Freiheit in rechter Ordnung und rechte Ordnung in der Freiheit

Heinrich Albertz

Freiheit in rechter Ordnung und rechte Ordnung in der Freiheit

Ansprache des Regierenden Bürgermeisters von Berlin Dr. Heinrich Albertz am 19. Juli 1967 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Das erste, liebe Freunde, ist zu fragen, welchen Sinn diese jährliche Feier hat: Ist es nun nach 23 Jahren heute vor dieser Mauer nicht eben doch nur ein Reden in den Wind, eine Gewohnheit im Kalender des Jahres, hier auf Berlin beschränkt und ohne eine tatsächliche messbare Wirkung in das Leben unseres Volkes und unseres Staates hinein?

Da ist zuerst das Gedenken. Für viele hier in diesem Kreise, die in den Jahren 1933 bis 1945 ein Stück ihres Lebens, manche das Herz ihres Lebens, verloren haben, eine Selbstverständlichkeit. Für viele, die überlebten, ohne eigentlich zu wissen, warum, während andere starben, mehr als eine Erinnerung an die schwersten und vielleicht wichtigsten Jahre. Für die weiter draußen Stehenden eine Belehrung darüber, was damals war und heute wieder sein könnte. Für die Unbelehrbaren eine Begegnung mit der unbequemen Wahrheit, dass in Deutschland und in den Ländern, die Deutschland überfiel, das Böse nie unwidersprochen war. Für uns alle aber der nicht oft genug zu wiederholende Dank an die, die fielen, die es sich nicht leicht gemacht haben und die den schweren, bitteren Weg des Widerstandes gegen eine Diktatur zu Ende gegangen sind.

Was ist eine Diktatur? Es scheint mir gerade in diesen Wochen soviel verwirrter und verwirrender Zeugnisse wichtig, dies noch einmal deutlich zu machen. Diktatur heißt unkontrollierte und unkontrollierbare Macht. Diktatur heißt Macht um ihrer selbst willen und meistens – nicht immer, aber meistens, und sicher auch in der Diktatur in Deutschland zwischen 1933 und 1945 – die tiefste Verteufelung der Macht, die möglich ist, nämlich die Menschen oder den Menschen, der sie ausübt, an die Stelle Gottes zu setzen. Dieser böse Kern ist der eigentliche Grund für die äußeren Erscheinungsformen der Diktatur. Der Wille des Führers als Gesetz. Die Konzentration der drei Gewalten in einer Hand. Die Absetzbarkeit der Richter. Die Unfreiheit als Prinzip staatlichen Lebens. Die Feigheit der Massen als die Basis eigener Entschlüsse. Die Lüge als Inhalt öffentlicher Propaganda. Die Verketzerung ganzer Gruppen der Bevölkerung. Die Unterwerfung fremder Völker. Sie wissen, dieser Katalog ist nicht vollständig, aber er ruft noch einmal in Erinnerung zurück, was war und wogegen die aufstanden, derer wir heute gedenken.

Widerstand in einer Diktatur bedeutete also das äußerste Risiko, eine in unserem Wohlfahrtsstaat fast unvorstellbare Haltung, mit Konsequenzen, für die es außerhalb einer Diktatur kein Beispiel gibt. Darum sollten wir empfindlich und vorsichtig sein, wenn Vergleiche gezogen werden, die nicht stimmen und die anmaßend und eitel sind. Kritik in einem demokratischen Staat hat mit dem Widerstand in einer Diktatur so wenig oder so viel zu tun, wie ein Tropfen in der Wasserleitung mit den Niagarafällen. Und manche öffentlichen Äußerungen der letzten Wochen sind nur deshalb zu verstehen, weil sie von Leuten gesagt oder geschrieben worden sind, die nie in einer Diktatur gelebt haben.

Aber haben wir einen demokratischen Staat? Diese kritische Frage im Angesicht der Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu stellen, ist nicht nur unser gutes Recht, sondern unsere Pflicht. Was ist übrig geblieben von dem, wofür die, derer wir heute gedenken, in den Tod gegangen sind? Ist das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland die Basis, auf der wir mit Überzeugung als Demokraten leben können? Sind es die Verfassungen der Länder? Sind es die Ordnungen unserer Gemeinden? Sind unsere politischen Parteien, unsere Gewerkschaften, demokratische Gemeinschaften?

Zunächst einmal ja, und ich spreche dieses „Ja“ in vollem Wissen um alle Fehler und Mängel und Verklemmungen und Verkehrungen, die das tägliche Bild unserer Demokratie im freien Teil Deutschlands darstellen, aus. Diese Bundesrepublik Deutschland ist unser demokratischer Staat. Wer eine andere Staatsform will, soll es sagen. Die Volksdemokratie oder die plebiszitäre Demokratie oder die Auflösung unserer Gemeinschaft in Kommunen. Es ist sein gutes Recht, dies auszusprechen, aber jeder, der es ausspricht, darf sich nicht wundern, wenn die, die das Grundgesetz für eine mögliche Basis unseres Lebens halten, diese Basis verteidigen und das Beste daraus zu machen versuchen.

Aber auch wieder nein. Denn jeder von uns weiß, wie viel sich im Laufe der letzten 20 Jahre im Formelhaften erschöpft hat, wie viel Routine geworden ist und wie schwer es ist, die aufrichtige kritische Meinung des einzelnen Bürgers in die Meinungsbildung der Verantwortlichen einzubringen. Das eigentliche Problem einer Demokratie sind im Letzten nicht ihre Formen, sondern die Frage, ob es genügend Demokraten gibt, die in diesen Formen leben. Das war die Frage der Weimarer Republik. Das ist unsere Frage heute. Eine der Wurzeln der tiefen Unruhe in der jungen Generation unserer Tage liegt hier bloß.

Wir, die wir damals als junge Menschen im Dritten Reich verzweifelt und in den lebensgefährlichen Risiken des Konfliktes mit der absoluten Staatsgewalt lebend, an ein besseres Deutschland dachten, wir haben kaum davon zu träumen gewagt, von dem, was heute möglich ist, – ich sage es ganz bewusst – wie viel Freiheit möglich ist, aber auch wie viel Missbrauch der Freiheit.

Einer meiner Kollegen im Berliner Senat, der viele Jahre im Zuchthaus gesessen hat, hat mir in den quälenden Gesprächen der letzten Wochen, als wir, die wir hier in dieser Stadt Verantwortung tragen, manches zu entscheiden hatten, was viele draußen, die sicher klüger sind als wir, nicht verstanden, erzählt, dass er mit seinen Freunden in den Gefängnissen Hitlers sich über Monate und Jahre innerlich nicht mit denen auseinandergesetzt habe, die ihn und seine Mitgefangenen der Freiheit beraubt hatten, sondern mit denen, die vor 1933 durch Leichtsinn oder Zögern oder mangelnden Mut die Voraussetzungen dafür mitgeschaffen hatten, dass Hitler zur Macht kommen konnte.

Dieser Satz hat mich sehr bewegt. Denn er zeigt uns, dass die freiheitliche Ordnung, in der wir leben, mit all ihren Mängeln und Fehlern und dem Versagen der Verantwortlichen, von dem übrigens nur der wirklich etwas weiß, der selber Verantwortung trägt, täglich neu gefährdet werden kann. Auch in einem demokratischen Staat muss es unvertretbare Verantwortungen geben. Auch ein demokratischer Staat kennt Macht und Ausübung der Macht. Auch ein demokratischer Staat bedarf der Ordnung. Manche Diskussionen der letzten Wochen sind schon in gefährliche Nähe des Gleichgewichts zwischen Freiheit und Ordnung gekommen. Und die altmodischen Leute, die der Meinung sind, dass geltendes Recht und die bestehenden Gesetze geachtet werden müssen, sind nicht die schlechtesten Bürger des Landes. Diese Gesetze gelten für alle. Für die Träger und die Ausführenden staatlicher Gewalt. Für jeden Bürger, auch für die Studenten. Aber ich muss noch etwas hinzufügen. Die Ziele derer, die ihr Leben für die Freiheit ihres Volkes und für ein besseres Europa eingesetzt haben, sind auch deshalb verdunkelt, weil wir noch immer in der versteinerten Spaltung unseres Volkes, unseres Landes und eben dieses Europa leben.

Als ich vor fünf Jahren das letzte Mal vor dieser Mauer die Gedenkrede hielt, habe ich schon damals anzudeuten versucht, wie sehr es darauf ankommen würde, mit mehr Aufrichtigkeit und Nüchternheit den tatsächlichen Zustand der Nation zu beschreiben und daraus die Konsequenzen zu ziehen. Der tatsächliche oder scheinbare Widerspruch zwischen vielen Reden von uns allen und der Wirklichkeit in der wir leben, die manchmal peinliche Arroganz, mit der wir uns unserer Sache sicher sind, die langen Fristen, um die es sich in der Frage des Wiederzusammenfindens unseres Volkes handelt, sind die andere Wurzel, auf die wir bei der kritischen Unruhe aller Gutgesinnten, ja, ich meine, der Besten unter uns und auch der Besten unter den jüngeren Mitbürgern, stoßen. Es ist deshalb auch kein Zufall – wenn ich dies als Berliner Bürgermeister hier aussprechen darf – dass die Konflikte, die nun offenkundig geworden sind, in Berlin, wenn auch nicht nur hier, aber eben hier besonders deutlich, aufgebrochen sind.

Hier stellt sich die Frage, wie es weitergehen soll, ja, wann es denn endlich weitergehen soll, besonders hart. Hier fühlt auch der einfache Mensch, dass Stillstand Rückschritt bedeutet. Hier werden gesamtdeutsche Phrasen eher unerträglich als in anderen Teilen Deutschlands. Die freiheitliche Grundordnung, von der wir hier heute reden, wird also ihre Glaubwürdigkeit auch insoweit erweisen müssen, als sie die Basis für das Zusammenleben unseres Volkes im Ganzen bilden muss, oder sie wird auf lange Sicht scheitern. Da hilft kein Lamentieren über radikale Entwicklungen links oder rechts. Da hilft nur, dass wir mit zusammengefassten Kräften und unter voller Hineinnahme derer, die uns als junge Menschen kritisch gegenüberstehen, nach neuen Wegen für das ganze Volk im gespaltenen Deutschland und im geteilten Europa suchen.

Deshalb, meine ich, hat unsere heutige Gedenkstunde ihren tiefen Sinn. So, wie wir hier beieinander sitzen, und so, wie die, die uns über den Rundfunk zuhören, jetzt mit uns die gleichen Fragen stellen. Ich glaube, ich habe damit das Thema, das große bewegende Thema des europäischen und des deutschen Widerstandes gegen die Diktatur des Bösen im Herzen Europas angesprochen. Es war das Thema der rechten Zuordnung von Freiheit und Ordnung. Es ist unser Thema heute, in der Bundesrepublik Deutschland und im freien Teil dieser Stadt und, wie jeder, der hören und sehen kann, weiß, in den dort möglichen Formen, auch im anderen Teil Deutschlands.

So wollen wir also die geliebten Toten ehren. Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch unseren Freund Willy Brandt, das Abgeordnetenhaus und der Senat von Berlin, die Bürger dieser Stadt und viele Tausend draußen im Lande und außerhalb der Grenzen unseres Landes verneigen sich vor denen, die Freiheit in rechter Ordnung und rechte Ordnung in der Freiheit wünschten und diesen Wunsch mit ihrem Leben bezahlten.






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19.07.1967
Jürgen Grimming