratie nach innen auch? Das ist nicht allein eine Sache der Staatsorgane, etwa der Polizei, der Justiz, der bewaffneten Macht; das ist eine Sache des einzelnen Bürgers, der eintreten muss für seinen Staat und für seine höchstpersönliche Freiheit. Der wissen muss, dass Rechte verwirkt werden, wenn man sie nicht in Anspruch nimmt, dass aber auch den Rechten des demokratischen Bürgers die Pflichten entsprechen, und zwar nicht nur die in den Gesetzen niedergelegten Pflichten, sondern auch die Bürgertugend, dann für die Freiheit gerade zu stehen, wenn kein gesetzliches Aufgebot zu ihrem Schutze ergeht, beizeiten zu handeln, Anfänge böser Entwicklungen beizeiten zu wehren. Ist es nicht so, dass die Weimarer Demokratie unter anderem daran zugrunde gegangen sein mag, dass es nicht genug bewusste Demokraten gegeben hat, dass es zu wenig innere Verbindungen zu dem damaligen Staate in unserem Volke gegeben hat? Die Weimarer Demokratie hatte es zu tun mit einer verhältnismäßig kleinen, aber energisch handelnden Truppe extremer Gegner zur Linken und Rechten. Sie verfügte leider nur über verhältnismäßig wenig tatkräftige, aktive Stützen in unserer Bevölkerung, und die große Masse unseres Volkes stand relativ tatenlos und gleichgültig dem Ringen der anderen beiden kleineren Gruppen gegenüber. Daher leitet sich in dieser Stunde für uns die Aufgabe ab, für eine innere Verbindung zu sorgen zwischen dem Bürger und seinem Staate.

Unser Volk hat schon ein erhebliches Stück des Weges zurückgelegt, aber diesen Weg müssen wir weitergehen; er führt vom Untertanen zum Staatsbürger. Wir alle wollen doch, dass auch einmal in unserem deutschen Volke jenes stolze Wort gesprochen werden kann, das man in der Schweiz spricht, wenn der Schweizer Bürger an die Wahlurnen gerufen wird, um ein Parlament zu wählen oder über ein Gesetz abzustimmen. Dann sagt man in der Schweiz: „Es handelt sich um den Ruf an den Souverän.“ Der Souverän, das ist nicht die Regierung, das ist nicht das Staatsoberhaupt oder der Regierungschef, der Souverän, das ist die Gesamtheit der wahlberechtigten Bürger des Landes. Dieses stolze Gefühl, Souverän zu sein, schafft erst das richtige Fundament, um auch in Stürmen und Gefahren die Freiheit gegen jedermann zu schützen. Dazu gehört etwas, was heute landauf, landab in unserem Lande diskutiert wird, das hier zu erwähnen beinahe vermessen klingen mag; ich wage es dennoch. Wir Älteren – zu denen nun auch leider ich langsam zähle – müssen noch mehr als bisher uns kümmern um jene politische Bildung, die aus dem heranwachsenden jungen Bürger den selbstbewussten Souverän macht. Das heißt nicht Vermittlung von Stoff, das heißt nicht Abrichten von ganz bestimmten technischen Aufgaben, sondern das heißt vor allem die Tätigkeit zum Engagement wecken, den Willen und die Fähigkeit wecken, sich eine eigene Meinung zu erarbeiten und zu dieser Meinung auch zu stehen, den Mut zum Bekenntnis zu haben. Ohne diesen Mut wird die Demokratie nicht von ihren Bürgern getragen werden können. Der reine Sachverständige, der sogenannte unpolitische Sachverständige, manches Mal so sehr gerühmt gegenüber dem politischen Treiben der Tage, der reine Sachverständige mag seine Logarithmentafel nahezu auswendig kennen. Wenn er nichts ist als ein Sachverständiger und nicht den Überblick über das Ganze und den Mut zum Engagement hat, dann ist er unter Umständen willkommener Rohstoff für jede Form der Gewaltherrschaft.

Die gemeinsam erlittene Verfolgung jener blutigen Jahre hat uns zusammengeschmolzen. Es ist eine bittere Wahrheit, und dennoch sollten wir uns ihrer erinnern, dass das nicht immer so war. Mancher wehrte sich erst, als in seine Rechte und in seine Interessen eingegriffen wurde; das Schicksal des Nachbarn ließ ihn im Anfange kalt. So mancher glaubte, 1933 eine bessere Ordnung entstehen zu sehen. Es gab keine Streiks mehr in unserem Lande, keine Unruhe. Man ging der Arbeitslosigkeit zu Leibe, die Wirtschaft wurde angekurbelt, die kommunistische Gefahr galt als abgewendet, obwohl wir sie langfristig als Ergebnis jener Jahre mitten im Herzen unseres Landes heute haben. Die Schreie der damals geschundenen Sozialdemokraten und auch der Kommunisten wurden in der Frühzeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft von vielen noch überhört, obwohl geschrieben steht: Was Du Deinem Nächsten antust, das hast Du mir getan.

Jenes große Wort erinnert mich an ein anderes sehr weltliches Wort. Ein politisches Wort, dennoch ein großartiges, nämlich dass die Freiheit immer die Freiheit des Andersdenkenden sei, nicht nur die eigene. Das Wort stammt von einer Frau: von Rosa Luxemburg. Eine Frau, die sehr viel in ihrem Leben geirrt hat, die damals eine große Gegnerin Lenins war innerhalb der kommunistischen Bewegung ihrer Zeit. Ich nenne diese Namen heute ganz bewusst an diesem Tage und an dieser Stelle, weil Veröffentlichungen der jüngsten Wochen uns immer wieder zu der Erkenntnis bringen sollten, dass die Notwehr eines gequälten Volkes gegen den Tyrannismus etwas völlig anderes ist als der schmähliche Mord an wehrlosen Gefangenen.

Meine Damen und Herren! Ich nannte – und das wird Sie in dieser Stadt angesichts der Mauer wahrscheinlich verwundern – auch die Schreie von Kommunisten des Jahres 1933. Trotz des Schreckensregimes jenseits der Mauer dürfen wir ihre Teilnahme am Widerstand nicht einfach verschweigen. Die Willkürherrschaft schreibt die Geschichte nach Bedarf des Tages neu, die Freiheit hält es immer mit der Wahrheit und der Gerechtigkeit. Nur ein geringer Teil jener Männer stritt damals dafür, die eine Gewaltherrschaft lediglich durch eine andere ähnliche zu ersetzen. Es gab auch dort viel Idealismus, Mut und Opferbereitschaft im Glauben an eine vermeintlich bessere Ordnung. Tausende kamen, und Tausende wurden von ihrer Führung in sinnlose Abenteuer verstrickt. Von den überlebenden Altkommunisten jener Zeit sind nur ganz wenige in den Dienst der neuen Gewaltherrschaft getreten und haben damit einen Teil ihres Lebens von einst in Wahrheit ausgelöscht. Für die meisten hingegen ist das Ulbricht-Regime Verrat an alten Idealen. Sie sind verbittert, geflohen, verfolgt und geschunden und mancher von ihnen heute erneut drüben hinter Gittern, und mancher Lebensweg weist ähnliche Züge auf wie der von ehemals gläubigen Nationalsozialisten, welche die Erkenntnis der Verbrechen und die Not des deutschen Vaterlandes in die Reihen des aktiven Widerstandes geführt hat.

Ich sagte, dass erst gemeinsame Not, gemeinsamer Widerstand und gemeinsame Verfolgung damals Brücken geschlagen haben, die vordem leider nicht bestanden. Konservative, Liberale und Sozialisten, Katholiken, Protestanten und Freidenker und – solange es ging – auch unsere jüdischen Mitbürger, Nord- und Süddeutsche, Arbeiter, Offiziere und Beamte, sie alle wuchsen zu einer Not-, Kampf und Leidensgemeinschaft zusammen. Sie zeugte davon, dass wir ein Volk sind.

Freiheit und Menschenwürde sind dem Staate vorgegeben und stehen nicht zu seiner Disposition. Eine Ordnung, die Freiheit und Menschenwürde zerstört, widerspricht dem ewigen Sittengesetz und kann freie Menschen nicht in Pflicht nehmen. Widerstand gegen eine solche Ordnung ist nicht nur menschliches und göttliches Recht, sondern wird zur sittlichen Pflicht. Diese Gewissenspflicht ruft aber immer nur den Einzelnen. In meinem Gewissen spricht Gott mit mir, auch wenn ich ihn nicht erkenne, auch wenn ich ihn manchmal falsch verstehe. Widerstand kann nicht von Menschen befohlen werden. Wohl kann ich mich mit im gleichen Sinne Angerufenen verbinden, kann versuchen, andere Gewissen aufzurütteln, aber ich darf den Nächsten nicht über seine eigene Einsicht hinauszwingen.

Widerstand gegen jene Obrigkeit, wo er geboten und sittliche Pflicht geworden war, forderte den Höchstmaßstab in der Beurteilung der Reinheit der Motive und des legitim gewordenen Notwehrcharakters des Handelns. Man handelt – glaube ich – ungerecht gegenüber dem Verlauf der deutschen Geschichte, wenn man die bitterschwere Gewissensentscheidung der Auflehnung gegen die eigene Obrigkeit, die in dem Kämpfen der damaligen Zeit auch missdeutet werden konnte als Auflehnung gegen das eigene Volk, obwohl sie eine Auflehnung für das eigene Volk gewesen ist, in Parallele setzt mit dem Entschluss eines anderen Volkes, sich mit Gewalt und gestützt auf tatkräftige Freunde in der Welt gegen fremde Besatzung in Willkür zu setzen. Der Widerstand in Deutschland konnte sich nicht auf die Solidarität der ganzen Nation stützen. Jeder Einzelne stand zunächst für sich allein und hatte den bitteren Weg des Alleinseins zu gehen, bis er auf Gleichgesinnte stieß. Die von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft besetzten Völker haben im Ringen um ihre Freiheit bewunderungswürdige Opfer gebracht; der Gewissenskonflikt aber des deutschen Widerstandes blieb ihnen erspart. In Deutschland konnte nach 1933 aktiver Widerstand nicht nur um der Gefahren willen, sondern der schweren Gewissensentscheidung halber immer nur Sache einer kleinen Minderheit sein. Der Widerstand stieß nicht nur auf die verbrecherische Gruppe der Träger des Regimes, sondern auch auf die vielen Männer, die in alter Tradition Solidarität und Bürgerpflicht zu erfüllen glaubten, und auch auf jene, die in irregeleitetem Idealismus einer guten Sache und der Größe ihres Volkes zu dienen wähnten. Das gehört in die Kapitel der Geschichte jener Jahre hinein.

Der Widerstand repräsentierte das Deutschland der Freiheit, des Geistes und des Rechtes und damit schuf er die Grundlagen für das Vertrauenskapital einer neuen deutschen Demokratie. Mit dem Sturz der Gewaltherrschaft wuchs auch der frühere Widerstand – soweit er noch lebte – in viele Führungsaufgaben unseres Volkes hinein. Aber der Widerstand einst wurde doch nicht geleistet um einer Auszeichnung willen, um des Ruhmes oder gar der Karriere willen. Aber dem Bundesgerichtshof sei es auch gesagt, er wurde geleistet ohne Blicksicht auf die unmittelbaren Erfolgsaussichten. Es ging schlicht gegen Schande, Knechtschaft und um die Ehre und das Leben und die Freiheit unseres Volkes. Darin waren sich alle Beteiligten einig. Dies bindet heute noch.

Ein freies Deutschland muss die freie Aussprache, die Vielfalt der Meinung wirklich demokratischen Ringens kennen. Dazu gehört aber nicht die Verketzerung des anders denkenden demokratischen Landsmannes. Bittere Erfahrung hat uns gelehrt, dass dieser Staat unser aller Staat sein muss, den wir gemeinsam tragen, ob wir der Regierungs- oder der Oppositionspartei zuneigen. Es gibt zuweilen hartes Ringen um die Wege unserer Politik, aber wir wissen, nach dem schrecklichen Erlebnis zweier Gewaltherrschaften, dass uns alle miteinander mehr bindet als trennt. Demokratie ist duldsam. Sie braucht die freie Diskussion als Atemluft. Sie verfolgt keine Meinungen, auch seltsame nicht. Aber sie muss sich schützen, wenn seltsame Meinungen Handlungen zu werden drohen, welche die Freiheit gefährden. Das ist auch immer dann der Fall, wenn sich Gruppen bilden, welche versuchen, Befehlsgewalten abseits der Verantwortung der gewählten Regierungen zu schaffen. Zusammenschlüsse von Bürgern in einem freiheitlichen Staatswesen müssen selbst demokratisch organisiert sein. Totalitäre Organisationsformen sprengen die Demokratie, führen zu ungesetzlichen Befehlsverhältnissen außerhalb der staatlichen Ordnung, zerstören die Loyalität zum demokratischen Staat und fordern deshalb dessen Notwehr heraus. Welche rechtlich zulässige Form der Staat dieser Notwehr gibt, ist Sache der Zweckmäßigkeit und des politischen Ermessens.

In dieser Stadt, meine Damen und Herren, zeugt die Mauer vom Bösen erneuter Gewaltherrschaft. Jenseits der Demarkationslinie leben Deutsche in einem Gebiet, das seit fast 30 Jahren keine Freiheit gekannt hat. Wir können hier nicht auseinander gehen, ohne zu erwähnen, dass unser Wirken auch ihnen gilt. Je fester wir Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde in unserem Teil des Vaterlandes gründen, desto eher gibt es noch eine Hoffnung für unsere gequälten Landsleute im anderen Teil Deutschlands. Erreichen werden wir eine ideale Wende ihres Schicksals allerdings wohl nie, wenn wir es nicht lernen, in den Lebensfragen der Nation zusammenzustehen. Wer die blutende Grenze in unserem Lande überwinden will, der darf die Menschen im freien Teil Deutschlands nicht gegeneinander treiben, sondern der muss sie zueinander führen. Heute, meine Damen und Herren, heißt den Widerstand gegen die verbrecherische Gewaltherrschaft von einst ehren und Widerstand gegen die neue Gewaltherrschaft leisten, vor allem sich in kraftvoller Solidarität um diese Stadt Berlin scharen, die in ihrer Spaltung die Not unseres Volkes zeigt und dennoch – und gerade deshalb – Sinnbild seiner Hoffnung ist.






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