Die Freiheit ist immer in Gefahr

Ernst Wirmer

Die Freiheit ist immer in Gefahr

Ansprache von Ministerialdirektor Ernst Wirmer, Mitglied des Kuratoriums der Stiftung „Hilfswerk 20. Juli 1944“, am 20. Juli 1962 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Im Namen der Angehörigen und Hinterbliebenen des 20. Juli 1944 habe ich die ehrenvolle Aufgabe, dem Senat der Stadt Berlin für die Ausrichtung dieser Feier auch in diesem Jahr und Ihnen, meine sehr verehrten Anwesenden, für Ihre Teilnahme an der Gedenkstunde Dankesworte zu sagen.

Unsere schreibende und redselige Zeit hat das Wort in Reden und Pathos nicht selten heute billig und wohlfeil gemacht. Außerdem: Siege kann man allenfalls feiern. Die Überwindung aber, die im 20. Juli sichtbar wird, verlangt schlichtes Bekenntnis. Und um ein solches Bekenntnis, nichts anderes, immer wieder neu und eindringlich, geht es uns jedes Jahr bei der Zusammenkunft im Gedenken an unsere toten Freunde und Verwandten.

Wenn nicht die Gefahr rechtloser Gewalt uns immer wieder bedrohte, wäre anders in einer saturierten Zeit, die Wohlstand und Genuss der Freiheit auf ihren Fahnen stehen hat, immer schwerer zu verstehen, um was es damals ging und immer gehen wird.

Die Freiheit ist immer in Gefahr. Sie ist nicht nur vom totalitären Denken, von der Staatsideologie her bedroht, die wir, soweit sie hinter uns liegt, definieren, soweit sie neben uns noch lebt, fürchten oder verachten können. Sie ist in der technokratischen Zeit, in der wir leben, einem Angriff aus der Tiefe ausgesetzt, den die wenigsten ahnen. Schlimmer manchmal – oder immer – als die Gegner der Freiheit sind die Gleichgültigen, obwohl sie es nicht wahrhaben wollen. Schlimmer sind die, die sich anpassen – der Zeit, den Mächtigen, dem Geld, dem Unrecht, weil es unbequem ist, zu widerstehen und eine eigene Meinung zu vertreten. Ja, schlimm schon sind die, die den ihnen gegebenen Verstand zur Erkenntnis der Situation und der ihnen gestellten Aufgaben nicht einsetzen und es dadurch vermeiden, dass sich ihr Gewissen regen kann. Wer den 20. Juli wirklich erfasst hat, wird ihn als Verpflichtung für sein tägliches Leben als Bürger, als Mensch und im Beruf nehmen müssen. Und da wir Menschen in einer gefallenen Welt das brauchen, gibt er uns Zeugen, Beispiele und Taten, die uns aufrütteln, Halt geben und ins Bewusstsein heben, dass wir nicht allein stehen.

Man kann eben den 20. Juli und den deutschen Widerstand insgesamt nicht ehren, wenn man nicht die geistigen und moralischen Potenzen anerkennt, die diese Männer und Frauen über sich selbst erhoben und die sie, trotz Aussicht auf schmachvolles Leiden, handeln hießen. Unsere freiheitliche Ordnung besteht nur dadurch, dass wir uns an diesen Kräften aufrichten. Manchmal hat man Sorge, dass viele unserer Mitbürger zwar ehrlich die Frucht, nämlich die Tat des Widerstandes gegen eine entartete Staatsgewalt, anerkennen, aber nicht genügend im Blick haben, aus welchen Wurzeln der großen Überlieferungen des Abendlandes und der gesitteten Menschheit diese Frucht wachsen konnte. Es ging den Angehörigen des 20. Juli nicht allein darum, ein unmenschliches Regime zu stürzen. Es ging ihnen vielmehr um eine Erhebung des deutschen Volkes zu den unveräußerlichen Menschenrechten, zu Wahrhaftigkeit und Sauberkeit im politischen Alltag, um eine Rückbesinnung auf die Grundwerte einer Rechtsordnung in einem friedlichen Staatsganzen, das Gerechtigkeit im sozialen und privaten Leben errichtet. Liest man die Zeugnisse dieser aus allen Schichten und Berufsgruppen unseres Volkes kommenden Persönlichkeiten, dann wird man inne, wie sehr sie in der Geschichte wurzelten, wie stark ihr Glaube sie trug, wie demütig vor Gott sie standen, wie aufrecht und männlich in der heillosen Gegenwart. Sie hatten einen heiligen Bezirk, aus dem heraus sie urteilten, maßen und handelten.

Mit einiger Sorge beobachte ich, dass in letzter Zeit Geschichtswerke außerdeutscher Autoren bei uns Erfolg haben, in einem Falle nur in Deutschland einen Verleger gefunden haben sollen, in denen die Geschichte der Zeit vor dem Ausbruch des letzten Weltkrieges abgehandelt wird. In ihnen wird, teils in behauptetem wissenschaftlichen Streben, teils aber auch offenbar in Voreingenommenheit gegen politische Entwicklungen im Heimatstaat des Verfassers, der im Ausland sicher vorhandene Wille zum Kampf gegen den Nationalsozialismus umgedeutet in Kriegshetze gegen Deutschland, ja in die Behauptung, durch sie erst sei der damaligen politischen Führung Deutschlands der Krieg aufgezwungen worden. Wer an den Revisionismus nach dem ersten Krieg und an die sogenannte Dolchstoßlegende denkt, muss hier Gefahr sehen, die uns dieses Mal von draußen ins Haus geliefert wird. Oder es werden mit fast liebevoller Intensität Fehler des Auslandes bei der Führung des letzten Kriegs oder in der früheren oder Nachkriegsgeschichte anderer Staaten geschildert. Schon kann man Stimmen hören, die mit befreitem Aufatmen fast feststellen, dass ja dann die Rechnung ausgeglichen, dass wir quitt seien. Immun gegen diesen politisch-ideologischen Bazillus, für den ein Volk anfällig werden kann, wird jeder junge Mensch werden, der einmal in den Schriften und nachgelassenen Briefen der Männer des 20. Juli gelesen und dann erlebt hat, wie sich dort aus Vaterlandsliebe und Scham über das, was im Namen des geliebten eigenen Volkes geschah, der heilige Zorn und der Hass gegen das Böse entfachte. Dann wird es nicht mehr ganz schwer für ihn sein, die geschichtlichen und politischen Gewichte richtig zu setzen und zu klaren Urteilen für damals und heute zu kommen.

Oder erinnern wir uns gerade hier in Berlin einmal, dass uns aus Preußen-Deutschland als Erbe eine fortwirkende obrigkeitsstaatliche Bewusstseinshaltung, ein Mangel an bürgerlichen Gestaltungswillen als schwere Last überkommen ist, die die USA, Großbritannien und Frankreich in ihrer Tradition nicht haben. Erinnern wir uns daran, dass ein Wort wie Kompromiss einfach negativ für uns klingt, obschon kein pflanzliches, tierisches oder zuletzt menschliches Leben ohne Kompromiss denkbar ist, und obschon der vernünftige Kompromiss, nämlich die Übereinkunft zu gemeinsamen Handeln, geradezu der Prüfstein der Demokratie, ihre große Tugend ist gegenüber der Diktatur einer Partei, eines Mannes, einer Klasse, wo der Andersgläubige totgeschlagen wird.

Es stände gut, wenn die Bereitschaft zum Kompromiss, das heißt zum gemeinsamen Handeln, von unserer jungen Mannschaft an dem Beispiel der Widerstandskämpfer gelernt würde, die sich und ihren Glauben nicht zu verraten glaubten, wenn sie zum Teil über Jahre hinaus mit Leuten anderer geistiger Herkunft zusammenarbeiteten.

Und zum Abschluss: Wir wissen, wie gefährdet der lebendige Glaube an Gott in unserer Gegenwart ist. Die Schädelstätten einer verwirrten Welt künden uns vielerorts den Abfall des Menschen von Gott. Mord und Unrecht wird es weiterhin geben. Aber der systematische, mathematisch-rationale Mord, das perfekte und noch ideologisch motivierte Unrechte: Sie sind Errungenschaften unseres Jahrhunderts, das in zwei Kriegen 80 Millionen Menschen umbrachte. Man könnte zynisch oder verzweifelt werden beim Anblick dieser Fakten, wenn nicht das Vertrauen da wäre, dass Geschichte ein Raum der Freiheit ist und wir gerufen sind, in diesem Sinne Geschichte zu machen. Der Einzelne scheint dabei ganz ohnmächtig zu sein. Das entmutigt viele. Aber auch das gehört zu den eindringlichen Lehren, die uns das Opfer vermitteln kann, dessen wir heute gedenken: dass die Tat des einzelnen Menschen unverlierbar ist und selbst im Kerker neues Leben zeugt. Es bedarf nur der Menschen, die Zeugnis ablegen und – das ist die Sache von uns Nachfahren – der Menschen, die fähig sind, von der Größe des Opfers erschüttert zu werden.

Zu diesem Zweck sind wir hier: Zeugnis abzulegen und ihnen, die für eine heilere Welt starben, im Angesicht der Lebenden zu danken.






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