Die Suche nach dem Gültigen

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Franz Ludwig Schenk Graf von Stauffenberg

Die Suche nach dem Gültigen

Gedenkrede von Franz Ludwig Schenk Graf von Stauffenberg am 20. Juli 1972 in der Bonner Beethovenhalle

Meine sehr verehrten Damen, meine Herren!

Es ist mir schwer, heute und hier das Wort zu ergreifen. Und ich gestehe, dass ich lange zögerte, als man mich gebeten hat, in Ihrem Kreis zu sprechen. Es gibt viele, die kraft ihrer Weisheit, ihrer Erfahrung und ihres Handelns berufener wären als ich, der ich im Jahre 1944 ganze sechs Jahre alt war, in dieser Feierstunde den Widerstand gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft zu würdigen.

Ich kann und werde niemals das Recht einer Testamentsvollstreckung oder der Nachlassverwaltung über das geistige Gut dieses Widerstandes in Anspruch nehmen. Ebenso wenig kann ich alle die Frauen und Männer vertreten, die deshalb heute nicht sprechen können, weil sie wegen der Entscheidung ihres Gewissens und wegen der Entschlossenheit ihres Herzens nicht mehr unter uns sind.

Lassen Sie mich aber auch in aller Offenheit ein Zweites ansprechen. In diesen Feierstunden, wie sie heute hier und an manch anderen Orten stattfinden - und in all den vergangenen Jahren stattgefunden haben -, sollen die Erinnerung an den Widerstand wachgehalten und seine Bedeutung für die Nachwelt dokumentiert werden. Aber wenn wir zurückblicken und Bilanz ziehen, so scheint mir, dass der 20. Juli 1944, die geschichtlichen Ereignisse in sich und aus sich selbst überzeugender, verständlicher und erklärender waren als all die Veranstaltungen, die seiner Erinnerung und Erklärung dienen sollten.

Und schließlich bitte ich Sie um Verständnis, dass dieser Tag für mich nicht nur ein leuchtendes Datum in der Geschichte des Volkes ist, dem ich angehöre: ein Lichtblick, der es uns ein wenig leichter macht, mit unserer Vergangenheit und mit uns selbst fertig zu werden. Heute jährt sich zum 28. Male der Tag, an dem mein Vater starb, der damals mir nicht viel anderes hinterließ als seinen Namen und seinen Tod, und damit viel mehr, als sonst ein Vater seinen Kindern hinterlassen kann, und auch sicherlich mehr, als einmal ich meinen Kindern werde übergeben können. Diese Erkenntnis birgt Gefahren in sich. Sie reichen von der Versuchung, Gralshüter sein zu wollen bis hin zum Drang, der eigenen Herkunft zu entfliehen.

Der 20. Juli ist für mich auch ein persönliches Erbe, das nicht teilbar und kaum mitteilbar ist. Es ist mit Worten wie Größe und Stolz, Verpflichtung und Auftrag, Vorrecht und Vorbild nicht zu erfassen.

Die Frauen und Männer des Widerstandes werden - besonders der Jugend - immer wieder als Vorbilder gewiesen. Und in der Tat: Es gibt kaum Vorbildhafteres als ihre Tat und ihr Gewissen. Und dennoch möchte ich warnen. Freilich weiß jeder, dass Vorbilder die persönliche Entscheidung nicht ersetzen. Sie bieten keine Gebrauchsanweisung für das Leben, der man blind folgen könnte. Der Widerstand hat gegen die Wirklichkeiten der Jahre 1933 bis 1945 kämpfen müssen. Wir heute aber müssen mit den Problemen unserer Zeit, die sich anders darstellen und auch anders sind, fertig werden. Sind wir den Persönlichkeiten des Widerstandes nicht gerade dafür dankbar, dass sie die Augen vor der Wirklichkeit ihrer Zeit nicht verschlossen haben, dass sie Unrecht als Unrecht, Verbrechen als Verbrechen erkannt haben? Dass sie sich nicht selbst belogen und der Stimme ihres Gewissens gefolgt haben?

So scheint es weniger die Tat selbst zu sein, sondern die Bereitschaft, dem Gewissen zu gehorchen, die uns heute für unser eigenes Handeln als vorbildhaft gelten kann. Doch auch damit sind wir kaum einen Schritt vorangekommen.

Was ist denn das Gewissen? In der neueren Psychologie ist es als „das Mitwissen der Götter“ bezeichnet worden. Es sei gewissermaßen die Kraft übergeordneter Normen. Wir leben aber heute nicht nur in einer pluralistischen Gesellschaft, sondern auch in einer Gegenwart pluralistischer Ordnungs- und Wertvorstellungen. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir eingestehen, dass wir eben diese Pluralität hinter blassen Allgemeinplätzen farblos gewordener Wertbegriffe verstecken, unter denen Jedermann nach Belieben das Seine versteht. Ich wende mich hier nicht gegen die Vielfalt der Standorte. Aber ich wende mich gegen die Lüge, die die fehlende Übereinstimmung leugnet.

Wo die Wertvorstellungen so mannigfaltig sind und sich vielfach widersprechen, da ist Wahres von Trughaftem schwer zu unterscheiden. Ja, gerade der junge Mensch, der noch auf der Suche nach seinen Werten und dem ihm Gültigen ist, wird schnell an der Wirklichkeit des Wahren, an der Realität jenes „Göttlichen“ zweifeln. Manch einer von ihnen folgt willig den fragwürdigen Propheten und messianischen Heilslehrern, die da eine vollendete Weltordnung und ein Leben ohne schmerzvolle Ungewissheiten versprechen.

Wir alle müssen nach dem Gültigen suchen - fortwährend - ohne Ende. Und wo das Gültige in seiner schillernden Vielfalt willkürlich und damit unverbindlich, ungültig geworden scheint, kann uns doch die Suche nach den Werten unseres Handelns verbinden. Diese Suche selbst, und nicht nur ihre unterschiedlichen Ergebnisse, so meine ich, sollten wir dem Gewissen öffnen, zum Gegenstand des Gewissens erheben. Anderenfalls könnte es sein, dass wir bald wieder einmal Konkurs anzumelden haben.

Gerade an diesem Tage reden wir alle zu leicht über die Bösen, die Schlechten, die Verbrecher und Unholde. Aber laufen wir nicht Gefahr, jene geschichtlichen Symbolfiguren als Alibi für uns selbst zu benutzen? So als ob wir, weil es andere waren, die wir erkannt und erlitten haben, deren positives Gegenteil verkörperten? ...






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