Mahnung

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Fabian von Schlabrendorff

Mahnung

Ansprache von Fabian von Schlabrendorff am 20. Juli 1965 in der Bonner Beethovenhalle

Am 18. Januar 1933 hielt die Berliner Universität, wie jedes Jahr, ihre Reichsgründungsfeier ab. An diesem Tag hielt der größte der heute noch lebenden deutschen Staatsrechtslehrer Rudolf Smend die Festrede. Er sprach von der Verantwortlichkeit jedes Deutschen für den deutschen Staat. Seine Rede war eine einzige Warnung vor der heranrollenden Welle des Nationalsozialismus. Smend schloss seine Rede mit den Worten von Hölderlin: „Wo ist dein Delos, wo dein Olympia, dass wir uns alle finden am höchsten Fest?“

Dennoch geschah das Unvermeidliche. Auch das andere Wort von Hölderlin trat ein: „Du schweigst und duldest, denn sie verstehen dich nicht.“ Der Nationalsozialismus kam unaufhaltsam zur Herrschaft und mit ihm die Verabsolutierung des eigenen Volkes und darum die Verachtung aller anderen Menschen.

Der Staat dankte ab. An seine Stelle trat die Partei. Dieser Herrschaft des Nationalsozialismus entgegenzutreten war nicht nur nationale, sondern menschheitliche Pflicht. Noch leben unter uns Menschen, die durch die Bande des Blutes und der Liebe, der Freundschaft und des gleichen Wollens mit den Männern des 20. Juli verbunden waren. Es ist also nicht notwendig, sich die geschichtliche Lage von damals zu vergegenwärtigen, weil der 20. Juli 1944 unserem Volke noch zu nahe steht. Das unterscheidet ihn von vielen anderen Gedenktagen unserer Geschichte.

Gewiss, nur wenige Menschen haben am 20. Juli 1944 leidend und handelnd mitgewirkt. Viele hätten diesem Tag Gelingen gewünscht. Aber alle stehen heute unter der Auswirkung dieses Tages. Er repräsentiert die Ehrfurcht vor dem Menschen, die Menschenwürde und die Freiheit des Menschen.

Darum ist nicht der Ausgang des 20. Juli 1944 entscheidend. Bei höchsten Zielen ist es gleich, ob sie erreicht werden oder nicht. Es ist Ehre genug, sie gewollt zu haben. Sich dem schrankenlosen Macht- und Selbstbehauptungswillen des Nationalsozialismus entgegenzustellen, forderte starke Beweggründe. Diese Motive sind nicht einheitlich. Vordergründig politische, militärische und kulturelle Erwägungen werden von letzten Einsichten getragen. Der Nationalsozialismus rief das verschüttete Gewissen im deutschen Volk wach. Zwischen äußerer Pflicht und innerer Notwendigkeit senkte sich in dieser einmaligen Konfliktsituation des deutschen Volkes diejenige Schale, auf der das von ihm für wahr Gehaltene ruhte. Niemand kann sein Gewissen preisgeben, ohne vernichtet zu werden.

Wir dürfen es nicht vergessen: Der Tag, dessen wir heute gedenken, ist wirklich aus einer einmaligen Konfliktsituation herausgewachsen: Männer des Gehorsams mussten ungehorsam werden, Männer der Ordnung wider die Ordnung handeln, Männer heiligster Vaterlandsliebe mussten das Odium auf sich nehmen, wider das Vaterland zu stehen. Im Kampf gegen das persongewordene Böse traten Männer nahe zueinander, die sich sonst im Leben wohl kaum begegnet wären. Sie wurden bei aller persönlichen und sachlichen Verschiedenheit zu einer Einheit. Im Gegensatz zu allen nicht deutschen Ländern, die sich dem zynischen Geist bedenkenloser Machtmenschen beugen mussten, trugen die Mächte des Widerstandes im deutschen Volk die schwerste Last.

Liebe musste als Hass, Ehre als Schande, Treue als Treulosigkeit erscheinen. Um das Beste für die Menschen zu erreichen, musste das Schlimmste gewagt werden. Mit anderen Worten: Es musste Gewalt angewendet werden. Rudolf von Ihering hat für solchen Fall der Rechtfertigung die Worte gegeben:

„Es ist, wenn man sich nicht scheut, den Ausdruck Recht dafür zu verwenden, das Ausnahmerecht der Geschichte, wodurch das Bestehen des Rechts als Regel praktisch ermöglicht wird, das sporadische Auftauchen der Gewalt in ihrer ursprünglichen geschichtlichen Mission und Funktion als Begründerin der Ordnung und Bildnerin des Rechts.“

Ein Wille, der aus so schwerem inneren Konflikt geboren, das Leben mit all dem, was das Leben lebenswert macht, einsetzt, ist in sich gut. Ob solchem Willen ein Vollbringen geschenkt wird oder nicht, sagt nichts über den Wert dieses Willens aus. Das Ja der Geschichte kann ein Nein des Gerichtes Gottes sein. Das göttliche Nein auf Golgatha ist zugleich ein göttliches Ja. So liegt auch im 20. Juli das Ja im Nein. Wohl musste der Weg des Unheils zu Ende gegangen werden. Solange noch ein dürrer Ast des Unrechts vorhanden war, musste auch die verzehrende Flamme des weltgeschichtlichen Gerichtes brennen. Ein edles Wollen aber wird in den Flammen des Gerichtes geläutert und trägt die Verheißung neuen Lebens in sich.

Wir dürfen nicht vergessen, dass auch für das Deutschland des Nationalsozialismus die Charakterisierung gilt, die einst ein deutscher Rechtsphilosoph für die Geschichte überhaupt gegeben hat:

„Den schnödesten Missbrauch der Staatsgewalt haben die Völker ertragen, die Geißel des Attila und den Cäsarenwahnsinn der römischen Imperatoren, ja, sie haben nicht selten Despoten, vor denen sie im Staube krochen, als Helden gefeiert, sich berauschend und weidend an dem Anblick elementarischer Großartigkeit, menschlicher Machtansammlung, einer wilden, unwiderstehlichen Macht, die gleich dem Orkan in der Natur alles vor sich danieder wirft, in dem sie vergaßen und vergaben, dass sie selbst die Opfer waren.“

Von den Ereignissen des Lebens lässt sich die uns bedrängende Frage nicht trennen:

Ist es recht, die Führung eines Volkes, das in schwerem, wenn auch aussichtslosen, selbst entfesselten Kampf steht, zu bekämpfen, mit dem Ziel, diese Führung zu beseitigen und die politischen Dinge neu zu gestalten? Wer so fragt, stellt die Frage falsch.

Es muss vielmehr gefragt werden:

Sind nicht die Menschen, die im Gegensatz zur Masse des Volkes in die Aussichtslosigkeit eines Kampfes und die in die verbrecherischen außen- und innenpolitischen Wege einer Regierung Einsicht haben, vor Gott und den Menschen verpflichtet, dem Rad des Schicksals in die Speichen zu fallen?

Menschen, die so handeln, sind des bleibenden Dankes nicht nur des eigenen Volkes, sondern der ganzen Menschheit würdig. Geschichtliches Handeln ist nicht ohne Schuld möglich. Auf den guten Willen kommt es an. Es gibt aber nichts Gutes im Himmel und auf Erden denn ein guter Wille. Nicht der Zweck heiligt die Mittel. Aber ein guter, lauterer Wille heiligt die Mittel, die zur Erreichung eines Zieles ergriffen werden müssen. Auch Menschen guten Willens leben von der Vergebung.

Wie schon Rudolf von Ihering in seinem berühmten Buch „Der Zweck im Recht“ sagt, hört die Gültigkeit der für den Alltag gedachten Gesetze im Notstand auf. Das gilt sowohl für das Leben des Individuums wie für das Leben der Völker und Staaten. Die Staatsstreiche bewegen sich nicht auf dem Boden des Gesetzes. Sie zu gestatten, ist vom Standpunkt des Gesetzes ein Widerspruch in sich. Wäre dieser Standpunkt der höchste, so wäre damit das Urteil über sie besiegelt. Aber über dem Gesetz steht das Leben. Ein politischer Notstand, der sich zur Alternative zuspitzt: Das Gesetz oder das Leben, trägt die Entscheidung in sich selbst. Der Staatsstreich opfert das Gesetz und rettet das Leben und damit das Recht. Solche Staatsstreiche appellieren an das Tribunal der Geschichte. Diese Instanz aber ist bis jetzt noch stets von allen Völkern als die höchste Instanz anerkannt worden. Das Urteil, das hier gefällt wird, ist endgültig. Im Widerspruch zum Gesetz schafft es das Recht.

Auch hier hilft uns Rudolf von Ihering, wenn er sagt:

„Wenn es gilt, Schiff und Mannschaft zu retten, so darf und soll es auch die Staatsgewalt mit dem Gesetz tun, wenn dies der einzige Weg ist, um die Gesellschaft vor schweren Gefahren zu bewahren. Das sind die ‚rettenden Taten’ wie unsere Sprache sie treffend nennt.

Es ist das mit der Notlage gegebene Notrecht, das die Staatsgewalt damit zur Ausübung bringt, und das ihr ebenso wenig versagt werden darf wie der Privatperson – sie darf es nicht nur, sie muss es. Aber beides bedingt: Sie darf es, wo sie muss.“

Nicht der Erfolg war wichtig, nicht der Kriegsausgang, sondern die Tatsache, dass am 20. Juli eine geistige Aussaat geschah. Das Samenkorn muss sterben, um Frucht zu bringen. Unsere sittliche Kreditwürdigkeit ist eine solche Frucht. Es ist der Glaube der Welt an das andere Deutschland.

Wir sehen auf die Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zurück wie auf einen schrecklichen Traum, der noch blutige Wirklichkeit war. Kann aber nicht eines Tages eine neue Diktatur entstehen? Der Ungeist ist nicht weniger reich an Einfällen zur neuen Gestaltung als der Geist. Eine Diktatur des Wohlstandes ist auch eine Gewaltherrschaft. Sich unter diese Herrschaft zu beugen, heißt ebenfalls das köstliche Vorrecht des Menschen aufgeben: Die Freiheit.

Das Streben nach den immer reichlicher angebotenen Gütern des Wohlstandes lässt uns Menschen immer mehr zu Sklaven werden. Ein Sklave ist aber auch bei äußerem Reichtum arm. Sind Gedenktage nur Erinnerungstage, so sind sie wertlos. Ein Gedenktag soll den Geist wecken. Wie damals eine Anzahl von Männern sich gegen die Leib und Seele verderbende Gewaltherrschaft wendete und das Leben einsetzte, um sie zu beseitigen, so ist es heute notwendig, sich gegen den Götzen Lebensstandard und Wohlstand einzusetzen. Die Herrschaft dieses Tyrannen ist nicht minder gefährlich als die Herrschaft eines Tyrannen aus Fleisch und Blut. Denn seine Herrschaft wurde von vielen als verderblich anerkannt, wenn sie auch nur von wenigen bekämpft worden ist. Die Herrschaft des Götzen Lebensstandard wird nur von wenigen in ihrer den inneren Menschen aushöhlenden Gefährlichkeit erkannt.

Der 20. Juli sollte uns mahnen, stark zu werden an dem inwendigen Menschen. Die beiden großen Kirchen, die sich gerade unter der Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus so nahe standen, wie sie kein Konzil einander nahe bringen kann, haben in solchen Bestrebungen ihr gemeinsames Ziel. Aber sind sie nicht dadurch gelähmt, dass sie selbst an dem Wohlstandsstreben teilhaben und in äußeren Fragen ihre Kräfte verzehren, während sie ihre eigentliche Aufgabe zu vergessen drohen, die darin besteht, den Menschen auf den Sinn seines Menschseins zu führen. Schulen und Universitäten werden von Organisationsfragen geschüttelt, als ob sie um ihrer selbst willen da wären und nicht um der jungen Menschen willen, denen sie zur Menschwerdung helfen sollen. Wer wagt es noch zu sagen, dass Kunst, Theater, Musik, Malerei, Skulptur und Dichtung nur dann einen Sinn haben, wenn sie auf diesen einen Punkt zielen. Wo ist der Politiker, der es wagt, den Menschen nicht nur Brot und immer mehr Brot und immer besseres Brot anzubieten, sondern darauf verweist, dass die Menschen nicht vom Brot allein leben.

Johann Gottlieb Fichte hat einst mit Feuereifer die neuen Ideale der französischen Revolution begrüßt. Im Jahre 1793 erschien eine Schrift von ihm, die den Titel trug: „Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europas, die sie bisher unterdrückten.“

Als sich Napoleon zum Kaiser gekrönt hatte und die Errungenschaften der Revolution aufs äußerste bedroht waren, erkannte er in Napoleon die Personifikation alles Bösen. Deshalb rief er damals zu offenem Widerstand auf und sagte:

„Napoleon wäre der Wohltäter und Befreier der Menschheit geworden, wenn nur eine leise Ahnung ihrer sittlichen Bestrebung in seinen Geist gefallen wäre. Jetzt ist er eine Rute in der Hand Gottes, aber freilich nicht dazu, dass wir den entblößten Rücken hinhalten, um vor Gott ein Opfer zu bringen und zu schreien: Herr! Herr! wenn es recht blutet, sondern, damit wir die Rute zerbrechen.“ Diese Worte Fichtes erhellen den orphischen Urgrund jeder Auflehnung des Gewissens gegen seine Bedrohung bei allen denjenigen, die nicht in der fragwürdigen Geborgenheit des Konformismus, sondern nur in der eigenen Verantwortung zu leben vermögen.

Es ist der Mensch, der die Maschine führt, die Waffen trägt, die Jugend erzieht, den Handel lenkt und die großen Industrien dirigiert. Für den Menschen haben die Männer des 20. Juli gekämpft, haben sie gelitten und sind sie gestorben.

Sorgen wir dafür, dass über die Geschichte unserer Tage nicht auch das furchtbare Urteil gefällt werden kann, mit dem einst der Ostpreuße Ernst Wiechert seine Schilderung über die Zeit des Nationalsozialismus geschlossen hat:

„Den Toten zum Gedächtnis, den Lebenden zur Schande, den Kommenden zu Mahnung!“







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