Die Gesinnung wahrhafter Widerstandskämpfer
Jürgen Wohlrabe
Die Gesinnung wahrhafter Widerstandskämpfer
Ansprache des Vorstandsmitglieds des Rings Politischer Jugend, Jürgen Wohlrabe, am 19. Juli 1965 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin
Die Gedenkfeiern zum 20. Juli fallen 1965 in ein Jahr der Auseinandersetzungen darüber, wie man sich heute zu den Geschehnissen der Hitlerzeit stellen soll. Die Diskussionen haben sich an der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zum Staate Israel und insbesondere an der Verjährungsfrage entzündet. Sie haben einen grundsätzlichen Charakter bekommen deshalb, weil so mancher hinter der vorgehaltenen Hand meinte, nach so vielen Jahren der Schuldbekenntnisse müsse man endlich aufhören, in Sack und Asche herumzulaufen. Und es gab leider nicht wenige, die da heimlich hofften, es würde eine Zeit kommen, in der Taten aus der Hitlerperiode nicht mehr als Unrecht gebrandmarkt würden und die meinten, es würde eine Zeit kommen, in der sie aus ihrem Schweigen hervortreten könnten.
Und es gab sogar Politiker, die offen erklärten, die Deutschen hätten nichts anderes getan als andere Völker auch und man könne deshalb nicht von „Verbrechen“ sprechen. Daran zeigt sich, wie oberflächlich die Auseinandersetzung mit dem Geschehen der Jahre 1933 bis 1945 und mit dem Widerstand vieler Deutscher bisher in der Bundesrepublik geführt worden ist. Die tausendfachen grauenvollen Morde und die Entfesselung des blutigsten aller Kriege haben nicht überall ausgereicht, um allen Deutschen die Schamröte ins Gesicht zu treiben und sie zum Nachdenken über ihre Mitschuld zu veranlassen. Das Bewusstsein dieser Schuld ist erst bei wenigen verbreitet. Ohne dieses Bewusstsein und ohne diese geistige Auseinandersetzung ist es aber auch nicht möglich, die Gedanken der Widerstandskämpfer zu begreifen und ihr Handeln zu bejahen. Vielleicht ist das der tiefere Grund dafür, weshalb der Gedenktag des 20. Juli 1944 im deutschen Volk immer noch nicht so tief verwurzelt ist, wie wir es alle wünschen.
Das besondere geschichtliche Verdienst der Männer und Frauen des Widerstandes liegt darin, dass sie nicht wie so viele die Augen vor dem offenkundigen Unrecht verschlossen haben. Sie haben sich auf die unvergänglichen Werte der menschlichen Kultur und Zivilisation zurückbesonnen. Sie haben aus tiefstem sittlichen Ernst dem Regime einer verführten Nation den Gehorsam aufgekündigt. Ihr Entschluss wiegt vor allem deshalb so schwer, weil sie es auf sich nahmen, dass ihr Handeln als Verrat am eigenen Volk missdeutet werden konnte. Denn die Nazis hatten alles getan, damit ihr Raubfeldzug durch Europa den Deutschen nicht als Angriffskrieg, sondern als ein nationaler Abwehrkampf erscheinen musste. Auf diese Weise konnte eine neue Dolchstoß-Legende entstehen, die leider auch heute noch nachwirkt. Darüber hinaus hatten nur wenige Menschen bereits 1933 eingesehen, dass Hitler Krieg bedeutet. Als der Krieg dann da war, berauschten sich nur allzu viele an den anfänglichen Siegen. Erst später verbreitete sich Missstimmung, weil sich die Lebenslage ständig verschlechterte. Aber zur grundsätzlichen Ablehnung des Krieges als eines Verbrechens an der Menschheit haben sich leider nur einige durchgerungen.
Von der unmittelbaren persönlichen Gefahr, in der sich alle Widerstandskämpfer befanden, soll hier nicht gesprochen werden. Sicher haben die ständigen Verhaftungen und die Sorge vor der Gestapo die Widerstandsarbeit erheblich erschwert. Hier soll vielmehr von jenen Schwierigkeiten gesprochen werden, die entstanden bei der Ausbreitung der Gedanken des Widerstandes und die entstanden, um möglichst viele Menschen für das gemeinsame Anliegen zu gewinnen. Diese Bemühungen waren in Kreisen des Offizierskorps besonders intensiv. Niemand anders als gerade jener Personenkreis der militärischen Führer konnte den Ernst der Lage besser erkennen. Aus diesen Reihen kam deshalb ein bedeutender Teil der Widerstandskämpfer und der Teilnehmer am Attentat gegen Hitler. Gerade von ihnen wissen wir aber, wie schwer sie es hatten, die Mehrzahl der übrigen Generale und Offiziere zu überzeugen. Zwar gab es nur wenige Nazis unter ihnen, doch verhielten sich die meisten abwartend. Sie wollten nur auf Befehl handeln. Sie fühlten sich an einen Eid gebunden, den Hitler als Eidträger selber längst gebrochen hatte. Sie fürchteten den Putsch, solange ein Goebbels der Bevölkerung noch den Sieg vorgaukeln konnte. Sie waren unsicher und mussten immer von neuem überzeugt werden. Sie wollten abwarten und drückten sich an den Entscheidungen vorbei.
In diesem Zusammenhang braucht allerdings nicht verschwiegen zu werden, dass auch das Ausland der deutschen Widerstandsbewegung ernsthafte Unterstützung verweigerte. Es gab genügend Versuche, die Regierungen anderer Nationen über die Absichten des deutschen Widerstandes zu unterrichten und außenpolitische Hilfe zu erbitten. Zu solcher Hilfe kam es aber nicht einmal vor 1939, als die Politik von München Hitler innenpolitisch sogar stärkte; es kam erst recht nicht dazu während des Krieges, den alle ausländischen Regierungen unter einem betont nationalen Vorzeichen führten. Dabei hatten sie ihren Völkern die Existenz eines innerdeutschen Widerstandes bewusst verheimlicht. Der Höhepunkt dieser Politik gegen Deutschland war die Forderung von Casablanca nach bedingungsloser Kapitulation. Heute ist unbestritten, dass diese Erklärung Hitler sehr gelegen kam. Wie sollte denn die deutsche Bevölkerung, die von pausenlosen Bombenangriffen zermürbt war, angesichts dieser Forderung der Alliierten Verständnis haben für das Bestreben der Männer des 20. Juli, Hitler zu beseitigen und seinen aussichtslosen Krieg zu beenden?! Das Ausland kann sich nicht damit entschuldigen, dass die Oppositionellen in Deutschland noch Illusionen hatten über die möglichen Grenzen eines Nachkriegsdeutschland. Vielmehr muss zu den zahlreichen Schwierigkeiten, mit denen die Vertreter des deutschen Widerstandes zu kämpfen hatten, auch die betont reservierte Haltung des Auslandes zählen.
Trotzdem lässt sich gerade am Beispiel der Casablanca-Erklärung zeigen, worin das Besondere und schmerzlich Konsequente in den Gedankengängen der deutschen Widerstandskämpfer bestand. Diese Männer hatten nämlich schon 1939 erkannt, dass Deutschland den Krieg gegen die Übermacht der gesamten Welt niemals gewinnen konnte. Sie hatten erkannt, dass der Krieg schon am ersten Tag verloren war. All ihr Trachten war daher auf die Beendigung dieses Krieges gerichtet, damit nicht noch mehr Soldaten fallen und Zivilisten umkommen mussten. Es zeugt von der höchsten Achtung vor dem menschlichen Leben, wenn deutsche Oppositionelle lieber bereit waren, mit einer Kapitulation schwerste politische Opfer für die eigene Nation auf sich zu nehmen, als das Völkerschlachten fortdauern zu lassen. Sie lebten in der Erkenntnis, dass ein Unrechtstaat, der täglich Tausende, ja Zehntausende von Morden begeht, zum Widerstand verpflichtet und haben dadurch die Ausgangsbasis für die Reinigung des deutschen Namens in der Welt geschaffen. Sie haben verhindert, dass heute von einer Kollektivschuld des deutschen Volkes gesprochen werden kann.
An dieser Haltung erkennt man die Gesinnung wahrhafter Widerstandskämpfer, die das Odium des Landesverrats nicht scheuten, weil sie sich höheren Werten verpflichtet fühlten. Wer am tiefsten lotete, wer das ganze Ausmaß der nationalsozialistischen Diktatur begriffen hatte, war überzeugt, dass man unter dem gegebenen Regime einen deutschen Sieg nicht einmal wünschen durfte. Man musste das geringere Übel wählen. Die Deutschen hatten erkannt, dass sie aktiv für die Änderung der Machtverhältnisse in Deutschland tätig werden müssten, um die Aufrichtung des SS-Staates über ganz Europa zu verhindern. Wir dürfen stolz darauf sein, dass sich solche Männer auch und gerade in den Reihen der Wehrmacht fanden, weil der Wehrmacht wegen der Existenz der SA und SS eine Schlüsselposition bei jedem Umsturzversuch zukommen musste.
Umso höher muss unsere Achtung, insbesondere die Achtung der jungen Generation, vor den wenigen Gerechten sein, die sich bemühten, mit allen Mitteln Widerstand zu leisten, soweit es in ihrer Kraft stand. Widerstand zu leisten, nicht im stillen Kämmerlein, sondern durch die Tat. Sie haben sich nicht bloß über Einzelfälle empört. Das taten viele. Das wäre kein Widerstand gewesen. Sie haben sich nicht damit begnügt, anders zu denken und dennoch zu schweigen. Auch das taten viele. Sie haben sich niemals nur „heraushalten“ wollen. Sie haben auch niemals geglaubt, durch „vernünftiges Zureden“ bei den Nazis immer noch Gutes erwirken zu können. Sie gehörten auch nicht zu jenen, die sich bloß einer bequemen Selbsttäuschung hingaben, wenn sie meinten, durch ihr Verbleiben im Amt „Schlimmeres verhüten“ zu können. Ohne die Mitarbeit und Sachkunde von Beamten, Betriebsführern und anderem geschulten Personal wäre es wahrscheinlich schon sehr viel früher zu einem Niederbruch in Verwaltung und Wirtschaft des nationalsozialistischen Systems gekommen.
Die wahren Widerstandskämpfer haben ihre Opposition durch die Tat unter Beweis gestellt, jeder auf seine Weise. Sie haben das Bewusstsein des deutschen Volkes wachzurütteln versucht, von der Kanzel herab, vom Katheder oder in Flugblättern. Sie haben Rüstungsbetriebe sabotiert, Juden gerettet und abgeschossene Flieger versteckt. Sie haben als Emigranten und Vertriebene das Ausland vor Hitler gewarnt. Sie haben im Untergrund mit den Alliierten Funkkontakt aufgenommen und Arbeiter in illegalen Gruppen organisiert. Sie haben vor 21 Jahren versucht, Hitler die Staatsführung zu entreißen.
Wir, die Jugend Berlins, ja auch die Jugend Deutschlands, für die ich hier stellvertretend spreche, ehren die Männer und Frauen des 20. Juli heute für alle anderen. Wir ehren heute Ludwig Beck, Dietrich Bonhoeffer, Carl-Friedrich Goerdeler, Theodor Haubach, Jakob Kaiser, Wilhelm Leuschner und Julius Leber, Hans Oster und Claus Schenk Graf von Stauffenberg und wir bekennen uns zu Arvid Harnack und Harro SchuIze-Boysen, Carl von Ossietzky und Hans und Sophie Scholl. Wir gedenken der Hunderttausende namenloser Deutscher, die für ihr Bekenntnis zur Freiheit des Gewissens, für ihr Bekenntnis zur Menschenwürde ihr Leben lassen mussten. Sie kamen aus den verschiedensten politischen Lagern. Sie unterschieden sich nach Religion und Weltanschauung. Sie gehörten verschiedenen Altersgruppen an und hatten alle denkbaren Berufe. Aber alle waren sich einig im Kampf gegen die Terrorherrschaft der nationalsozialistischen Unmenschlichkeit.
Heute, 21 Jahre nach dem Aufstand des Gewissens gegen die nationalsozialistische Barbarei, rufen wir die Jugend Deutschlands auf, das Vermächtnis des deutschen Widerstandes in ehrendem Angedenken zu halten. Wir wissen, dass auch heute ein großer Teil des deutschen Volkes Widerstand gegen ein neues Unrechtsregime zu leisten hat. Deshalb fordern wir die in Deutschland Verantwortung tragenden Männer und Frauen auf, mehr als bisher bei ihren Entscheidungen die Gedanken der deutschen Widerstandskämpfer zu berücksichtigen und damit das uns hinterlassene Vermächtnis zu erfüllen. Für unsere politische Entscheidung, für unser politisches Handeln sind uns die Widerstandskämpfer gegen die Hitlerdiktatur zu Vorbildern geworden. Sie haben sich um das deutsche Volk verdient gemacht.
Die Gesinnung wahrhafter Widerstandskämpfer
Ansprache des Vorstandsmitglieds des Rings Politischer Jugend, Jürgen Wohlrabe, am 19. Juli 1965 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin
Die Gedenkfeiern zum 20. Juli fallen 1965 in ein Jahr der Auseinandersetzungen darüber, wie man sich heute zu den Geschehnissen der Hitlerzeit stellen soll. Die Diskussionen haben sich an der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zum Staate Israel und insbesondere an der Verjährungsfrage entzündet. Sie haben einen grundsätzlichen Charakter bekommen deshalb, weil so mancher hinter der vorgehaltenen Hand meinte, nach so vielen Jahren der Schuldbekenntnisse müsse man endlich aufhören, in Sack und Asche herumzulaufen. Und es gab leider nicht wenige, die da heimlich hofften, es würde eine Zeit kommen, in der Taten aus der Hitlerperiode nicht mehr als Unrecht gebrandmarkt würden und die meinten, es würde eine Zeit kommen, in der sie aus ihrem Schweigen hervortreten könnten.
Und es gab sogar Politiker, die offen erklärten, die Deutschen hätten nichts anderes getan als andere Völker auch und man könne deshalb nicht von „Verbrechen“ sprechen. Daran zeigt sich, wie oberflächlich die Auseinandersetzung mit dem Geschehen der Jahre 1933 bis 1945 und mit dem Widerstand vieler Deutscher bisher in der Bundesrepublik geführt worden ist. Die tausendfachen grauenvollen Morde und die Entfesselung des blutigsten aller Kriege haben nicht überall ausgereicht, um allen Deutschen die Schamröte ins Gesicht zu treiben und sie zum Nachdenken über ihre Mitschuld zu veranlassen. Das Bewusstsein dieser Schuld ist erst bei wenigen verbreitet. Ohne dieses Bewusstsein und ohne diese geistige Auseinandersetzung ist es aber auch nicht möglich, die Gedanken der Widerstandskämpfer zu begreifen und ihr Handeln zu bejahen. Vielleicht ist das der tiefere Grund dafür, weshalb der Gedenktag des 20. Juli 1944 im deutschen Volk immer noch nicht so tief verwurzelt ist, wie wir es alle wünschen.
Das besondere geschichtliche Verdienst der Männer und Frauen des Widerstandes liegt darin, dass sie nicht wie so viele die Augen vor dem offenkundigen Unrecht verschlossen haben. Sie haben sich auf die unvergänglichen Werte der menschlichen Kultur und Zivilisation zurückbesonnen. Sie haben aus tiefstem sittlichen Ernst dem Regime einer verführten Nation den Gehorsam aufgekündigt. Ihr Entschluss wiegt vor allem deshalb so schwer, weil sie es auf sich nahmen, dass ihr Handeln als Verrat am eigenen Volk missdeutet werden konnte. Denn die Nazis hatten alles getan, damit ihr Raubfeldzug durch Europa den Deutschen nicht als Angriffskrieg, sondern als ein nationaler Abwehrkampf erscheinen musste. Auf diese Weise konnte eine neue Dolchstoß-Legende entstehen, die leider auch heute noch nachwirkt. Darüber hinaus hatten nur wenige Menschen bereits 1933 eingesehen, dass Hitler Krieg bedeutet. Als der Krieg dann da war, berauschten sich nur allzu viele an den anfänglichen Siegen. Erst später verbreitete sich Missstimmung, weil sich die Lebenslage ständig verschlechterte. Aber zur grundsätzlichen Ablehnung des Krieges als eines Verbrechens an der Menschheit haben sich leider nur einige durchgerungen.
Von der unmittelbaren persönlichen Gefahr, in der sich alle Widerstandskämpfer befanden, soll hier nicht gesprochen werden. Sicher haben die ständigen Verhaftungen und die Sorge vor der Gestapo die Widerstandsarbeit erheblich erschwert. Hier soll vielmehr von jenen Schwierigkeiten gesprochen werden, die entstanden bei der Ausbreitung der Gedanken des Widerstandes und die entstanden, um möglichst viele Menschen für das gemeinsame Anliegen zu gewinnen. Diese Bemühungen waren in Kreisen des Offizierskorps besonders intensiv. Niemand anders als gerade jener Personenkreis der militärischen Führer konnte den Ernst der Lage besser erkennen. Aus diesen Reihen kam deshalb ein bedeutender Teil der Widerstandskämpfer und der Teilnehmer am Attentat gegen Hitler. Gerade von ihnen wissen wir aber, wie schwer sie es hatten, die Mehrzahl der übrigen Generale und Offiziere zu überzeugen. Zwar gab es nur wenige Nazis unter ihnen, doch verhielten sich die meisten abwartend. Sie wollten nur auf Befehl handeln. Sie fühlten sich an einen Eid gebunden, den Hitler als Eidträger selber längst gebrochen hatte. Sie fürchteten den Putsch, solange ein Goebbels der Bevölkerung noch den Sieg vorgaukeln konnte. Sie waren unsicher und mussten immer von neuem überzeugt werden. Sie wollten abwarten und drückten sich an den Entscheidungen vorbei.
In diesem Zusammenhang braucht allerdings nicht verschwiegen zu werden, dass auch das Ausland der deutschen Widerstandsbewegung ernsthafte Unterstützung verweigerte. Es gab genügend Versuche, die Regierungen anderer Nationen über die Absichten des deutschen Widerstandes zu unterrichten und außenpolitische Hilfe zu erbitten. Zu solcher Hilfe kam es aber nicht einmal vor 1939, als die Politik von München Hitler innenpolitisch sogar stärkte; es kam erst recht nicht dazu während des Krieges, den alle ausländischen Regierungen unter einem betont nationalen Vorzeichen führten. Dabei hatten sie ihren Völkern die Existenz eines innerdeutschen Widerstandes bewusst verheimlicht. Der Höhepunkt dieser Politik gegen Deutschland war die Forderung von Casablanca nach bedingungsloser Kapitulation. Heute ist unbestritten, dass diese Erklärung Hitler sehr gelegen kam. Wie sollte denn die deutsche Bevölkerung, die von pausenlosen Bombenangriffen zermürbt war, angesichts dieser Forderung der Alliierten Verständnis haben für das Bestreben der Männer des 20. Juli, Hitler zu beseitigen und seinen aussichtslosen Krieg zu beenden?! Das Ausland kann sich nicht damit entschuldigen, dass die Oppositionellen in Deutschland noch Illusionen hatten über die möglichen Grenzen eines Nachkriegsdeutschland. Vielmehr muss zu den zahlreichen Schwierigkeiten, mit denen die Vertreter des deutschen Widerstandes zu kämpfen hatten, auch die betont reservierte Haltung des Auslandes zählen.
Trotzdem lässt sich gerade am Beispiel der Casablanca-Erklärung zeigen, worin das Besondere und schmerzlich Konsequente in den Gedankengängen der deutschen Widerstandskämpfer bestand. Diese Männer hatten nämlich schon 1939 erkannt, dass Deutschland den Krieg gegen die Übermacht der gesamten Welt niemals gewinnen konnte. Sie hatten erkannt, dass der Krieg schon am ersten Tag verloren war. All ihr Trachten war daher auf die Beendigung dieses Krieges gerichtet, damit nicht noch mehr Soldaten fallen und Zivilisten umkommen mussten. Es zeugt von der höchsten Achtung vor dem menschlichen Leben, wenn deutsche Oppositionelle lieber bereit waren, mit einer Kapitulation schwerste politische Opfer für die eigene Nation auf sich zu nehmen, als das Völkerschlachten fortdauern zu lassen. Sie lebten in der Erkenntnis, dass ein Unrechtstaat, der täglich Tausende, ja Zehntausende von Morden begeht, zum Widerstand verpflichtet und haben dadurch die Ausgangsbasis für die Reinigung des deutschen Namens in der Welt geschaffen. Sie haben verhindert, dass heute von einer Kollektivschuld des deutschen Volkes gesprochen werden kann.
An dieser Haltung erkennt man die Gesinnung wahrhafter Widerstandskämpfer, die das Odium des Landesverrats nicht scheuten, weil sie sich höheren Werten verpflichtet fühlten. Wer am tiefsten lotete, wer das ganze Ausmaß der nationalsozialistischen Diktatur begriffen hatte, war überzeugt, dass man unter dem gegebenen Regime einen deutschen Sieg nicht einmal wünschen durfte. Man musste das geringere Übel wählen. Die Deutschen hatten erkannt, dass sie aktiv für die Änderung der Machtverhältnisse in Deutschland tätig werden müssten, um die Aufrichtung des SS-Staates über ganz Europa zu verhindern. Wir dürfen stolz darauf sein, dass sich solche Männer auch und gerade in den Reihen der Wehrmacht fanden, weil der Wehrmacht wegen der Existenz der SA und SS eine Schlüsselposition bei jedem Umsturzversuch zukommen musste.
Umso höher muss unsere Achtung, insbesondere die Achtung der jungen Generation, vor den wenigen Gerechten sein, die sich bemühten, mit allen Mitteln Widerstand zu leisten, soweit es in ihrer Kraft stand. Widerstand zu leisten, nicht im stillen Kämmerlein, sondern durch die Tat. Sie haben sich nicht bloß über Einzelfälle empört. Das taten viele. Das wäre kein Widerstand gewesen. Sie haben sich nicht damit begnügt, anders zu denken und dennoch zu schweigen. Auch das taten viele. Sie haben sich niemals nur „heraushalten“ wollen. Sie haben auch niemals geglaubt, durch „vernünftiges Zureden“ bei den Nazis immer noch Gutes erwirken zu können. Sie gehörten auch nicht zu jenen, die sich bloß einer bequemen Selbsttäuschung hingaben, wenn sie meinten, durch ihr Verbleiben im Amt „Schlimmeres verhüten“ zu können. Ohne die Mitarbeit und Sachkunde von Beamten, Betriebsführern und anderem geschulten Personal wäre es wahrscheinlich schon sehr viel früher zu einem Niederbruch in Verwaltung und Wirtschaft des nationalsozialistischen Systems gekommen.
Die wahren Widerstandskämpfer haben ihre Opposition durch die Tat unter Beweis gestellt, jeder auf seine Weise. Sie haben das Bewusstsein des deutschen Volkes wachzurütteln versucht, von der Kanzel herab, vom Katheder oder in Flugblättern. Sie haben Rüstungsbetriebe sabotiert, Juden gerettet und abgeschossene Flieger versteckt. Sie haben als Emigranten und Vertriebene das Ausland vor Hitler gewarnt. Sie haben im Untergrund mit den Alliierten Funkkontakt aufgenommen und Arbeiter in illegalen Gruppen organisiert. Sie haben vor 21 Jahren versucht, Hitler die Staatsführung zu entreißen.
Wir, die Jugend Berlins, ja auch die Jugend Deutschlands, für die ich hier stellvertretend spreche, ehren die Männer und Frauen des 20. Juli heute für alle anderen. Wir ehren heute Ludwig Beck, Dietrich Bonhoeffer, Carl-Friedrich Goerdeler, Theodor Haubach, Jakob Kaiser, Wilhelm Leuschner und Julius Leber, Hans Oster und Claus Schenk Graf von Stauffenberg und wir bekennen uns zu Arvid Harnack und Harro SchuIze-Boysen, Carl von Ossietzky und Hans und Sophie Scholl. Wir gedenken der Hunderttausende namenloser Deutscher, die für ihr Bekenntnis zur Freiheit des Gewissens, für ihr Bekenntnis zur Menschenwürde ihr Leben lassen mussten. Sie kamen aus den verschiedensten politischen Lagern. Sie unterschieden sich nach Religion und Weltanschauung. Sie gehörten verschiedenen Altersgruppen an und hatten alle denkbaren Berufe. Aber alle waren sich einig im Kampf gegen die Terrorherrschaft der nationalsozialistischen Unmenschlichkeit.
Heute, 21 Jahre nach dem Aufstand des Gewissens gegen die nationalsozialistische Barbarei, rufen wir die Jugend Deutschlands auf, das Vermächtnis des deutschen Widerstandes in ehrendem Angedenken zu halten. Wir wissen, dass auch heute ein großer Teil des deutschen Volkes Widerstand gegen ein neues Unrechtsregime zu leisten hat. Deshalb fordern wir die in Deutschland Verantwortung tragenden Männer und Frauen auf, mehr als bisher bei ihren Entscheidungen die Gedanken der deutschen Widerstandskämpfer zu berücksichtigen und damit das uns hinterlassene Vermächtnis zu erfüllen. Für unsere politische Entscheidung, für unser politisches Handeln sind uns die Widerstandskämpfer gegen die Hitlerdiktatur zu Vorbildern geworden. Sie haben sich um das deutsche Volk verdient gemacht.