Ihr Beispiel kann uns Grund zur Hoffnung geben

Halvard M. Lange

Ihr Beispiel kann uns Grund zur Hoffnung geben

Gedenkrede des norwegischen Außenministers Halvard M. Lange am 19. Juli 1965 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Mit sonderbaren Gefühlen stehe ich hier in Plötzensee. Ich frage mich: Sind es wirklich bald 21 Jahre her, seitdem die Männer des 20. Juli hier ihrem tragischen Schicksal entgegengingen? Aber gleichzeitig frage ich mich auch: Sind nur 21 Jahre seitdem vergangen?

Die Welt sieht heute ganz anders aus. Das tägliche Leben, die Probleme, die politischen Konstellationen sind verschieden. Wenn man mitten in der Entwicklung steht, kann es alles selbstverständlich erscheinen. Gerade deshalb ist es vielleicht nützlich, von Zeit zu Zeit sich früherer Ereignisse zu erinnern, um die nötigen Perspektiven nicht zu verlieren.

Am 20. Juli 1944 befand ich mich als politischer Häftling im Konzentrationslager Sachsenhausen. Das Leben hinter dem Stacheldraht war trostlos. Ich spreche nicht nur vom körperlichen Leiden und Kummer, sondern vielmehr von der geistigen Belastung. Viele von uns, die wir aus den Reihen der Widerstandsbewegung aller besetzten Länder kamen, waren in der humanistischen Tradition aufgewachsen; wir glaubten an Freiheit und Gerechtigkeit, an den Fortschritt des Guten. War das alles falsch? Um uns sahen wir Unmenschlichkeit, Brutalität und Elend. Von außen hörten wir von Krieg und Tod. Man konnte leicht in Zweifel und Missmut verfallen.

In unserer Jugend hatten wir von der Kultur des Landes der Dichter und Denker, von den schönen Künsten, den humanistischen Denkern Deutschlands starke Impulse bekommen. Wir wussten, dass es hinter der Fassade des Naziregimes ein anderes Deutschland gab. Aber wir wussten auch und hatten täglich vor Augen, dass die demokratischen Kräfte seit Jahren mit allen Mitteln eines modernen Diktaturstaates verfolgt wurden. Die Niederlage Deutschlands zeichnete sich im Jahre 1944 schon am Horizont ab. Man musste sich fragen, ob das „andere Deutschland“ nach all dem, was es durchgemacht hatte, noch die Kraft und Energie besäße, eine deutsche Demokratie auf den Ruinen des Nazistaates wiederaufzubauen.

Dann kam am 20. Juli die Nachricht von dem Umsturzversuch gegen Hitler. Unter den SS-Leuten löste sie empörte Erbitterung aus. Im Lager war „dicke Luft“. Unsere Stimmung aber wurde, trotz dem Misslingen des Attentates, schlagartig optimistisch. Hier wurde der Beweis dafür geliefert, dass die deutsche Opposition noch Tatkraft besaß. Dieser Eindruck blieb, auch wenn der Umsturzversuch sich in eine Tragödie umwandelte und eine große Zahl neuer Häftlinge ins Lager eingeliefert wurde. Es ist jetzt leicht zu sehen, dass die Erfolgsmöglichkeiten des Unternehmens nicht gut waren.

Die führenden Männer des 20. Juli waren sich auch dessen bewusst. Aber, wie einer von ihnen, General Tresckow, es ausdrückte: „Es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, dass die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte unter Einsatz des Lebens den entscheidenden Wurf gewagt hat.“ Dies ist ja auch die geschichtliche Bedeutung des 20. Juli 1944 gewesen. Das Attentat und der Staatsstreich misslangen. Der schon verlorene Krieg ging weiter, die Gewaltherrschaft wurde noch strenger, der Blutdurst der Nazis stieg. Noch wurden Millionen von Menschen getötet, fruchtbare Landschaften verwüstet, reiche und schöne Städte in Schutt und Asche gelegt. Die Männer des 20. Juli gingen einem grausamen Schicksal entgegen. Sie wurden gehetzt, angepöbelt, gefoltert und gehenkt. Aber inmitten der Verfolgung traten sie mit einer edlen Würde auf, die ihre charakterliche Überlegenheit über ihre Henker klar erwies.

Es ist zwecklos, darüber zu spekulieren, was geschehen wäre, wenn der Umsturzversuch gelungen wäre. Eines möchte ich jedoch sagen: dass Deutschland und die demokratische Welt nach dem Kriege Männer wie jene hätten gut brauchen können. Der Umsturzversuch wird zuweilen „Offiziersputsch“ genannt. Das ist insoweit richtig, als es Offiziere waren, die die direkte Aktion unternahmen, was ja natürlich war. Denn eine Gewaltherrschaft lädt zur Gewalt ein. Aber die Widerstandsbewegung umfasste Leute aus den verschiedensten Kreisen. Sie handelten als Einzelpersonen und als kleine Gruppen. Ein demokratisches Organisationsleben gab es ja nicht. Aber auch als Einzelpersonen traten sie stellvertretend für Teile des deutschen Volkes auf. Es waren diese Kräfte, die sich nachher für den Wiederaufbau der deutschen Demokratie einsetzten.

Ich werde keinen Namen der Männer des 20. Juli nennen. Ich möchte jedoch ein paar andere erwähnen, die dann schon hingerichtet waren. Das sind die Geschwister Scholl – junge Leute, die in der Nazizeit aufgewachsen waren, aber trotzdem sich die freiheitlichen Ideen zu eigen gemacht hatten und dafür ihr Leben einsetzten.

Nach dem Kriege gab es zuerst keine deutsche Regierung mehr. Deutschland wurde in Besatzungszonen eingeteilt und von den Siegermächten verwaltet. Voraussichtlich sollte diese Verwaltung ziemlich lange dauern. Es ging jedoch anders. Die außenpolitische Entwicklung trug stark zur Abschaffung des Besatzungsregimes in Westdeutschland bei. Allein entscheidend war sie aber gar nicht. Schon in den ersten Jahren nach dem Kriege hatten sich die demokratischen Kräfte in Deutschland lebensfähig erwiesen, um ihnen seitens der westlichen Demokratien Vertrauen zu schenken.

Das Beispiel Berlins war besonders eindrucksvoll. Als die Sowjets im Jahre 1948 ihre Blockade über Berlin verhängten, reagiertet Ihr Berliner mit Mut und Entschlossenheit. Eure Haltung damals und in folgenden Krisenzeiten hat Bewunderung in der ganzen Welt geweckt.

Auch steht Ihr Berliner nicht allein. Die Westmächte und die NATO-Alliierten haben sich verpflichtet, für die Freiheit und die Lebensmöglichkeit West-Berlins einzutreten. Unter den Alliierten ist auch Norwegen. Wir fühlen uns mit Eurem Freiheitskampf hier in Berlin eng verbunden. Die Bundesrepublik Deutschland hat ihren Platz unter den westlichen Demokratien gefunden. Die NATO-Allianz macht heute den Schutz der freiheitlichen Lebensweise der westlichen Welt aus. Die Solidarität der Allianz hat ruhigere Verhältnisse in Europa geschaffen.

Aber normal sind die Verhältnisse in Europa nicht, solange Deutschland wider den Willen des deutschen Volkes geteilt ist und Familien und Freunde durch Gewalt voneinander getrennt sind. Eine Entspannung dürfte auch die Möglichkeiten für eine deutsche Wiedervereinigung bessern. Der Weg zu einer wahren Entspannung mag lang und schwer sein. Er bleibt jedoch unsere einzige Alternative.

Das Beispiel der Männer des 20. Juli kann uns vielleicht Grund zur Hoffnung geben. Große Teile der Menschheit leben noch heute unter autoritärer Herrschaft. Aber unter diesen Hunderten von Millionen wird es Frauen und Männer geben, die für demokratische Lebenswerte und Lebensformen eintreten. Wir müssen hoffen, dass sie nicht zu Attentaten greifen müssen, sondern dass sie ihre ganze Kraft für einen Aufbau der Demokratie im positiven Sinne werden einsetzen können.

Diesen freiheitlichen Kräften können wir nur dadurch Hilfe leisten, dass wir Entspannungsbestrebungen auf internationaler Ebene unterstützen und dadurch eine Entwicklung in liberaler Richtung hin in den autoritären Staaten fördern. Dadurch könnte eine günstige Atmosphäre für das Heranwachsen demokratischer Lebensformen geschaffen werden.

Möge das Beispiel der Männer des 20. Juli und die Tradition der europäischen Widerstandsbewegung inspirieren bei der Aufgabe, für Freiheit und Frieden in der Welt zu streben.






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