Deutscher Widerstand - Fünfzig Jahre danach

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Karl Dietrich Bracher

Deutscher Widerstand - Fünfzig Jahre danach

Gedenkrede von Prof. Dr. Dr. h. c. Karl Dietrich Bracher am 20. Juli 1983 in der Stadthalle Bonn-Bad Godesberg

Wenn wir in diesem Jahr 1983 der Ereignisse gedenken, die vor fünfzig Jahren zum Ende der ersten deutschen Demokratie und zur Errichtung der furchtbarsten Diktatur unserer Geschichte geführt haben, so stellt sich damit in aller Schärfe besonders auch die Frage nach den Möglichkeiten eines Widerstands gegen eine solche verhängnisvolle Entwicklung. Denn der Einbruch der Diktatur 1933 geschah auch deshalb so bestürzend schnell und scheinbar unwiderstehlich, weil ihm nicht rechtzeitig und klar genug begegnet werden konnte.

Die Frage ist unverändert brennend. Denn Kritiker unserer heutigen Demokratie leiten daraus mit neuer Heftigkeit ein Recht, ja eine Pflicht zum Widerstand überhaupt ab. Und sie nehmen dies gegenwärtig sogar für die aktuelle Auseinandersetzung um unsere Verteidigungspolitik in Anspruch. Man kann demgegenüber nicht deutlich genug sagen, gerade auch im Gedanken an den Widerstand gegen Hitler: hier bahnt sich ein fragwürdiger Missbrauch des Widerstandsbegriffs und -gedankens an. Nachdem man den Widerstand gegen Hitler lange verdrängt oder gar totgeschwiegen hatte, droht der Widerstandsbegriff nun zum wohlfeilen Allerweltswort zu werden, mit dem man gegen die parlamentarische Demokratie selbst und ihre Grundregeln, zumal das Mehrheitsprinzip, zu Felde zieht. Die Demokratie in Deutschland steht offenbar einmal wieder in Gefahr, von einem Extrem ins andere zu geraten: von einer als überstabil kritisierten Kanzler- und Parteiendemokratie in die Anfechtung des parlamentarischen Systems durch Antibewegungen, die den Anspruch auf zivilen Ungehorsam mit spektakulären Verstößen gegen die Rechtsordnung verbinden.

Um so wichtiger ist heute die Besinnung auf jene schmerzhaften Erfahrungen unserer Geschichte, die aus der Widerstandsbewegung gegen die nationalsozialistische Diktatur stammen. Die erste Erfahrung lautet: Widerstand ist schwer aber geboten in der Diktatur, die gegen die Menschenrechte verstößt; er ist einfach doch verderblich hingegen in der rechtsstaatlichen Demokratie, die legale Opposition ermöglicht. In der Tat: Schon seit der ersten Republik von Weimar besteht in Deutschland die Neigung, eher dem parlamentarischen System der Demokratie den Kampf anzusagen und betont Widerstand zu leisten als der Diktatur. Deren Sieg ist 1933 gerade wesentlich durch die Kritik und Obstruktion des demokratischen Systems in weiten Kreisen der Bevölkerung wie der Elite herbeigeführt worden. Diese Erfahrung und Einsicht scheint noch immer nicht wirklich begriffen und zum Allgemeingut geworden zu sein. Wenn nun heute im Blick auf den NS-Staat eine Art nachträglicher Widerstandsanspruch proklamiert wird, so geht dies wiederum gegen eine Demokratie und könnte einer Diktatur zugute kommen. Und es geschieht in Unkenntnis oder bewusster Entstellung der damaligen Realitäten und der Probleme des historischen Widerstands gegen Hitler, dessen wir heute gedenken.

1.

Zunächst einmal, das entscheidende Datum ist und bleibt für uns 1933, gerade auch wenn wir über die Problematik des Widerstands nachdenken. Es war der pseudolegale und zugleich terroristische Übergang von der Demokratie zur Diktatur, der die alte Frage des Widerstands gegen tyrannische Herrschaft damals in ein neues Licht gerückt hat. Opposition gegen einen Staat, der über Notverordnungen, Ermächtigungsgesetz und Plebiszite scheinbar legal in die Hände einer Partei gelangt war, hatte unvergleichbar viel größere Schwierigkeiten zu überwinden als der gleichsam klassische Widerstand gegen einen gewaltsamen Staatsstreich und offene Usurpation. Der Sinn der nationalsozialistischen These von der angeblich „legalen“, vom Volk getragenen Revolution war es gerade, die Geister zu verwirren und alle Gegenkräfte zu schwächen. Dies beeinflusste den Charakter und beeinträchtigte die Chancen jeder Opposition gegen ein Regime, das in so kurzer Frist über scheindemokratische Manipulationen zur umfassenden Herrschaft über Staat und Gesellschaft gelangt war.

Aus der Tradition des deutschen Obrigkeitsstaats erklären sich auch die Fehleinschätzungen, die einen allgemeineren Widerstand gegen die nationalsozialistische Machtergreifung gelähmt haben. Es war das Grundproblem von 1933 für die Weimarer Politiker und Parteien, die in der Beurteilung der „jungen Bewegung“ schwankten, wie weit sie die Nationalsozialisten durch Kollaboration vielleicht beeinflussen oder gar steuern könnten und wann Opposition unausweichlich war - wobei allzu wenig daran gedacht wurde, ob und in welcher Form sie dann überhaupt noch möglich sei. Die Illusionen der Gewerkschaften, der Attentismus der SPD-Führung, die vergebliche Anpassung der bürgerlichen Parteien, die Isolierung der KPD: sie spiegeln je auf ihre Weise diese Problematik wider. Aber damit wurde der Augenblick verpasst, da noch von den alten Machtpositionen aus hätte operiert werden können.

Erst im Verlauf der Auflösung der Parteien und des Verlustes der politischen Positionen bildeten sich verstreute Zentren des Widerstands, auch sie noch gehemmt durch den Glauben, Hitler werde rasch abwirtschaften, und es gelte nur eine kurze Periode der Unterdrückung zu überstehen. Doch zeugten die Zehntausende politisch Verfolgter und Gefangener in den KZ, die sogleich errichtet wurden, von der potenziellen Stärke und Opferbereitschaft derjenigen Deutschen, die gegen den Nationalsozialismus standen.

Man muss sehr heterogene Gruppen der Opposition gegen den Nationalsozialismus oder bestimmte Aspekte seines Regimes unterscheiden; sie treten zu verschiedenen Zeiten mit verschiedenen Methoden und Zielen hervor. Einerseits waren es die alten politischen Gegner der Linken und der Mitte, bald auch enttäuschte Konservative; dann verstärkte sich die Opposition aus dem Raum der Kirchen; hinzu kamen Einzelgänger aus dem Staatsapparat und der Wirtschaft; schließlich rückten 1938 und wieder seit 1942/43 Militärs in den Mittelpunkt oppositioneller Planungen und Aktionen. Die Bewertung ist deshalb so schwierig und umstritten, weil sie nach höchst verschiedenen Maßstäben erfolgen kann: sind es die Motive, die Erfolgsaussichten oder die politischen Ziele, denen das Hauptgewicht zukommt? Davon hängt es ab, wie die linken und die bürgerlichen, die kirchlichen, konservativen und militärischen Oppositionellen beurteilt werden, wie ihr Verhältnis zueinander und ihre Taktik gegenüber dem Regime gesehen wird.

Die tapfere, opfervolle Geschichte des Widerstands reicht über die ganze Zeit von 1933 – 1945, und diese aus schlechtem Gewissen immer wieder verdrängte Wahrheit wird auch nicht erst heute entdeckt, sondern ist seinerzeit in Büchern wie Annedore Lebers „Das Gewissen steht auf“ (1954), also schon in den frühen fünfziger Jahren für die verschiedensten politischen Richtungen von Kommunisten, Sozialisten und Christen bis zu Konservativen und Militärs dargestellt worden. Beides ist wichtig: das entschiedene Widerstehen der ersten Stunde und der späte Umsturzversuch. Man sollte beides nicht gegeneinander ausspielen wollen und damit denen in die Hände arbeiten, die den Widerstand überhaupt als erfolglos oder als zu spät herabsetzen und bagatellisieren: damals wie jetzt.

Natürlich ist es völlig unbestritten: es gab nicht nur den 20. Juli. Aber ebenso wichtig ist die Tatsache, dass überhaupt auch der Staatsstreich gegen die Diktatur, der Tyrannenmord selbst gewagt worden ist. Es geht sowohl um die opfervollen Anfänge von 1933 wie um die Umsturzversuche von 1938 – 1944, und dazwischen liegt die große Skala der Verweigerungen und Auflehnungen gegen das totalitäre Regime, freilich auch die Erfahrung der tiefen Verlassenheit jeder Opposition inmitten der so lärmenden und verführerischen wie zwanghaften Massendiktatur.

2.

Das Ende der Demokratie - ist der Beginn des Widerstands: dies gilt es auch gegen heutige Verzeichnungen und Missbräuche des Widerstandsbegriffs festzustellen. Das Problem von 1933, die allzu leichte Unterwanderung und Überwältigung der Demokratie durch die Diktatur lag ja gerade darin begründet, dass es in Deutschland eben eine große und destruktive Fundamentalopposition gegen die Demokratie gab - und zwar durch die ganze Geschichte der Weimarer Republik hindurch, von den Putschbewegungen von 1919 und 1923 bis zu den Straßenkämpfen von 1930 - 1933 -, dass hingegen die Resistenzkraft gegen diktatorische Bewegungen sehr viel geringer war: vor 1933 wie dann danach.

Wir stellen also die Grundfrage nach dem Verhältnis des Widerstands in Demokratie und Diktatur und beachten die Reichweite der verschiedenen politischen Lebensbereiche, die große soziale Spanne des tatsächlichen Widerstandes gegen Hitler. Es ist nicht zu leugnen und sollte uns Heutigen als Mahnung dienen: Die Weimarer Republik war weithin ungeliebt, von erbitterten Gegnern und Feinden umstellt. Schon ein Jahr nach Annahme der Weimarer Verfassung, in den ersten Reichstagswahlen von 1920, stimmte eine Mehrheit der Wähler gegen die Parteien der Weimarer Koalition, gegen Sozialdemokraten, liberale Demokraten und katholische Zentrumspartei.

Zwar stand am Anfang der jungen Republik ein Akt des antidiktatorischen Widerstands: es gelang mit Hilfe der Gewerkschaften und auch der Beamtenschaft, den antidemokratischen Militärputsch vom März 1920 (Kapp-Putsch) zu überwinden und fast schon wider Erwarten auch die Putschversuche von links- und rechtsradikaler Seite im Sturmjahr 1923 zu überstehen. Aber schon in den ersten Jahren zeigte sich, wie stark die Anti-Systembewegungen waren: die politischen Morde der Anfangsjahre, darunter die an Erzberger und Rathenau, bildeten traurige Höhepunkte dieses ideologisch und nationalistisch fanatisierten antidemokratischen Widerstands. Und insgesamt blieb die Republik von militanten Gewaltbewegungen der Rechten wie der Linken bedroht und schwer regierbar. Die prinzipielle Absage an die Kompromissstruktur von 1918, an Parlamentarismus und Pluralismus, an die rechtsstaatliche Substanz und die freiheitliche Form der Demokratie blieb auf beiden Extremseiten des politischen Spektrums beherrschend und die Endphase der Republik ist vom negativen, zerstörerischen Zusammenspiel der rechts- und linkstotalitären Kräfte, von Gewalttaten und Revolutionsdrohungen überschattet und schließlich bestimmt worden: die Politik der Einschüchterung durch Gewaltdrohung, Straßenterror und politischen Mord war ein entscheidender Faktor bei der fast kampflosen Kapitulation der Republik.

Die Beurteilung des Nationalsozialismus stand im Zeichen einer verhängnisvollen Unterschätzung oder Fehleinschätzung seines totalitären Charakters, und zwar in allen politischen Lagern. Während die Kommunisten grotesker Weise besonders die Sozialdemokraten bekämpften und „Sozialfaschisten“ schimpften, glaubten die bürgerlichen Parteien allzu lange die Nazis zähmen zu können, und träumten die Deutschnationalen von einem nationalen Bündnis, in dem sie dann den Ton angeben könnten: von der „nationalen Opposition“ zur „nationalen Erhebung“, wie die Parolen lauteten. So wenig unter diesen Umständen im Schicksalsjahr 1932 von einer wirksamen Gegenbewegung oder Verteidigungsfront der Demokraten die Rede sein konnte - vielmehr von einem großen Vakuum der politischen Ratlosigkeit -, so gering waren nach dem verhängnisvollen 30. Januar 1933 die Chancen, nun die weit verbreitete Abneigung gegen die Demokratie zur Opposition gegen den Nationalsozialismus zu mobilisieren. Im Gegenteil: die neue Diktatur konnte sich diese Anti-Weimar-Gefühle propagandistisch weithin zunutze machen. Es gab keine gemeinsame positive Basis für einen Kampf gegen das Hitlerregime, weil die demokratische Alternative ungeliebt war und das negative Bild der Weimarer Republik alles verdunkelte, nachdem erneut Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit hereingebrochen waren.

3.

Blicken wir nun auf unsere zweite Demokratie, die leider nur im westlichen Teil Deutschlands möglich werden konnte, so können wir feststellen, dass sich zu keiner Zeit eine ähnlich starke antidemokratische Frontbildung entwickeln konnte. Nicht nur gelang es nach den warnenden Erfahrungen der Diktatur von 1933 - 1945 wie auch der fortbestehenden Zwangssysteme in Osteuropa, den demokratischen Konsens ungleich stärker zu festigen als nach dem Ersten Weltkrieg. Vor allem konnte sich in der Bundesrepublik ein Verständnis vom Wesen und der Bedeutung demokratischer Opposition durchsetzen, das endlich auch den gewaltigen Unterschied in der Widerstandsfrage deutlich macht: zwischen dem kostbaren Gut legaler und realer Opposition mittels Parteien, Verbänden, Rechtsstaatsprinzipien in der pluralistischen Demokratie - und jener verzweifelten, opfervollen, tragischen Widerstandsarbeit innerhalb einer Diktatur und gegen sie, die in nichts damit zu vergleichen ist.

Wohl gab es auch in der Geschichte der Bundesrepublik Fälle einer rechts- wie linksradikalen Antisystemopposition, die sich auf prinzipielle ideologische Positionen berief, im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein behauptete und für sich eine Notstandslage in Anspruch nahm: so Teile der Anti-Atomtodbewegung in den fünfziger, der außerparlamentarischen Opposition in den sechziger Jahren. Und dies tun heute ja auch Teile der sogenannten Friedens- und Alternativbewegungen, wenn sie verkünden, in einer so entscheidenden Lage wie heute genüge nicht das Oppositionsrecht der parlamentarischen Demokratie, hier müsse vielmehr sogar ein Grundprinzip der Demokratie, nämlich das Mehrheitsprinzip und die Mehrheitsentscheidung außer Kraft gesetzt werden.

Das wäre eine verhängnisvolle Verkennung der politischen Wirklichkeit - wieder sehr extrem und deutsch, wieder wie unter Weimar die illusorische Flucht in eine Art Notstandspolitik. Denn erstens gibt es keine freiheitliche Alternative zum Prinzip des pluralistischen Rechtsstaats und zur Geltung des Mehrheitsprinzips. Alles andere wäre Willkürherrschaft von Minderheiten, die elitär von sich behaupten, im Besitz der Wahrheit zu sein. Und zweitens war es ja gerade der Missbrauch einer Notstandspolitik, durch den einst Hitler wie übrigens fast alle Diktatoren unseres Jahrhunderts gegen die Mehrheitsdemokratie an die Macht gelangt ist, gegen die dann allerdings jeder weitere Widerstand brutal unterdrückt wurde. Es gilt also, den heutigen Verirrungen und Verwirrungen um den Widerstandsbegriff den klaren historischen wie politischen Sachverhalt entgegenzustellen.

Denn das Versagen von 1933 hat schließlich auch die letzte Tragödie von 1944/45 bestimmt. Mit Scham und zugleich Entschlossenheit gegen heutige Missdeutungen ist zu erinnern an das, was damals der Preis des Widerstands war: die blutige Verfolgungs- und Vernichtungswelle nach dem 20. Juli haben nicht einer der Hauptbeteiligten und nur wenige der Mitwisser überlebt. Das Gemetzel, mit dem das nationalsozialistische Regime gegen sie vorging, führte zu einer letzten Steigerung totalitärer Herrschaft. Eine neue Dolchstoßlegende wie sie Hitler und Himmler dem 20. Juli anzuhängen versuchten, konnte nicht mehr entstehen. In der Atmosphäre des Terrors und Schreckens ist die Masse der deutschen Bevölkerung bis zum Ende einem Regime gefolgt, dessen Führer aus der Abgeschiedenheit seines Berliner Bunkers seine sinnlosen Durchhalte- und Vernichtungsbefehle ergehen ließ. Noch einmal war die Frage aufgeschoben, mit der ein gelungener Umsturz das deutsche Volk konfrontiert hätte: Was es zu den in seinem Namen verübten Untaten und Verbrechen des Systems zu sagen habe. Die von Stauffenberg geforderte Selbstabrechnung der Deutschen mit den NS-Verbrechern fand nicht statt.

4.

Widerstand im diktatorischen Unrechtsstaat, der notwendig das Odium der Illegalität und der Gewalt auf sich nehmen muss, kann nicht mit den Ansprüchen einer radikalen Antisystemopposition im demokratischen Verfassungsstaat verglichen werden. Das Argument, dass politische Herrschaft als Gewalt Gegengewalt rechtfertige, verkennt und missdeutet das Bezugssystem, unter dem Widerstand gegen Diktatur legitimiert wird: die Forderung auf Wiederherstellung verfassungs- und menschenrechtlicher Verhältnisse, auf Schutz der Menschen gegen Massenverbrechen, wie sie an Juden und an politischen Feinden überhaupt verübt wurden.

Um es mit Eberhard Bethge, dem Freund Dietrich Bonhoeffers, zu sagen: Der 20. Juli ist „ein Paradigma des Kampfes um mündige und freie Demokratie. Gegenwärtig ist dieser Kampf bei uns grundsätzlich legitimiert; er ist Pflicht und damit nicht Widerstand im Sinne des 20. Juli. Hitler war der Terrorist und damit die Gewaltanwendung der Widerständler nicht Revolution sondern Antiterrorismus. Der Terrorist maximiert Gewalt, der Widerständler zielt auf ihre Beendigung.“ (Thesen vom 18.7.1981).

Wenn immer wieder in Büchern und Rezensionen die Motive und das Handeln dieser Männer und Frauen als unlauter verdächtigt werden, wie es erst kürzlich z. B. General Hans Oster in der Süddeutschen Zeitung unter der hämischen Überschrift „Kein makelloser Verschwörer“ geschah, so möge man sich klar machen, was es für einen Patrioten wie Oster bedeutete, dass er 1940 die Niederlande vor Hitlers Angriff warnte, und man sollte einmal im ehemaligen KZ Flossenbürg (Oberpfalz) vor der Mauer stehen - wo Oster mit Canaris, Dietrich Bonhoeffer und anderen gehängt wurde, nun selbst Opfer des KZ - die den dort Leidenden und Verfolgten immer vor Augen stand.

Es werden demgegenüber immer wieder die Äußerungen und Programme der Widerstandskreise kritisiert, weil sie nicht mit unseren heutigen Vorstellungen von Demokratie und Europapolitik übereinstimmen. Aber solche nachträglichen Besserwisser sollten bedenken: es waren gerade auch Teile der ursprünglichen antidemokratischen Opposition von Weimar, die nach 1933 unter schweren inneren Auseinandersetzungen zu einem antidiktatorischen Widerstand und zur Korrektur früherer Vorstellungen gefunden haben. Es ist darum unhistorisch und auch unpolitisch, eben diese schmerzhafte Erfahrung und Lehre zu verkennen: nämlich die betont antidiktatorische Wendung des deutschen Widerstandsverständnisses nach 1933. Gerade in der heutigen Sprach- und Gedankenverwirrung kommt es auf die klare Unterscheidung zwischen antidiktatorischem und antidemokratischem Widerstand an, um das Vermächtnis des deutschen Widerstands gegen Hitler nicht wieder durch einen Rückfall in antiliberale, radikale Widerstandsparolen gegen die parlamentarische Demokratie zu verlieren oder gar zu verraten.

Der 20. Juli sollte auch in diesem Sinne ein deutscher Gedenktag der Bundesrepublik werden, statt ein Datum der Verlegenheit zu sein. Warum nicht mit den Tagen der Verfassung und der Einheit ein Tag der Freiheit?

Was uns einmal in die schlimmste Diktatur geführt hat - verstiegene Radikalopposition gegen die parlamentarische Demokratie -, muss uns auch 50 Jahre später noch als Warnung vor Augen stehen. Befreit und gesichert haben uns schließlich vor allem die westlichen freiheitlichen Demokratien. So kann Widerstand heute niemals heißen: Rückfall in Weimarer Verhältnisse und in neutralistisch-nationalistische Sonderwege - mit einem Hauch von Totalitarismus, wie Kurt Sontheimer befürchtet. Vielmehr gibt es ein Widerstandsrecht der zweiten freiheitlichen deutschen Demokratie selbst: nämlich den Widerstand gegen die diktatorischen Mächte unserer Zeit - diesmal an der Seite jener Demokraten Europas und der atlantischen Gemeinschaft, die für Menschenrechte und für Frieden in Freiheit stehen.






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