„Erinnern heißt stets auch deuten!“

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Johanna Wanka

„Erinnern heißt stets auch deuten!“

Grußwort der Bundesministerin für Bildung und Forschung Prof. Dr. Johanna Wanka am 20. Juli 2013 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

ich danke Ihnen allen, dass Sie heute nach Plötzensee gekommen sind und begrüße Sie ganz herzlich!

Wenn man hier heute steht, in dieser Gedenkstätte Plötzensee, dann wird mir bewusst und wird Ihnen bewusst, dass wir uns glücklich schätzen können über ein sehr hohes Gut: Alle Deutschen sind heute freie Menschen. Wir leben in Frieden mit unseren europäischen Nachbarn. Und wir leben in einem Rechtsstaat.

Aber: diese Gedenkstätte Plötzensee bezeugt, welch langer Weg das war seit den Tagen der Herrschaft von Schrecken und Willkür. Zwischen 1933 und 1945 verloren hier fast 3.000 Menschen ihr Leben, darunter zahlreiche Angehörige des europäischen und des deutschen Widerstands. Zu den Ermordeten – ich nenne sie hier nur stellvertretend für viele andere – gehörten Adam von Trott zu Solz, Carl Friedrich Goerdeler und Peter Graf Yorck von Wartenburg.

Die Ereignisse vom 20. Juli 1944 sind ein zentrales Symbol des deutschen Widerstands gegen das nationalsozialistische Regime und gegen seinen verbrecherischen Krieg. Teile des militärischen und des zivilen Widerstands in Deutschland hatten sich vorgenommen, das Hitlerregime zu Fall zu bringen. Der Kreis um Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg wollte beweisen – und ich finde, das wird in den Worten seines Weggefährten Henning von Tresckow besonders deutlich – „die deutsche Widerstandsbewegung hat vor der Welt und vor der Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt“. Es ging ihnen darum, ein Zeichen des Anstands zu setzen.

Später sind viele ungerechte Vorwürfe gegen die Attentäter, gegen Stauffenberg und gegen seine Mitstreiter vorgebracht worden – einer dieser Vorwürfe lautete, die Offiziere hätten angesichts des negativen Kriegsverlaufs seit Stalingrad aus Opportunismus gehandelt. Die treffendste Antwort auf diese Behauptung fand Ewald Heinrich von Kleist in seiner Rede vor drei Jahren zum feierlichen Gelöbnis. Er sagte damals zu diesem Vorwurf: „Man stirbt nicht aus Opportunismus“.

Die Entscheidung zum Attentat auf Hitler war kein spontaner Entschluss. Die Entscheidung war in den Köpfen und Herzen der Frauen und Männer des 20. Juli lange und zum Teil auch quälend gereift. Es war für einige von ihnen auch eine Befassung mit der eigenen Schuld, aber vor allen Dingen war es Mut. Es war großer Mut, es war Mut zur Verantwortung.

Wir dürfen und wollen auch nicht vergessen, dass es vorher schon Versuche aus den Reihen des Militärs gegeben hatte. Der junge Offizier Axel von dem Bussche fasste diesen Entschluss, nachdem er in der Ukraine Massenerschießungen von Juden miterlebt hatte. Auch Ewald Heinrich von Kleist war von Anfang an ein Gegner. Wie Bussche wollte er sich mit Hitler in die Luft sprengen. Diese Vorhaben scheiterten, wie letztlich auch der Anschlag in der „Wolfschanze“.

Die Umsturzpläne des 20. Juli, der Versuch des Staatsstreichs, fanden ein tragisches Ende: Die meisten Verschwörer wurden ermordet. Hitler überlebte. Der Krieg sollte noch fast ein weiteres Jahr dauern, und in diesem weiteren Jahr hat er Tod über mehr Menschen gebracht als in allen vorherigen Kriegsjahren zusammen und war schließlich auch die Ursache dafür, dass Deutschland und Europa auf Jahrzehnte geteilt waren. Aber es war klar, dass es nach dem 20. Juli 1944 ein anderes Deutschland gab als jenes, das Verderben brachte – ein Deutschland, das an dem Wert der Freiheit des Einzelnen festhielt.

Für mich, und ich glaube auch für viele von Ihnen sind die bewegendsten Zeugnisse dieses anderen Deutschlands die Abschiedsbriefe, zum Beispiel die Abschiedsbriefe, die Graf von Moltke und seine Frau Freya austauschten. Der Gefängnispfarrer Harald Poelchau schmuggelte jeden dieser Briefe von ihnen unter Lebensgefahr in das Gefängnis oder aus dem Gefängnis hinaus. In diesen Briefen zeigt sich eine Hoffnung, die sich von nichts niederdrücken lässt.

In einem ihrer Briefe spricht Freya von Moltke ihrem Gatten Mut zu mit den Worten „Außer dem Leben können sie Dir ja nichts nehmen“. Und er schreibt im Januar 1945, wenige Tage vor seiner Hinrichtung: „Wir sind ganz untrennbar in Gott verbunden, wir sind bei ihm ganz sicher aufgehoben. Er wird tun, was für uns gut ist. Und auf diesem Grund sind wir unanfechtbar. Da kann uns kein Müller und kein Kaltenbrunner, kein Himmler und kein Henker treffen. Dazwischen steht die undurchdringliche Wand der Liebe Gottes, die uns vor allem beschirmt.“

Auch Moltke starb hier in Plötzensee. Auch ihm und den tapferen Frauen und Männern des „Kreisauer Kreises“ wollen wir gedenken.

Wir gedenken der Menschen, die den verbrecherischen Charakter des NS-Regimes erkannten und auf eigene Faust handelten – wie der Schreiner Georg Elser, der bereits 1939 einen Anschlag auf Hitler unternahm. Wir gedenken derer, die im Angesicht des Unrechts nicht schwiegen – wie Sophie und Hans Scholl und die Mitglieder der „Weißen Rose“.

Wir gedenken auch all der anderen Europäer, die hier in den Kriegsjahren zu Tode kamen, weil sie sich gegen die Besatzung und die Diktatur zur Wehr setzten.

Wir gedenken all jener, die wie die Verschwörer des 20. Juli ihrem Gewissen folgten und ihren Widerstand gegen die Herrschaft von Gewalt und Terror mit ihrem Leben bezahlten. Ihr Opfer soll uns auch in Zukunft Mahnung sein.

Mit Ewald Heinrich von Kleist ist vor wenigen Monaten der letzte verbliebene Widerstandskämpfer des 20. Juli von uns gegangen. Bald wird es keine lebenden Zeitzeugen des „Dritten Reiches“ mehr geben. Wie würdigen wir heute jene, die Tyrannei nicht mehr hinnahmen und die gegen Terror, Krieg und Mord sich zur Wehr setzten – selbst wenn sie dafür sterben mussten?

Wir würdigen sie, indem wir uns ihrer erinnern. Mein besonderer Dank gilt der Stiftung 20. Juli 1944, die das Vermächtnis dieses Aufstands des Gewissens und seiner Protagonisten so engagiert bewahrt. Ich danke hier stellvertretend für alle Herrn Steinau-Steinrück und Herrn Smend.

Erinnerungskultur ist nichts Festgefügtes oder Statisches. Sie verändert sich. Wie gesagt, die Zeitzeugen gehen, die zeitliche Distanz zu den Ereignissen wächst. Damit sie nicht auch in eine ferne geistige Distanz rücken, damit wir uns der Lehren von Geschichte bewusst bleiben, müssen wir über das reine Erinnern hinausgehen. Erinnern kann für die Gesellschaft nie ein formaler Akt sein. Erinnern heißt stets auch deuten! Wir müssen uns mit der Geschichte von Diktatur und Widerstand nicht nur in der Vergangenheit aktiv auseinandersetzen.

Wir gedenken heute der Helden des 20. Juli 1944, die durch ihr couragiertes Handeln in der Tat, wie von Treckow sagte, den „entscheidenden Wurf gewagt“ und selbst in ihrem Scheitern einen der großen Tage der jüngeren deutschen Geschichte geschaffen haben.

Im nächsten Jahr, 2014, jährt sich das mutige Handeln der Frauen und Männer des 20. Juli zum siebzigsten Mal. Und deshalb müssen und wollen wir uns fragen: Sollte dieses Gedenken dann nicht in der Mitte der Gesellschaft stattfinden, die heute in Freiheit leben kann? Was können wir tun, um das zu ermöglichen und eine Auseinandersetzung damit anzustoßen, was uns im siebten Jahrzehnt dieser 20. Juli und das, was damals geschah, bedeuten?

Vor drei Jahren hat der US-amerikanische Historiker Fritz Stern, geboren in Breslau, in seiner Rede im Ehrenhof der Gedenkstätte Deutscher Widerstand auf die historischen Gemeinsamkeiten der Widerstandskämpfer in Deutschland und Europa – ihren Einsatz für Anstand und für Menschenwürde nämlich – hingewiesen. Er entwarf die Idee einer Gedenkstätte des Europäischen Widerstands. Das ist eine Frage an uns alle. Der 20. Juli 1944 wäre ein wichtiger Aspekt für eine solche Gedenkstätte!







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