Ein Licht aus altem Graun
Emmi Bonhoeffer
Ein Licht aus altem Graun
Gedenkrede von Emmi Bonhoeffer am 20. Juli 1981 im Ehrenhof der Gedenk- und Bildungsstätte Stauffenbergstrasse, Berlin
Wenn man hier zum ersten Mal die Frau eines Beteiligten bittet, etwas zu den Geschehnissen vor 37 Jahren zu sagen, so wird man vielleicht etwas zum Thema „Die Frau in der Widerstandsbewegung“ oder Ähnliches erwarten. – Dazu werde ich fast nichts sagen.
Was ich beitragen kann, sind ein paar persönliche Erinnerungen, die Episoden jener Zeit beleuchten und vielleicht lebendig machen, was sich in meinem Erlebnisbereich als Frau spiegelt. Nicht in erster Linie die Ereignisse selbst, sondern die menschlichen Reaktionen darauf sind es, die mich bewegen.
Hitler fiel ja nicht als Meteor vom Himmel, sondern erblühte in einem Sumpf von alldeutschen Ressentiments, von schwelendem Antisemitismus, von Bitterkeit über Versailles, was im Auslaufen war, aber propagandistisch aufgefüllt wurde, und von Arbeitslosigkeit, – einem Sumpf, den die republikanischen Regierungen auszutrocknen sich heiß mühten, und nicht ohne Erfolg mühten: Den freiwilligen Arbeitsdienst gab es z.B. schon vor Hitler! Aber Hitler riss an dem Geduldsfaden, und er zerriss ihn. – Sein demagogischer Erfolg beruhte auf geschicktem Verwirrspiel von berechtigter Empörung und unverantwortlichen Konsequenzen.
Als nach der Machtergreifung das Deutsche Reich aufhörte, ein Rechtsstaat zu sein, hörte ich als junge Frau, verheiratet mit Klaus Bonhoeffer, ein Gespräch mit dem Historiker Peter Passow mit an. Mein Mann vertrat die Ansicht, dass Hitlers größtes Verbrechen die Verwüstung der Rechtsbegriffe sei. Menschenrechte zu beugen, Willkür, firmiert als Staatsräson – an Stelle von Justiz zu setzen, hieß für ihn, das Fundament von Kultur aufreißen. Passow stimmte ihm zu.
Die Verzweiflung Klaus Bonhoeffers darüber, dass weder die Universität noch die Industrie noch die Kirchen noch der Großgrundbesitz noch das Militär diese Katastrophe erkannten, sondern sich in den Sog der Zauberformel von der „nationalen Revolution“ ziehen ließen, zehrte an ihm und an seinen Freunden.
Da das Militär die einzige Potenz war, die nach dem Versagen aller anderen Gruppen noch etwas tun konnte, weil es den Zugang zu Hitler und die Waffen hatte, richtete sich alle Hoffnung auf das Militär.
Aber weder 1934 nach der Ermordung Schleichers, seiner Frau und seiner Freunde noch im Februar 1938 nach der „Fritsch-Krise“ noch im November 1938, als in ganz Deutschland die Synagogen brannten, noch als die Züge mit Tausenden und Tausenden von Juden in die Vernichtungslager rollten, geschah etwas.
Ich glaube, dass die Erziehung der Söhne in den Familien, in denen der Widerstand aufkam, die Erziehung, schon auf dem Schulhof den Schwachen vor dem Brutalen zu schützen, – es ihnen unmöglich machte, staatlich sanktioniertes Verbrechen mit anzusehen und sich aufs Abwarten zu verlegen. Nichts galt damals für schändlicher, als sich „unritterlich“ verhalten zu haben; so nannte man das.
Natürlich gab es Tausende von Deutschen, die gar keine Möglichkeit sahen oder hatten, sich am Widerstand zu beteiligen, ja die gepresst wurden, in die Partei einzutreten, und die kein Deut geringere Charaktere waren als die Männer und Frauen, an die wir heute denken, die sich zusammenfanden.
„Zusammenfinden“ ist eigentlich schon falsch. Es klingt zu einfach. Es war gar nicht einfach, sich unter der steten Beobachtung und Bedrohung von Geheimer Staatspolizei überhaupt zu finden! Das kann sich die junge Generation, die keine Diktatur erlebt hat, gar nicht vorstellen. Das Wort „Widerstandsbewegung“ habe ich zum ersten Mal nach dem Kriege 1947 in der Schweiz gehört. Das ist kein Zufall. Zu einer Bewegung gehört, dass man sich bewegen kann, so wie sich heute die Umweltschützer bewegen können, aufklären, aufrufen, Freunde suchen und finden können.
Die Widerstandsleute wollten Menschen schützen, wollten eine unverantwortliche Politik stoppen, – aber „bewegen“ konnten sie sich sehr wenig.
Wir Frauen konnten uns noch eher bewegen. Aber wenn wir etwas in Bewegung bringen wollten, war es schon falsch. Ich erinnere mich an eine Szene vor dem Gemüseladen. Es muss 1942 gewesen sein. Wir standen in langer Schlange. Ich sagte zu meinem Nachbar: „Jetzt fangen sie schon an, in den Konzentrationslagern die Juden massenweise zu vergasen und zu verbrennen.“ Die Verkäuferin rief mir zu: „Frau Bonhoeffer, wenn sie nicht aufhören, solche Gräuelmärchen zu verbreiten, werden Sie auch noch im KZ enden, und dann kann ihnen niemand helfen, denn wir haben es alle gehört.“ „Es ist die Wahrheit, und Sie sollen es wissen“, sagte ich und glaubte, ein gutes Werk getan zu haben.
„Begreife bitte“, belehrte mich mein Mann, als ich mein vermeintliches Heldenstück zu Haus erzählte, „eine Diktatur ist eine Schlange. Wenn Du sie auf den Schwanz trittst, – so wie Du das machst, – beißt sie Dich ins Bein. Du musst den Kopf treffen. Und das kannst Du nicht, und das kann ich nicht. Das kann nur das Militär. Darum ist das Einzige, was zu tun Sinn hat, die Militärs zu überzeugen, dass sie handeln müssen.“
Der zivile Sektor des Widerstandes sah also seine Aufgabe darin, die obersten Generäle so zu informieren mit Fakten, die ihnen offiziell verborgen wurden, dass sie zum Staatsstreich motiviert würden.
Manche der Generale erkannten, dass bereits mit Hitlers Machtübernahme der politische Zusammenbruch passiert war, und dass die Selbstbefreiung kommen muss, weil sie besser, richtiger und würdiger ist als durch siegende Feinde von außen.
Aber es gab eben auch die andere Sicht der Dinge. Es standen Argumente gegen Argumente:
Auf der einen Seite: Diese Sache muss an sich selbst zugrunde gehen, – wie immer das aussehen mag, – die Dynamik der Entwicklung ist zu stark, der Hitler-Mythos, der sich um den „Erfolgreichen“ gebildet hat, verhindert, dass ein Staatsstreich verstanden würde.
Und auf der anderen Seite, der Seite des Widerstandes: Man kann nicht warten, bis die Massen begreifen, was gespielt wird, – von Tag zu Tag häufen sich die Verbrechen gegen Nachbarländer, gegen Juden und politische Gegner, Menschen hüben und drüben sterben unter Trümmern, der Hass der Welt gegen uns wächst täglich, die Walze, die die moralische und politische Katastrophe 1933 ins Rollen gebracht hat, kann nur noch aufgehalten werden, wenn sofort der Staatsstreich passiert.
„Sofort“, das war vor Österreich, das war vor dem Einmarsch in die CSR, vor Polen, vor und nach Frankreich und immer dringender und dringender.
Der Widerstand gegen Hitler war immer beides: Moralischer Protest und politisches Kalkül. Einzelversuche, Hitler umzubringen, gab es bekanntlich mehrere, aber die Generale zögerten mit dem Staatsstreich.
Daraus ergab sich die quälende Situation, in der eines Tages mein Vetter Ernst von Harnack auf das Gedicht von C. F. Meyer stieß „Das Weib des Admirals“. Es spielt um 1560 in der Zeit der grausamen Hugenottenverfolgung in Frankreich und schildert ein nächtliches Gespräch zwischen dem Ritter Chatillon und seiner Frau. Sie drängt ihn, einzugreifen, er zögert, weil er die Gefahren für sich, seine Frau und seine Kinder sieht. Er schildert sie anschaulich und schließt:
„Erwäge, Weib, die Schrecken, die du wählst!
Dies Haus in Rauch und Trümmern! Dies mein Haupt
Verfemt, dem Meuchelmord gezeiht – geraubt!
Entehrt dies Wappen von des Henkers Hand!
Du mit den Knaben bettelnd auf der Flucht!
Wählst du dir solches? Nimm drei Tage Frist!“
– „Drei Tage Frist? Sie sind vorbei. Brich auf!“
Dies Gedicht wollte Harnack den Frauen der Generäle zuschicken.
Aber solche drängenden Frauen brauchten die Männer des Widerstandes nicht. Sie brauchten Frauen, die schweigen konnten, Frauen, die die Last der Entscheidung mittrugen, sofern sie nicht von Informationen über Pläne und Beratungen verschont blieben. Solche Verschonungen waren wohl der häufigere Fall, sei es als Schonung für die Frau oder als Schonung für den Mann selbst für den Fall von Verhaftung und Verhör.
Aber es gab sehr wohl auch das ständige Mittragen der Last der Entscheidungen. Ich erinnere mich z.B. an folgendes Bild:
Es muss 1940 gewesen sein. Eine Fahrt im Auto von Berlin nach Bayern zum Kloster Ettal. Hans von Dohnanyi am Steuer, seine Frau neben ihm. Ich im Fond mit meinem dreijährigen Jüngsten. Dohnanyis waren auf dem Weg nach Rom. Sie sprachen miteinander. Ich verstand nur Brocken, aber doch soviel, dass es um schwerwiegende Entscheidungen ging. An einer Ampel in München sagte ich halblaut vor mich hin: „Es ging auf allen Wegen mit Dein Herzschlag, dein Gewissen...“. Dohnanyi drehte sich spontan um: „Wo steht das?“ Es war das Motto der Adolf von Harnack-Biographie, die seine Tochter Agnes von Zahn veröffentlicht hatte.
Ich selbst war weder heroisch noch sehr genau informiert. Ich hatte nur manchmal nachts ums Haus zu gehen, um zu schauen, ob unser Hauseingang beobachtet würde, wenn drinnen die Besprechungen waren. Oder ich hatte getarnte Telefongespräche zu führen vom öffentlichen Apparat aus, um jemanden zu solchen Gesprächen zu bitten, der den Code kannte...
Aus diesem Abstand heraus hatte ich viele Bedenken, die ich auch äußerte, z.B.: „Seht Ihr die Dinge nicht zu einseitig? Und wenn es schief geht, was angesichts des lebensvollen Hitler-Mythos und der zögernden Generäle wahrscheinlich ist, – ist es nicht wichtiger, Euer Leben für Eure Kinder zu erhalten? Und für das „Nachher“?“
Solche Rücksichten und Überlegungen blieben stark. Aber bei den Männern des Widerstandes kam früher oder später der Moment, wo die, die wussten und handeln konnten, handeln m u s s t e n aus innerer Notwendigkeit.
Ich erinnere mich, meinen Schwager Dietrich Bonhoeffer einmal gefragt zu haben: „Wie ist das eigentlich mit Euch Christen: Selber töten wollt ihr nicht, aber wenn es ein anderer tut, seid ihr einverstanden?“ – Wie ihn dies Problem umgetrieben hat, geht aus seinen Briefen und Tagebüchern hervor und seine Antwort durch sein Handeln ist bekannt.
Aber schon vor dem 20. Juli 1944 hatten ja seit 1933 bereits Tausende ihr Leben im Kampf gegen den Nationalsozialismus hingegeben: Arbeiter wie Intellektuelle, Künstler wie Offiziere, Kommunisten, Sozialisten, Christen, Gewerkschafter. Namen, die keiner nennt, ja die zum großen Teil keiner kennt.
Die Franzosen haben ihr Grabmal des unbekannten Soldaten. Lassen Sie mich hier des unbekannten Widerstandskämpfers gedenken.
Nach dem missglückten fünften Versuch des Attentats am 20. Juli 1944 kam ich für einige Tage von Holstein, wo die Kinder inzwischen waren, nach Berlin. Ich sehe uns auf den Steinen zwischen den Trümmern eines Hauses, wo wir Freunden halfen, einiges aus dem verschütteten Keller zu retten. Ich fragte meinen Bruder Justus Delbrück: „Kannst Du darin nun irgendeinen Sinn sehen, dass das schief gehen musste?“ Er sah lange vor sich in den Schutt zu seinen Füßen. Dann sagte er leise: „Ich glaube, es war gut, dass es gemacht wurde, ...und vielleicht auch gut, dass es missglückte.“
Ich habe mich gefragt: „Wieso gut, dass es missglückte?“
Ich kannte ihn gut genug, um zu ahnen, dass er nicht nur an die Schwierigkeiten dachte, die es gegeben hätte, eine neue arbeitsfähige Regierung zu bilden aus so heterogenen Kräften wie denen des Widerstandes, obendrein schwer belastet durch das Klima einer neuen Dolchstoßlegende, – sondern auch der Gedanke, Deutschland wäre zu billig davongekommen nach all dem furchtbaren Unrecht, das die Nationalsozialisten auf uns geladen hatten, schwang mit. Der Gedanke, das, wofür der Name Auschwitz steht, kann, – wenn überhaupt je – nur durch das Blut derer gesühnt werden, die das nicht gewollt haben, war ihm nicht fremd. Sühne und Versöhnung gehören zusammen. Sie sind die Vorbedingung für ein neues Leben.
Gottfried Keller schließt sein Gedicht „Die öffentlichen Verleumder“, das damals von Hand zu Hand ging, mit den Zeilen:
„Wenn einstmals diese Not, lang, wie ein Eis, gebrochen,
dann wird davon gesprochen wie von dem schwarzen Tod.
Und einen Strohmann baun die Kinder auf der Heide
zu brennen Lust aus Leide und Licht aus altem Graun.“
Licht aus altem Graun. – Ich glaube, drei Lichter zu sehen:
1. Der Sinn für Rechtsstaatlichkeit wurde geweckt mit einer Alarmglocke, die auch die Verschlafensten weckte und bis heute wach hält.
2. Die Wende von europäischer Machtpolitik auf den Weg zu europäischer Partnerschaft wurde vollzogen.
3. Von Seiten der christlichen Kirchen wird ein neues Verhältnis zu den Juden angestrebt.
Wenn man in Golda Meirs Memoiren liest, wie das zitternde Kind sich unter Treppenstufen versteckt, wenn in Kiew die Pogromhorden mit geschwungenen Messern und Stöcken und dem Geschrei „Christusmörder“! durch die Straßen tobten, so bestätigt sich einem die These von der christlichen Wurzel der Judenverfolgungen. Die Zwangstaufen und Verbrennungen von Juden, die Jesus nicht als den Messias anerkennen wollten und konnten – nach ihrer Lehre –, haben zu erbitterter Feindschaft von beiden Seiten geführt.
Aus dieser tödlichen Sackgasse führten nach 1945 ein großer Christ und ein großer Jude heraus in eine hellere Zukunft: Papst Johannes XXIII. konnte beten:
„Wir bekennen, daß das Kainszeichen an unserer Stirne steht... Vergib, daß wir Dich ein zweites Mal gekreuzigt haben in ihrem Fleisch, ... denn wir wußten nicht, was wir taten.“
Und Leo Baeck konnte beten:
„Friede sei den Menschen, die bösen Willens sind...“
Hier wurde ein Neuanfang möglich.
Die Rheinische Kirche setzte ihn mit ihrem Synodalbeschluss vom Januar 1980 „Über die Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden.“
Auch dies: Ein Licht aus altem Graun.
Ein Licht aus altem Graun
Gedenkrede von Emmi Bonhoeffer am 20. Juli 1981 im Ehrenhof der Gedenk- und Bildungsstätte Stauffenbergstrasse, Berlin
Wenn man hier zum ersten Mal die Frau eines Beteiligten bittet, etwas zu den Geschehnissen vor 37 Jahren zu sagen, so wird man vielleicht etwas zum Thema „Die Frau in der Widerstandsbewegung“ oder Ähnliches erwarten. – Dazu werde ich fast nichts sagen.
Was ich beitragen kann, sind ein paar persönliche Erinnerungen, die Episoden jener Zeit beleuchten und vielleicht lebendig machen, was sich in meinem Erlebnisbereich als Frau spiegelt. Nicht in erster Linie die Ereignisse selbst, sondern die menschlichen Reaktionen darauf sind es, die mich bewegen.
Hitler fiel ja nicht als Meteor vom Himmel, sondern erblühte in einem Sumpf von alldeutschen Ressentiments, von schwelendem Antisemitismus, von Bitterkeit über Versailles, was im Auslaufen war, aber propagandistisch aufgefüllt wurde, und von Arbeitslosigkeit, – einem Sumpf, den die republikanischen Regierungen auszutrocknen sich heiß mühten, und nicht ohne Erfolg mühten: Den freiwilligen Arbeitsdienst gab es z.B. schon vor Hitler! Aber Hitler riss an dem Geduldsfaden, und er zerriss ihn. – Sein demagogischer Erfolg beruhte auf geschicktem Verwirrspiel von berechtigter Empörung und unverantwortlichen Konsequenzen.
Als nach der Machtergreifung das Deutsche Reich aufhörte, ein Rechtsstaat zu sein, hörte ich als junge Frau, verheiratet mit Klaus Bonhoeffer, ein Gespräch mit dem Historiker Peter Passow mit an. Mein Mann vertrat die Ansicht, dass Hitlers größtes Verbrechen die Verwüstung der Rechtsbegriffe sei. Menschenrechte zu beugen, Willkür, firmiert als Staatsräson – an Stelle von Justiz zu setzen, hieß für ihn, das Fundament von Kultur aufreißen. Passow stimmte ihm zu.
Die Verzweiflung Klaus Bonhoeffers darüber, dass weder die Universität noch die Industrie noch die Kirchen noch der Großgrundbesitz noch das Militär diese Katastrophe erkannten, sondern sich in den Sog der Zauberformel von der „nationalen Revolution“ ziehen ließen, zehrte an ihm und an seinen Freunden.
Da das Militär die einzige Potenz war, die nach dem Versagen aller anderen Gruppen noch etwas tun konnte, weil es den Zugang zu Hitler und die Waffen hatte, richtete sich alle Hoffnung auf das Militär.
Aber weder 1934 nach der Ermordung Schleichers, seiner Frau und seiner Freunde noch im Februar 1938 nach der „Fritsch-Krise“ noch im November 1938, als in ganz Deutschland die Synagogen brannten, noch als die Züge mit Tausenden und Tausenden von Juden in die Vernichtungslager rollten, geschah etwas.
Ich glaube, dass die Erziehung der Söhne in den Familien, in denen der Widerstand aufkam, die Erziehung, schon auf dem Schulhof den Schwachen vor dem Brutalen zu schützen, – es ihnen unmöglich machte, staatlich sanktioniertes Verbrechen mit anzusehen und sich aufs Abwarten zu verlegen. Nichts galt damals für schändlicher, als sich „unritterlich“ verhalten zu haben; so nannte man das.
Natürlich gab es Tausende von Deutschen, die gar keine Möglichkeit sahen oder hatten, sich am Widerstand zu beteiligen, ja die gepresst wurden, in die Partei einzutreten, und die kein Deut geringere Charaktere waren als die Männer und Frauen, an die wir heute denken, die sich zusammenfanden.
„Zusammenfinden“ ist eigentlich schon falsch. Es klingt zu einfach. Es war gar nicht einfach, sich unter der steten Beobachtung und Bedrohung von Geheimer Staatspolizei überhaupt zu finden! Das kann sich die junge Generation, die keine Diktatur erlebt hat, gar nicht vorstellen. Das Wort „Widerstandsbewegung“ habe ich zum ersten Mal nach dem Kriege 1947 in der Schweiz gehört. Das ist kein Zufall. Zu einer Bewegung gehört, dass man sich bewegen kann, so wie sich heute die Umweltschützer bewegen können, aufklären, aufrufen, Freunde suchen und finden können.
Die Widerstandsleute wollten Menschen schützen, wollten eine unverantwortliche Politik stoppen, – aber „bewegen“ konnten sie sich sehr wenig.
Wir Frauen konnten uns noch eher bewegen. Aber wenn wir etwas in Bewegung bringen wollten, war es schon falsch. Ich erinnere mich an eine Szene vor dem Gemüseladen. Es muss 1942 gewesen sein. Wir standen in langer Schlange. Ich sagte zu meinem Nachbar: „Jetzt fangen sie schon an, in den Konzentrationslagern die Juden massenweise zu vergasen und zu verbrennen.“ Die Verkäuferin rief mir zu: „Frau Bonhoeffer, wenn sie nicht aufhören, solche Gräuelmärchen zu verbreiten, werden Sie auch noch im KZ enden, und dann kann ihnen niemand helfen, denn wir haben es alle gehört.“ „Es ist die Wahrheit, und Sie sollen es wissen“, sagte ich und glaubte, ein gutes Werk getan zu haben.
„Begreife bitte“, belehrte mich mein Mann, als ich mein vermeintliches Heldenstück zu Haus erzählte, „eine Diktatur ist eine Schlange. Wenn Du sie auf den Schwanz trittst, – so wie Du das machst, – beißt sie Dich ins Bein. Du musst den Kopf treffen. Und das kannst Du nicht, und das kann ich nicht. Das kann nur das Militär. Darum ist das Einzige, was zu tun Sinn hat, die Militärs zu überzeugen, dass sie handeln müssen.“
Der zivile Sektor des Widerstandes sah also seine Aufgabe darin, die obersten Generäle so zu informieren mit Fakten, die ihnen offiziell verborgen wurden, dass sie zum Staatsstreich motiviert würden.
Manche der Generale erkannten, dass bereits mit Hitlers Machtübernahme der politische Zusammenbruch passiert war, und dass die Selbstbefreiung kommen muss, weil sie besser, richtiger und würdiger ist als durch siegende Feinde von außen.
Aber es gab eben auch die andere Sicht der Dinge. Es standen Argumente gegen Argumente:
Auf der einen Seite: Diese Sache muss an sich selbst zugrunde gehen, – wie immer das aussehen mag, – die Dynamik der Entwicklung ist zu stark, der Hitler-Mythos, der sich um den „Erfolgreichen“ gebildet hat, verhindert, dass ein Staatsstreich verstanden würde.
Und auf der anderen Seite, der Seite des Widerstandes: Man kann nicht warten, bis die Massen begreifen, was gespielt wird, – von Tag zu Tag häufen sich die Verbrechen gegen Nachbarländer, gegen Juden und politische Gegner, Menschen hüben und drüben sterben unter Trümmern, der Hass der Welt gegen uns wächst täglich, die Walze, die die moralische und politische Katastrophe 1933 ins Rollen gebracht hat, kann nur noch aufgehalten werden, wenn sofort der Staatsstreich passiert.
„Sofort“, das war vor Österreich, das war vor dem Einmarsch in die CSR, vor Polen, vor und nach Frankreich und immer dringender und dringender.
Der Widerstand gegen Hitler war immer beides: Moralischer Protest und politisches Kalkül. Einzelversuche, Hitler umzubringen, gab es bekanntlich mehrere, aber die Generale zögerten mit dem Staatsstreich.
Daraus ergab sich die quälende Situation, in der eines Tages mein Vetter Ernst von Harnack auf das Gedicht von C. F. Meyer stieß „Das Weib des Admirals“. Es spielt um 1560 in der Zeit der grausamen Hugenottenverfolgung in Frankreich und schildert ein nächtliches Gespräch zwischen dem Ritter Chatillon und seiner Frau. Sie drängt ihn, einzugreifen, er zögert, weil er die Gefahren für sich, seine Frau und seine Kinder sieht. Er schildert sie anschaulich und schließt:
„Erwäge, Weib, die Schrecken, die du wählst!
Dies Haus in Rauch und Trümmern! Dies mein Haupt
Verfemt, dem Meuchelmord gezeiht – geraubt!
Entehrt dies Wappen von des Henkers Hand!
Du mit den Knaben bettelnd auf der Flucht!
Wählst du dir solches? Nimm drei Tage Frist!“
– „Drei Tage Frist? Sie sind vorbei. Brich auf!“
Dies Gedicht wollte Harnack den Frauen der Generäle zuschicken.
Aber solche drängenden Frauen brauchten die Männer des Widerstandes nicht. Sie brauchten Frauen, die schweigen konnten, Frauen, die die Last der Entscheidung mittrugen, sofern sie nicht von Informationen über Pläne und Beratungen verschont blieben. Solche Verschonungen waren wohl der häufigere Fall, sei es als Schonung für die Frau oder als Schonung für den Mann selbst für den Fall von Verhaftung und Verhör.
Aber es gab sehr wohl auch das ständige Mittragen der Last der Entscheidungen. Ich erinnere mich z.B. an folgendes Bild:
Es muss 1940 gewesen sein. Eine Fahrt im Auto von Berlin nach Bayern zum Kloster Ettal. Hans von Dohnanyi am Steuer, seine Frau neben ihm. Ich im Fond mit meinem dreijährigen Jüngsten. Dohnanyis waren auf dem Weg nach Rom. Sie sprachen miteinander. Ich verstand nur Brocken, aber doch soviel, dass es um schwerwiegende Entscheidungen ging. An einer Ampel in München sagte ich halblaut vor mich hin: „Es ging auf allen Wegen mit Dein Herzschlag, dein Gewissen...“. Dohnanyi drehte sich spontan um: „Wo steht das?“ Es war das Motto der Adolf von Harnack-Biographie, die seine Tochter Agnes von Zahn veröffentlicht hatte.
Ich selbst war weder heroisch noch sehr genau informiert. Ich hatte nur manchmal nachts ums Haus zu gehen, um zu schauen, ob unser Hauseingang beobachtet würde, wenn drinnen die Besprechungen waren. Oder ich hatte getarnte Telefongespräche zu führen vom öffentlichen Apparat aus, um jemanden zu solchen Gesprächen zu bitten, der den Code kannte...
Aus diesem Abstand heraus hatte ich viele Bedenken, die ich auch äußerte, z.B.: „Seht Ihr die Dinge nicht zu einseitig? Und wenn es schief geht, was angesichts des lebensvollen Hitler-Mythos und der zögernden Generäle wahrscheinlich ist, – ist es nicht wichtiger, Euer Leben für Eure Kinder zu erhalten? Und für das „Nachher“?“
Solche Rücksichten und Überlegungen blieben stark. Aber bei den Männern des Widerstandes kam früher oder später der Moment, wo die, die wussten und handeln konnten, handeln m u s s t e n aus innerer Notwendigkeit.
Ich erinnere mich, meinen Schwager Dietrich Bonhoeffer einmal gefragt zu haben: „Wie ist das eigentlich mit Euch Christen: Selber töten wollt ihr nicht, aber wenn es ein anderer tut, seid ihr einverstanden?“ – Wie ihn dies Problem umgetrieben hat, geht aus seinen Briefen und Tagebüchern hervor und seine Antwort durch sein Handeln ist bekannt.
Aber schon vor dem 20. Juli 1944 hatten ja seit 1933 bereits Tausende ihr Leben im Kampf gegen den Nationalsozialismus hingegeben: Arbeiter wie Intellektuelle, Künstler wie Offiziere, Kommunisten, Sozialisten, Christen, Gewerkschafter. Namen, die keiner nennt, ja die zum großen Teil keiner kennt.
Die Franzosen haben ihr Grabmal des unbekannten Soldaten. Lassen Sie mich hier des unbekannten Widerstandskämpfers gedenken.
Nach dem missglückten fünften Versuch des Attentats am 20. Juli 1944 kam ich für einige Tage von Holstein, wo die Kinder inzwischen waren, nach Berlin. Ich sehe uns auf den Steinen zwischen den Trümmern eines Hauses, wo wir Freunden halfen, einiges aus dem verschütteten Keller zu retten. Ich fragte meinen Bruder Justus Delbrück: „Kannst Du darin nun irgendeinen Sinn sehen, dass das schief gehen musste?“ Er sah lange vor sich in den Schutt zu seinen Füßen. Dann sagte er leise: „Ich glaube, es war gut, dass es gemacht wurde, ...und vielleicht auch gut, dass es missglückte.“
Ich habe mich gefragt: „Wieso gut, dass es missglückte?“
Ich kannte ihn gut genug, um zu ahnen, dass er nicht nur an die Schwierigkeiten dachte, die es gegeben hätte, eine neue arbeitsfähige Regierung zu bilden aus so heterogenen Kräften wie denen des Widerstandes, obendrein schwer belastet durch das Klima einer neuen Dolchstoßlegende, – sondern auch der Gedanke, Deutschland wäre zu billig davongekommen nach all dem furchtbaren Unrecht, das die Nationalsozialisten auf uns geladen hatten, schwang mit. Der Gedanke, das, wofür der Name Auschwitz steht, kann, – wenn überhaupt je – nur durch das Blut derer gesühnt werden, die das nicht gewollt haben, war ihm nicht fremd. Sühne und Versöhnung gehören zusammen. Sie sind die Vorbedingung für ein neues Leben.
Gottfried Keller schließt sein Gedicht „Die öffentlichen Verleumder“, das damals von Hand zu Hand ging, mit den Zeilen:
„Wenn einstmals diese Not, lang, wie ein Eis, gebrochen,
dann wird davon gesprochen wie von dem schwarzen Tod.
Und einen Strohmann baun die Kinder auf der Heide
zu brennen Lust aus Leide und Licht aus altem Graun.“
Licht aus altem Graun. – Ich glaube, drei Lichter zu sehen:
1. Der Sinn für Rechtsstaatlichkeit wurde geweckt mit einer Alarmglocke, die auch die Verschlafensten weckte und bis heute wach hält.
2. Die Wende von europäischer Machtpolitik auf den Weg zu europäischer Partnerschaft wurde vollzogen.
3. Von Seiten der christlichen Kirchen wird ein neues Verhältnis zu den Juden angestrebt.
Wenn man in Golda Meirs Memoiren liest, wie das zitternde Kind sich unter Treppenstufen versteckt, wenn in Kiew die Pogromhorden mit geschwungenen Messern und Stöcken und dem Geschrei „Christusmörder“! durch die Straßen tobten, so bestätigt sich einem die These von der christlichen Wurzel der Judenverfolgungen. Die Zwangstaufen und Verbrennungen von Juden, die Jesus nicht als den Messias anerkennen wollten und konnten – nach ihrer Lehre –, haben zu erbitterter Feindschaft von beiden Seiten geführt.
Aus dieser tödlichen Sackgasse führten nach 1945 ein großer Christ und ein großer Jude heraus in eine hellere Zukunft: Papst Johannes XXIII. konnte beten:
„Wir bekennen, daß das Kainszeichen an unserer Stirne steht... Vergib, daß wir Dich ein zweites Mal gekreuzigt haben in ihrem Fleisch, ... denn wir wußten nicht, was wir taten.“
Und Leo Baeck konnte beten:
„Friede sei den Menschen, die bösen Willens sind...“
Hier wurde ein Neuanfang möglich.
Die Rheinische Kirche setzte ihn mit ihrem Synodalbeschluss vom Januar 1980 „Über die Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden.“
Auch dies: Ein Licht aus altem Graun.