Die Menschenrechte sind das große Thema

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Gerhard Stoltenberg

Die Menschenrechte sind das große Thema

Gedenkrede des schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Dr. Gerhard Stoltenberg am 20. Juli 1977 in der Stadthalle Bonn-Bad Godesberg

Ich bedanke mich herzlich bei den Veranstaltern, den Verbänden des demokratischen Widerstandes, für die ehrenvolle Einladung, heute am 20. Juli zu Ihnen zu sprechen.

Am 33. Jahrestag des 20. Juli 1944 gedenken wir in Respekt und Verehrung der Frauen und Männer, die ihr Leben wagten und opferten, um die nationalsozialistische Gewaltherrschaft zu beenden und unser Vaterland in letzter Stunde vor einer Katastrophe zu bewahren.

In zwanzigjähriger wissenschaftlicher Arbeit hat die Geschichtsforschung fast alle Entwicklungslinien der Widerstandsbewegung, die zum 20. Juli 1944 führten, in minuziöser Detailarbeit dargestellt. Ungeachtet mancher Differenzierungen in der Einzelbewertung von Sachverhalten und Personen kann man heute von einem gesicherten Erkenntnisstand über die wesentlichen Vorgänge um die handelnden Menschen ausgehen.

Natürlich gibt es in diesem vielfältigen Bild der verschiedenen Beteiligten und Gruppen auch offenkundige Irrtümer, Fehleinschätzungen und Spannungen. Aber bei allem Zeitbedingten und manchen menschlichen Schwächen in extremen Gefährdungen und Konflikten erscheinen uns gerade im Rückblick, im Bild der kritischen Historie, die führenden Persönlichkeiten des Widerstandes in ihrem Wagemut, ihrer sittlichen Kraft und in ihrer Vaterlandsliebe als ein großes zeitloses Vorbild.

Die Bilanz der Geschichtsschreibung hat im Grunde bestätigt, was Winston Churchill schon 1946 im britischen Unterhaus sagte: „In Deutschland lebte eine Opposition, die durch ihre Opfer und eine entnervende internationale Politik immer schwächer wurde, aber zu dem Edelsten und Größten gehört, was in der politischen Geschichte aller Völker je hervorgebracht wurde. Diese Männer kämpften ohne eine Hilfe von innen oder außen - einzig getrieben von der Unruhe ihres Gewissens. So lange sie lebten, waren sie für uns unsichtbar und unerkennbar, weil sie sich tarnen mußten. Aber an den Toten ist der Widerstand sichtbar geworden. Diese Toten vermögen nicht alles zu rechtfertigen, was in Deutschland geschah. Aber ihre Taten und Opfer sind das Fundament eines neuen Aufbaus. Wir hoffen auf die Zeit, in der das heroische Kapitel der innerdeutschen Geschichte seine gerechte Würdigung finden wird.“

So hat es seinen guten Grund, wenn wir uns fast ein Dritteljahrhundert später in Dankbarkeit der Frauen und Männer des Widerstandes erinnern. Freilich stellt sich für uns an diesem Tag auch die Frage, was von dem 20. Juli 1944 im Bewusstsein unseres Volkes lebendig blieb und worin seine zukunftweisende Bedeutung heute liegen kann.

Man kann nicht sagen, dass der 20. Juli und die Widerstandsbewegung zu dem gesicherten und jederzeit vollpräsenten geschichtlichen Erbe aller Bürger unseres Landes gehören. Die gerade jetzt erschienene Untersuchung eines Wissenschaftlers zeigt im Einzelnen, wie lückenhaft die Aufnahme dieses großen Themas in unseren Lehrplänen und Schulbüchern ist. Dies erscheint mir symptomatisch für die allgemeine Bewusstseinlage zu sein.

Nun gehört es zu dem manchmal schmerzlichen Erleben jeder Generation der Menschheitsgeschichte, dass die lebendige Vermittlung eigener zentraler Erfahrungen an die Kinder und Enkel ein schwieriger, nur begrenzt möglicher Prozess ist. Viele, die aktiv im Widerstand gegen die Diktatur kämpften, die ihre eigene Existenz aufs Spiel setzten, sehen mit Sorge, wie dieses dramatische Geschehen und sein bleibender Ertrag zu verblassen und teilweise in Vergessenheit zu geraten drohen.

Wir Deutsche haben es durch die Irrwege und Brüche unserer jüngsten Geschichte ohnehin schwerer als manche anderen Nationen mit einer kontinuierlicheren und glücklicheren politischen Entwicklung.

Die großen Tage unserer neuesten Historie, der 20. Juli 1944 und der 17. Juni 1953, waren vordergründig durch Misserfolg und Tragik bestimmt. Sie konnten den aktuellen Gang der Entwicklung in Unfreiheit oder Verhängnis nicht verändern.

Dennoch gibt es eine tief reichende Wirkung des 20. Juli 1944. Auf die Ideale einer sittlich gegründeten freiheitlichen Staatsverfassung, die seine Männer bei allen Unterschieden in den politischen Ansichten bestimmte, beriefen sich die Verfassungsväter unserer Bundesrepublik Deutschland unmittelbar. Viele der Mitglieder des Parlamentarischen Rates wie auch der Gründer unserer demokratischen Parteien kamen aus der Widerstandsbewegung oder standen in engen Beziehungen zu ihren führenden Persönlichkeiten.

Widerstand gegen die Diktatur vollzog sich in verschiedensten Formen. Zu den tapferen Frauen und Männern, die in Gruppen oder Kreisen aktiv handelten, kamen viele andere, Schriftsteller wie Reinhold Schneider, Wissenschaftler wie Walter Eucken, Theologen wie Otto Dibelius, die für sich selbst die bitteren Erfahrungen mit der zerstörerischen Kraft des Totalitarismus verarbeiteten und so in der Lage waren, nach 1945 einen entscheidenden Beitrag für den demokratischen Neubeginn zu leisten.

In der Widerstandsbewegung fanden sich Menschen zusammen, die vor 1933 in entgegengesetzten parteipolitischen, ideologischen und sozialen Lagern standen und sich teilweise hart bekämpft hatten.

Zu ihrem bleibenden Ertrag für die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gehörte es, dass die Gemeinsamkeit der Demokraten trotz aller Konflikte des Tages stärker war als jemals vor der Zeit des Nationalsozialismus. Die Konsensus in Grundfragen unseres staatlichen und gesellschaftlichen Lebens war eine der entscheidenden Voraussetzungen dafür, dass Bonn nicht Weimar wurde, für die großen Erfolge der ersten Jahrzehnte in der Entwicklung unseres jungen Staates.

Zu den gefährlichsten Veränderungen im geistigen und politischen Klima des letzten Jahrzehnts gehört es freilich, dass dieser Grundkonsens empfindlich geschwächt wurde und heute von radikalen politischen Gruppen unter dem Vorzeichen militanter Ideologien sogar prinzipiell verneint wird.

Derartige aktuelle Vorgänge zeigen am deutlichsten, was der Verlust geschichtlicher Erfahrungen für unsere Zukunft bewirken könnte. Der 20. Juli 1944 wurde - wie ich sagte - nicht ein lebendiges, jederzeit gegenwärtiges Erbe für alle Bürger unseres Landes, dennoch ist er nicht vergessen oder in seinen Wirkungen belanglos geworden.

Es gibt im Leben eines Volkes wie auch im persönlichen Dasein Erfahrungen, die in tieferen Schichten weiter wirken. Dass es tapfere Menschen gab, die sich in der Zeit der Diktatur für Freiheit und Menschenrechte einsetzten, gehört zu diesem Wissen, auch bei der Mehrheit der jungen Generation, der die Einzelheiten kaum vertraut sind.

Dass es extreme Situationen geben kann, in denen vordergründige Einzelinteressen, Partei- und Gruppenbindungen zurücktreten gegenüber dem Aufruf des Gewissens, für moralische Grundsätze und das Gemeinwohl zu wirken und das Äußerste zu wagen.

Freilich kann dieses historische Beispiel nur dann prägend werden, wenn wir uns nachhaltiger um geschichtliches Bewusstsein bemühen. Es war in den zurückliegenden Jahren eine weit verbreitete und gefährliche Mode, Geschichte in unseren Bildungseinrichtungen immer kleiner zu schreiben und an ihre Stelle Soziologie als Sozialkunde zu setzen. Weil sich Traditionen vordergründig manchmal in fragwürdig gewordenen Konventionen äußerte, wollten manche auf die Überlieferung überhaupt verzichten. Dies wird nun zunehmend als ein Irrweg erkannt und kritisiert. Es gibt erfreulicherweise bei jungen und alten Menschen eine erstaunlich starke Hinwendung zur Geschichte. Ein Blick auf die Buchveröffentlichungen und Bucherfolge der letzten Jahre macht dies ebenso deutlich wie der Massenandrang zu großen historischen Ausstellungen.

Wir müssen in der Tat in unseren Lehrplänen und Schulbüchern der Geschichte wieder ihren vollen Rang geben. Weil ohne Überlieferung, ohne die prägende Kraft der Historie und der Kultur der Mensch orientierungslos und manipulierbar würde. Die Aneignung der Geschichte, in Zustimmung oder auch Verwerfung des Überkommenen, ist ein Prozess, den jede Generation für sich erneut vollziehen muss. Vieles wird bedeutungslos werden; aber vieles bleibt unverzichtbar in der schöpferischen Verarbeitung und Neuprägung.

Zu diesem Unverzichtbaren gehören für uns der 20. Juli 1944 und die demokratische Widerstandsbewegung in Deutschland. Wir können die tragenden Ideen und damit die Wertordnung unserer Verfassung nicht ohne dieses Beispiel verstehen und immer wieder erneut in gestaltender Politik verwirklichen.

Frieden, Patriotismus und Menschenrechte sind über Generationen hinweg die drei zentralen Begriffe für das Handeln jener Frauen und Männer gewesen.

Frieden - sie hatten, Soldaten und Zivilisten, die zerstörerischen Kräfte eines entfesselten Nationalismus erlebt, der Europa in Brand steckte und das eigene Volk in seiner Existenz bedrohte. Deshalb war über die Tagesinteressen des von der Niederlage gezeichneten eigenen Staates hinaus ein dauerhafter Ausgleich mit den Nachbarn Deutschland eines ihrer wichtigsten Ziele und es gehörte zu ihrer bitteren Erfahrung, dass in der bis aufs Äußerste angespannten Atmosphäre des Zweiten Weltkriegs dieser Wunsch von führenden Politikern der Allianz gegen Hitler nicht geglaubt wurde.

Patriotismus - Die Liebe zum Vaterland, der brennende Wunsch, seinen Weg in eine Katastrophe abzuwenden, erfüllte sie alle, Adlige und Bürger, Soldaten und Arbeiter, Konservative, Liberale und Sozialdemokraten, Christen und Nichtchristen. Sie waren von der Überzeugung durchdrungen, dass der Einzelne alles ihm Mögliche tun müsste, um unserem Volk die Chance eines Neubeginns in Frieden und Freiheit zu eröffnen.

Menschenrechte - Vielen von ihnen wurde der Wert verfassungsmäßig gesicherter Menschenrechte erst voll bewusst, als sie nach 1933 verloren gingen. Der glanzlose und unbefriedigende Alltag der Weimarer Republik hatte zahlreiche intelligente junge Menschen in die totalitären Bewegungen des Nationalsozialismus und Kommunismus geführt. Erst die brutale Wirklichkeit des allmächtigen Staates führte bei manchen von ihnen zu einer grundlegenden Neuorientierung.

Begreifen die meisten Menschen den Wert der Freiheit, der im Alltag so oft zu Missbrauch und übersteigerten Konflikten führt, erst voll, wenn sie verloren ist? Auch manches im heutigen Erscheinungsbild unseres Landes legt diese alte Frage wieder nahe. Dabei fehlt es uns jetzt in unserer Nachbarschaft nicht an unmittelbarer Anschauung, was Diktatur und Unterdrückung an extremer Belastung für die Menschen bedeutet.

Die Menschenrechte sind das große Thema dieses Jahrhunderts. Es ist hier nicht der Ort, um auf die aktuellen und komplizierten Auseinandersetzungen einzugehen, In welcher Weise sie die Außenpolitik der westlichen Staaten im Einzelnen bestimmen können. Ich halte auch nichts von einem konstruierten Gegensatz zwischen einer Politik der Menschenrechte und dem Bemühen um menschliche Erleichterungen. Wir alle wissen, unter welchen staatlichen Bedingungen sich deutsche Politik vollziehen kann und wie eng der Spielraum ist.

Aber ich bin davon überzeugt, dass die Menschenrechte eine verpflichtende Norm für das Selbstverständnis unseres freiheitlich-demokratischen Staates in allen seinen Handlungen ist, und so sehr Realpolitik gerade in den internationalen Beziehungen notwendig ist, wir können auf ein Programm der Menschenrechte in der geistigen Auseinandersetzung mit dem Anspruch totalitärer Ideologien überhaupt nicht verzichten. Die Chance zur allmählichen friedlichen Veränderung in den Diktaturen der Gegenwart beruht in dem nicht austilgbaren Streben von immer mehr Menschen, ihre persönlichen Freiheitsrechte schrittweise zu erweitern und die Chance zur Selbstbestimmung zu gewinnen.

Jeder Rückblick auf den 20. Juli 1944 führt wieder zu den handelnden und leidenden Menschen. Manche von ihnen haben erst in den jahrelangen unsagbaren Belastungen zwischen Hoffnung und Enttäuschung, Aktion und Verfolgung, in dem Übermaß an Mühsal und Bedrängnis ihre eigentliche Größe gewonnen. Man kann es in den Briefen und Aufzeichnungen und in den Biografien im Einzelnen verfolgen. Einigen war unmittelbar vor dem 20. Juli die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns schon bewusst, und sie handelten dennoch. Es kommt jetzt nicht mehr auf Erfolg oder Misserfolg an, sagte Henning von Tresckow in einer Stunde der schwersten Bedrängnis, sondern darauf, dass wir vor Gott und der Welt den entscheidenden Wurf gewagt haben.

Vielleicht beruht die Zurückhaltung mancher gegenüber diesem Tag auf der Scheu, sich selbst mit dem hier gegebenen Beispiel zu konfrontieren. Wir sollten jedoch auch nach Jahrzehnten dieses Vorbild annehmen.






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