Die Lehren der Vergangenheit deutlich machen

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Horst Ehmke

Die Lehren der Vergangenheit deutlich machen

Gedenkrede des Bundesministers für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes Prof. Dr. Horst Ehmke am 20. Juli 1972 in der Bonner Beethovenhalle

Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Freunde!

Zunächst darf ich Ihnen die herzlichsten Wünsche des Herrn Bundeskanzlers übermitteln, der mich gebeten hat, der Fédération Internationale Libre des Déportés et Internés de la Résistance zu ihrem 20-jährigen Bestehen zu gratulieren. Der Herr Bundeskanzler bedauert, nicht selbst an dieser Feierstunde teilnehmen zu können, deren Veranstaltern er sich eng verbunden fühlt. Er hat Ihnen vor zwei Jahren bei einem Empfang im Bundeskanzleramt gesagt, wie hoch er Ihren Anteil an der Rehabilitierung des deutschen Namens in der Welt nach dem letzten Krieg und Ihre Fürsorge für die politisch Verfolgten - zu denen er selbst gehörte - einschätzt.

Wenn wir uns heute hier versammelt haben, so sicher nicht, um einen Sieg zu feiern oder in Erinnerung an den Tod mutiger Männer unseres Volkes zu verharren. Zu einer Siegesfeier besteht kein Anlass, denn die Ereignisse am 20. Juli 1944 führten zu einer bitteren Niederlage der Männer, die sich - zu spät - gegen die Diktatur erhoben und die - allein gelassen - unter den Salven eilig zusammengestellter Erschießungskommandos oder am Galgen starben.

Die Bundesregierung ist Ihnen - den deutschen Widerstandskämpfern und ihren ausländischen Freunden, die heute zu dieser Feierstunde eingeladen haben -, zu großem Dank verpflichtet, weil sie über viele Jahre hinweg das Vermächtnis des 20. Juli gepflegt und weitergegeben haben. Wir wissen, wie bedeutend Ihr Beitrag zur Wiedereingliederung unseres Volkes in der Gemeinschaft der Völker war und ist.

Unsere ausländischen Freunde wären heute sicher nicht unter uns, wenn nicht der 20. Juli 1944 ihnen gezeigt hätte, dass in diesem Volke auch unter Hitler das Gewissen weiterschlug. Die ersten, die nach dem totalen Zusammenbruch und der Verachtung unseres Volkes uns die Hände reichten, waren Deportierte aus den Internierungslagern des Dritten Reiches. Ihre Teilnahme an dieser Veranstaltung zeigt, wie sehr ihre Arbeit zu unserer Nachkriegsgeschichte gehört. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie mir als einem Mitglied der Bundesregierung Gelegenheit geben, heute zu Ihnen zu sprechen. Ich habe Ihre Einladung gern angenommen, weil mir dieser Tag bedeutsam ist nicht nur als ein Stück unserer Geschichte, sondern wichtig für unsere Gegenwart und für unser aller Zukunft.

Wenn der Wunsch, die Menschheit möge aus der Geschichte lernen, berechtigt ist, so ist der 20. Juli in besonderer Weise geeignet, aus der Vergangenheit Lehren zu ziehen. Wir leben zwar in einer nüchternen - dem Streben nach immer mehr privatem Wohlstand verhafteten - Zeit und ungeduldig fragen viele unserer Mitbürger: „Muss immer wieder über diese Ereignisse geredet werden?“ Ich meine aber, wir müssen darüber reden, vor allem mit den jungen Menschen, die - über das Interesse nach dem historischen Ablauf hinaus - Fragen stellen nach den geistigen Grundlagen und der inneren Bedeutung dieses Widerstandes.

Die Feststellung, dass der Widerstand zu spät kam, um dem Unheil wehren zu können, tut der ethischen Größe des 20. Juli keinen Abbruch. Aber sie zeigt, wie wichtig es ist, bei der Bedrohung von Freiheit und Menschenwürde den Anfängen zu wehren. Wir sollten uns immer wieder fragen, warum es möglich wurde, dass sich in unserem Lande eine solche - den Menschen und sein Gewissen bedrängende - Diktatur entwickeln konnte, die Macht über fast alle Bürger gewann. Wir sollten nie vergessen, dass die Zersplitterung unseres Volkes in Grundfragen der Nation, die mangelnde Identifizierung der Bürger mit der demokratischen Staatsordnung der Weimarer Republik und die Nachsicht dieser Republik gegenüber ihren Feinden im Innern sehr wesentlich dazu beigetragen haben, dass die Nationalsozialisten so relativ leicht an die Macht gelangten.

Unsere Jugend und - angesichts der 28 Jahre, die seit dem 20. Juli 1944 vergangen sind - ein großer Teil der Menschen, die heute Verantwortung tragen, haben den 20. Juli 1944 nicht bewusst selbst erlebt. Es ist daher immer wieder notwendig, die Lehren der Vergangenheit deutlich zu machen.

Lassen Sie mich dazu zum Schluss unseren gemeinsamen Freund Fritz Erler zitieren, der heute vor sechs Jahren an dieser Stelle sagte:

„Vor allem schließlich brauchen wir die Tugend demokratischer Wachsamkeit. Institutionen allein vermögen die Freiheit nicht zu schützen, wenn nicht freie Bürger entschlossen ihre eigene Freiheit und ihre freiheitliche Ordnung zu schützen bereit sind.“

Unser Staat - das ist kein Fremdkörper; das sind wir selbst. Die Weimarer Republik ging auch an der Gleichgültigkeit der Mehrheit ihrer Bürger zugrunde. Sie sahen zu, wie Minderheiten wackerer Demokraten und entschlossener Feinde der Demokratie miteinander rangen. Heute sind die extremen Gegner der Demokratie auf geringe Bruchteile unseres Volkes zusammengeschrumpft. Wir sollten die Sammlung der versprengten Gruppen weder übersehen noch überbewerten. Aber als Lehre daraus sollten wir erkennen, dass die Grundfragen unserer staatlichen Ordnung, unserer nationalen Zukunft und unserer in die Gegenwart hinein wirkenden Vergangenheit immer wieder freimütig mit den jungen Bürgern unseres Landes erörtert werden müssen. Dabei ist nicht nur Wissen zu vermitteln. Das kann leicht langweilen. Dabei ist nicht nur Legenden vorzubeugen, so nötig das auch ist. Dabei geht es vor allem um das persönliche Engagement des Einzelnen für die Werte, die auf dem Spiele stehen. Erst dann ist der Einzelne ein souveräner Bürger, der selbst die Geschicke von Staat und Gemeinschaft bestimmt.

Dies Engagement kann nicht gelehrt, sondern nur vorgelebt werden. Für dieses Vorleben brauchen wir die Eltern und Erzieher, die Verantwortlichen in all den vielfältigen Organisationen einer freien Gesellschaft. Vor allem aber muss es sichtbar sein bei der politischen Führung selbst - am 20. Juli, aber auch sonst in der Kärrnerarbeit eines jeden Tages.






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