Gedenken – Bedenken

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Jürgen Grimming

Gedenken – Bedenken

Ansprache des Vorstandsmitglieds des Ringes Politischer Jugend e.V. Jürgen Grimming am 19. Juli 1967 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Wir sind hier zusammengekommen, um des Widerstandes gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft zu gedenken. Wir - das sind einerseits die Älteren, die die Gewaltherrschaft Hitlers an sich selbst erfahren, im Sinne des Wortes erlebt haben, und das sind andererseits wir Jüngeren, denen Gewaltherrschaft und Widerstand Geschichte, also Vergangenheit sind.

Da wir alljährlich hier zusammenkommen, liegt wohl die Frage nach dem Warum nahe. Zelebrieren wir hier Gewohnheit, legen wir hier Bekenntnisse ab zu Werten und Tugenden, die in der „Ausnahmesituation Hitler“ von Ausnahmemenschen demonstriert wurden, zu denen wir im Drange des politischen Alltags aber weder die Kraft noch die Zeit haben, oder ist - ich zitiere: „das Vermächtnis noch wirksam, die Verpflichtung noch nicht eingelöst?“

Für uns Jüngere ist der Widerstand gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft ein geschichtlicher Tatbestand. Wir wissen, dass Geschichte interpretierbar ist: bequeme, obrigkeitskonforme Tatsachen werden verkündet, unbequeme verschwiegen oder brauchbar gemacht. Der 20. Juli 1944 ist so für viele zu einem Feigenblatt geworden. Seht her, ihr anderen, wir Deutschen waren nicht alle Nazis, auch wir hatten unseren Widerstand und wir veranstalten jedes Jahr eine Feier zum Gedenken. Können Vermächtnis und Verpflichtung des 20. Juli 1944 wirklich so statisch - so rückbeschaulich verstanden werden?

Oder liegt es nicht bei uns, was unter der Formel „20. Juli“ so leicht dahingesagt ist, ständig neu zu bedenken, immer im Jetzt, im Heute - oder lassen Sie es mich so sagen: Für uns Jüngere findet der „20. Juli“ auch 1967 statt. Es hat deshalb auch nur noch historische Bedeutung, wenn wir Jüngeren die Älteren fragen: Wie war Hitler möglich? Unsere Frage zum 20. Juli 1967 lautet: Was habt Ihr daraus gemacht?

Am 20. Juli 1944 ging es darum, Deutschland, das Graf Stauffenberg in letzter, höchster Stunde angesichts des Opfertodes „unser heiliges Deutschland“ nannte, aus den Fesseln der Unmenschlichkeit, der Rechtlosigkeit, der geistigen Barbarei und der Not des Krieges zu befreien. Es ging um das Vaterland Deutschland, um die Nation, deren Größe der Widerstand so ganz anders verstand als Hitler und die vielen, die sich im gloriosen Polenfeldzug bestätigt sahen.

Aber auch das Deutschland der Goethe und Beethoven ist doch, so dahingesagt, nur ein Klischee. Wir Jüngeren registrieren 1967 den Tatbestand Deutschland und fragen: Wo liegt unser Vaterland? Ist es das Provisorium Bundesrepublik? Oder ist es jenes Gebilde zwischen Elbe und Oder, dessen Bezeichnung landauf landab zu einer Art Mutprobe, zum Kriterium für Realitätssinn und politischen Avantgardismus geworden ist? Oder ist es ein Drittes - jenes eine Deutschland, von dem - ich sage provozierend: noch - das Grundgesetz spricht? Oder ist es gar das „Vaterland Europa“, das sich mehr und mehr zu einer Addition wirtschaftlicher Egoismen zu entwickeln scheint?

Und, wenn Vermächtnis und Verpflichtung noch bestehen, was wird dann aus den 17 Millionen Menschen, die neun Jahre nach dem 20. Juli 1944, von der Macht der Umstände in den kommunistischen Machtbereich eingegliedert, ihrerseits vergeblich versuchten, der neuen Gewaltherrschaft zu entkommen? Es mehren sich die Stimmen, die den „Tag der deutschen Einheit“ wieder zum Werktag machen wollen. Der 20. Juli hat es nie bis zum Staatsfeiertag gebracht, reut die Verantwortlichen der spontane Entschluss vom August 1953?

Wir Jüngeren wissen, dass Macht noch immer Recht bricht, dass Gewohnheit abstumpft und dass man sich arrangieren muss, wenn die Umstände anderes nicht zulassen. Aber wir sind noch jung genug, um den 20. Juli so zu begreifen, dass wir Unrecht und Gewalt und Unfreiheit auch dann beim Namen nennen, wenn wir verurteilt sind, sie hinzunehmen.

Wir wollen, dass man ehrlich sagt, was ist. Das politische Schicksal unseres Volkes ist kein Ding für Schriftkundige, die nur über die Terminologie erfahren, was in Deutschland noch sein kann. Oder wie soll man es anders nennen, wenn aus der „Wiedervereinigung“ die „Einheit“ und schließlich das „geregelte Nebeneinander“ wird? Das Deutschland der Beethoven und Goethe - man kann auch Bonn und Weimar sagen. Beide haben die Postleitzahl 53. Also eine Gemeinsamkeit? Den Unterschied macht das post-administrativ verordnete Kreuz vor der einen 53, das sich wie ein Grabkreuz gesamtdeutscher Hoffnung liest.

Wir wissen um die Bedeutung der Studenten im Widerstand gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft. Am Beispiel der Professoren Havemann und Harich ist auch uns Jüngeren die Ohnmacht des Geistes gegenüber der Gewalt offenbar geworden. Aber hüten wir uns davor, in den in jüngster Zeit aufgebrochenen Konflikt Studentenschaft - Gesellschaft historische Parallelen und Identitäten hineinzukonstruieren. Wer wie die Studenten sein geistiges Leben zunächst einmal in der Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der vorausgegangenen Generation beginnt, hat die Pflicht, in Frage zu stellen. Wir müssen endlich dazu bereit sein, uns von dem Trugbild der konfliktlosen Gesellschaft, von der Schulbuchdemokratie zu lösen. Erst wenn wir unsere Demokratie als einen ständigen Belagerungszustand verstehen, ständig von innen wie von außen bedroht und ständig zu verteidigen, werden wir wirklich stark und selbstbewusst genug sein, „Widerstand gegen die Obrigkeit“ aus Prinzip in der dem demokratischen Rechtsstaat gemäßen souveränen Weise abzuwehren. Es kann doch nicht sein, dass Studentendemonstrationen bis zur Staatskrise hinaufstilisiert werden und damit der böse Wille weniger die berechtigten Sorgen vieler einfach wegwischt.

Die Chronik des 20. Juli 1944, die Jahre danach, sind nicht die Chronik eines endgültigen Sieges. Sie sind nur das Zeugnis dessen, was man hatte vollbringen wollen und was uns auferlegt ist, noch vollbringen zu müssen - trotz innerer Zerrissenheit und bei allem Zweifel, der uns antreibt oder mutlos macht, wenn wir Ziel und Wirklichkeit miteinander vergleichen. Der demokratische Staat kennt keine durch Wohlstand und Konsum gewährleistete, immerwährende Sicherheit. Vermächtnis und Verpflichtung des 20. Juli 1944 sind auch 1967 noch gültig - für die Älteren wie für uns Jüngere.






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